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Erwartungsanpassung

„Meine Güte, warum kannst du denn nicht einmal ruhig am Tisch sitzen bleiben!“, „Du darfst nicht so dicht an die Straße rennen, wie oft soll ich das noch sagen?!“, „Du isst jetzt bitte auf, was auf deinem Teller liegt!“ Wie oft haben Eltern diese oder ähnliche Erwartungen an ihre Kleinkinder und werden darin enttäuscht? Oft nicht nur einmal, sondern immer wieder. Und immer wieder taucht der Streit auf, warum das Kind denn nun nicht macht, was man doch schon x Mal besprochen hat, was man vom Kind erwartet. – Anstatt zu überlegen: Wenn das hier immer schief läuft, dann ist vielleicht nicht das Kind „das Problem“, sondern meine Erwartung?

Wir erwarten oft zu viel

Was können Kinder in welchem Alter überhaupt umsetzen? Diese Frage ist für viele Eltern gar nicht so einfach zu beantworten. Auch, da Referenzwerte fehlen: Im Alltag sind wir wenig mit Kindern unterschiedlicher Altersgruppen zusammen und an unser eigenes Können und Tun in der frühen Kindheit können wir uns oft nur gering oder verzerrt erinnern. Wir gehen daher oft von Erwartungen aus, von denen wir annehmen, dass sie für ein Kind einfach zu erfüllen wären: Schließlich kann das Kind doch auf unsere Worte hören, wenn es sie versteht? Wenn es weiß, was „Stopp“ heißt, dann kann es doch an der Straße auch stoppen? Und es ist doch auch nicht zu viel verlangt, einfach am Tisch mal eine halbe Stunde ruhig zu bleiben und zu entspannen? das klingt doch alles ganz logisch und nachvollziehbar und irgendwie auch einfach.

Aber das ist es nicht. Kleinkinder denken anders als wir. In vielen Situationen übernimmt das emotionale Gehirn die Führung. Und auch ihr Einfühlungsvermögen ist noch anders als bei uns. Zudem haben sie vielleicht noch nicht passende Arten gelernt, um mit ihrem Temperament gesellschaftskonform umzugehen (bspw. wie man Wut in einer sozialen Gruppe ausdrücken kann ohne andere körperlich zu verletzen). Und unsere Erwartungshaltung schränkt in vielen Punkten ihre Neugier ein, die aber ein Motor der Entwicklung ist. Vielleicht erwarten wir auch gerade dann etwas, wenn das Kind sich schon sehr viel am Tag angepasst hat und gegen Nachmittag/Abend nicht mehr bereit oder fähig ist, noch weitere Anpassungen zu leisten. Kurz: Wir können uns oft nicht in das kindliche Denken und Fühlen hineinversetzen und setzen eher erwachsene Verhaltens- und Denkweisen voraus.

Der große Krach

Der große Streit entsteht oft dann, wenn das Kind den elterlichen Erwartungen (natürlicherweise) nicht entspricht und es entweder harsch abgehalten wird vom Tun oder nach dem aus Elternsicht falschen Verhalten noch angeschimpft/bestraft wird. So ergeben sich Konfliktfelder, die immer wieder auftreten und sich oft über die Zeit zuspitzen durch ein „Ich hab doch schon tausendmal gesagt, dass du…“

Statt Erwartungen: Nachdenken & Verantwortung übernehmen

Ein Kleinkind ist keine erwachsene Person. Es kann und muss noch nicht verantwortungsbewusst handeln. Es kann noch nicht alles überblicken, abwägen und immer richtige Entscheidungen treffen. Es kann vielleicht nicht über einen längeren Zeitraum ruhig am Tisch sitzen, kann nicht die Verantwortung dafür übernehmen, im Straßenverkehr richtig zu handeln und Risiken richtig einzuschätzen und es kann oft nicht die Mengen abschätzen, die es essen kann. Ein Kleinkind ist ein Kleinkind.

Wenn wir merken, dass wir immer wieder in Streitsituationen kommen, lohnt sich ein Blick auf diese Situation und eine der ersten Fragen kann immer sein: Sind meine Erwartungen an das kindliche Verhalten vielleicht zu hoch? Und zwar nicht nur in Bezug auf das Alter, sondern in Bezug auf dieses individuelle Kind mit seinem persönlichen Temperament und Entwicklungsprofil. Wenn wir feststellen, dass dies so ist, müssen wir die Verantwortung übernehmen. Das bedeutet, dass wir nicht erwarten, dass das Kind still sitzt, nicht auf die Straße rennt und sich die passende Menge auftut, sondern dass wir Rahmenbedingungen schaffen, die dem Kind angepasst sind.

Solche Rahmenbedingungen sind beispielsweise, dass wir das Kind im Straßenverkehr schützen und die Verantwortung nicht abgeben. Dass wir Mahlzeiten so gestalten, dass wir in Ruhe essen können bis wir satt sind, aber das Kind vielleicht früher aufstehen kann oder am Tisch etwas anderes machen kann. Oder dass wir vielleicht kleine Schöpfkellen nutzen und die Mahlzeit so gestalten, dass immer kleine Portionen genommen werden und nachgenommen wird, wenn mehr gebraucht wird.

Vor allem müssen wir verstehen lernen, dass es nichts bringt, ein Kind auszuschimpfen oder zu bestrafen, weil es unsere zu hohen Erwartungen nicht erfüllt. Denn das qüält das Kind, uns selbst und unsere Beziehung.

Eure

Zur Autorin:
Susanne Mierau ist Diplom-Pädagogin (Schwerpunkt Kleinkindpädagogik) und Familienbegleiterin. Sie arbeitete an der FU Berlin in Forschung und Lehre, bevor sie sich 2011 im Bereich bedürfnisorientierte Elternberatung selbständig machte. Ihr 2012 gegründetes Blog geborgen-wachsen.de und ihre Social Media Kanäle sind wichtige und viel genutzte freie Informationsportale für bedürfnisorientierte Elternschaft und kindliche Entwicklung. Susanne Mierau gibt Workshops für Eltern und Fachpersonal und spricht auf Konferenzen und Tagungen über kindliche Entwicklung, Elternschaft und Familienrollen.

Foto: Ronja Jung für geborgen-wachsen.de

Bücher zum Thema „Entspannung mit Kindern“

Entspannungsrituale mit Kindern sind wunderbar für den Alltag – nur müssen sie auch passend sein für die Kinder und ihren Möglichkeiten und ihrem Temperament entgegen kommen. Nicht jedes Ritual passt daher zu jedem Kind. Einige Bücher mit unterschiedlichen Ideen stelle ich Euch hier vor:

aus: Anne und Pfirsich

Anne und Pfirsich – eine Reise ins Innere

Anne liebt ihre Oma, die so eine schöne Pfirsichhaut hat. Oma Pfirsich erzählt Anne auch viel: Nicht alles versteht Anne, aber über den inneren Lichtergarten ihrer Oma sprechen sie ganz ausführlich. Denn einen inneren Garten hat jeder Mensch, erklärt Oma Pfirsich. Was aus diesem inneren Garten wird und was es dort gibt, entscheiden wir selbst. Und dieser Ort ist es auch, den man besuchen kann, wenn es einem mal nicht so gut geht.

Das Konzept des „inneren Garten“ ist eine Achtsamkeitsübung, die vielen Erwachsenen vertraut ist und die beispielsweise auch in der Traumatherapie Verwendung findet. Hier wird ein eigener innerer Garten erschaffen, der den individuellen Vorlieben und Bedürfnissen entspricht. So kann einem stressigen inneren Bild oder stressigen Rahmenbedingungen entspannte innere Bilder entgegen gesetzt werden, die sich dann auf unser Befinden auswirken.

Mit der Geschichte von „Anne und Pfirsich“ (Amazon* | Buch 7* | Buchhandel) kann das Konzept des inneren Gartens für Kinder greifbar gemacht werden, denn die Geschichte lädt dazu ein, sich nach dem Lesen auf Erkundung des eigenen inneren Gartens zu begeben. Ein schönes, eher spirituelles Buch für Kinder ab 4 Jahren.

aus: Play Yoga

PlayYoga – Kinderleicht und tierisch gut

Wer selber Yoga praktiziert, ist wahrscheinlich von der Wirkung überzeugt, kann sich aber auch fragen, wie dies mit Kindern umgesetzt werden soll? Tatsächlich ist Yoga mit Kindern anders als Yoga für Erwachsene. Die Erziehungswissenschaftlerin und Yoga-Lehrerin Lorena V. Pajalunga beschreibt dementsprechend in ihrem Buch „Play Yoga“ (Amazon* | Buch 7* | Buchhandel) „dass es für die Jüngsten ein Spiel ist – und auch ein solches bleiben muss“. Kinder können nicht lange stillhalten, aber sie können ganz eintauchen in die Tierfiguren, die in diesem Buch dargestellt werden. Eingebettet in eine Geschichte, können so verschiedene Übungen von den Kindern freudig ausgeführt werden.

Die Besonderheit dieses Buches ist die Schlichtheit der Übungen: Auf einer Doppelseite finden wir eine passende Illustration zur Übung auf der einen Seite und eine kurze, einfache und bebilderte Anleitung auf der anderen Seite. Sehr schön sind die Kinderillustrationen, die weiche, natürliche Kinderkörper zeigen. Noch schöner wäre es, wenn es eine größere Variation in den Hauttönen der abgebildeten Kinder geben würde. Insgesamt ist es ein schönes Buch, um Kindern ab etwa 5 Jahren einfache Yogaübungen näher zu bringen.

aus: Entspannung für kleine Knirpse

Entspannung für kleine Knirpse

Entspannungsspiele für Kinder ab 2 Jahren finden sich in dem Buch „Entspannung für kleine Knirpse“ (Amazon* | Buch 7* | Buchhandel) der Erzieherin und Entspannungspädagogin Sabine Seyffert. Sie lädt mit vielen Ideen dazu ein, gemeinsam mit Kindern die Entspannung zu finden, oft über Bewegungsspiele, beispielsweise kann gemeinsam ein Herbstspaziergang nachgespielt werden, bei dem eine Kastanie auf dem Boden gefunden wird. Sie wird hoch in die Luft geworfen, gekugelt, mit dem Fuß angestoßen, über den Körper gerollt und schließlich wird damit massiert, bevor dann ausgeruht wird. Über solche und ähnliche Spiele finden die Kinder von der Bewegung in die Entspannung. Sabine Seyffert hat dabei Ideen aufgeführt, die sowohl durch das Jahr führen, als auch bestimmte Themen aufgreifen. Ein schönes Buch für kleine Anregungen zur Entspannung im Alltag.

aus: Der kleine Samurai findet seine Mitte

Der kleine Samurai findet seine Mitte

Kinder ab etwa 6 Jahren werden in dem Buch „Der kleine Samurai findet seine Mitte“ (Amazon* | Buch 7* | Buchhandel) Übungen für die Hara-Meditation finden. Gemeinsam mit ihren Eltern, die erst einmal thematisch in das Thema „Meditieren mit Kindern“, Achtsamkeit und die Auswirkungen von Meditation auf das Nervensystem eingeführt werden, wird dann die Meditation über Geschichten praktisch umgesetzt. Die Hara-Meditation ist eine Meditation mit Bewegungselementen, die hilft, sich zu zentrieren und mit Stress umzugehen. Die dazu passenden Geschichten um Nina und Tim und den kleinen Samurai rund um die Gefühle Angst, Wut und Aufregung sind alltagsnah und die beiliegende CD ermöglicht auch die Meditation ohne vorlesen.

„Der kleine Samurai findet seine Mitte“ ist wesentlich komplexer als die anderen hier vorgestellten Bücher, da es sich zunächst erst einmal an Eltern wendet und ihnen fachlich, aber anschaulich und leicht erklärt, was genau bei Anspannung/Entspannung passiert und wie wir Einfluss auf Entspannung nehmen können. Die Übungen für Kinder sind dann aber einfach umzusetzen und besonders für die Zielgruppe der Schulkinder können sie eine Unterstützung im Alltag generell oder bei konkreten Problemen sein. Der Autor Christopher End arbeitet als Elterncoach, Autorin Anando Würzburger Ausbilderin in Meditation.

* Transparenz:
Dieser Artikel enthält Affiliate-Links zu Amazon und Buch7, durch die Geborgen Wachsen im Falle einer Bestellung eine Provision erhält, ohne dass für Euch Mehrkosten anfallen. Wir empfehlen dennoch, den lokalen Buchhandel durch das Einkaufen vor Ort zu unterstützen. Viele Bücher gibt es darüber hinaus zum Ausleihen in den öffentlichen Bibliotheken. Hier kann beispielsweise nach Büchern in den Bibliotheken in Berlin-Brandenburg gesucht werden.
Die vorgestellten Bücher wurden auf Anfrage von den Verlagen als Rezensionsexemplare zur Verfügung gestellt.

Hilfe, mein Kind will nicht essen!

Wohl nahezu alle Eltern kennen diese Phasen mit Kindern, wenn das Kind auf einmal nicht essen möchte: Das Essen steht auf dem Tisch, aber das Kind möchte einfach nichts davon haben. Manchmal erstreckt sich dieses Verhalten auf einen oder wenige Tage, manchmal über Wochen und manche Kinder sind von sich aus wählerischer und eingeschränkter in der Auswahl als andere Kinder*.

In der Kleinkindzeit haben viele Kinder eine Skepsis gegenüber einigen Nahrungsmitteln und besonders neue Speisen werden erst einmal abgelehnt. Angenommen wird besonders, was bekannt ist. Und es benötigt eines immer wieder freundlichen Anbietens dieser Speise bis sie dann doch ausprobiert wird. Manchmal ist es auch die Konsistenz und was als Brei nicht probiert wird, funktioniert stückig besser oder schmeckt in einer Sosse verkocht oder in einem Smoothie verarbeitet viel besser als pur.

Was wir vermeiden sollten, wenn unser Kind nicht essen möchte

Wenn unser Kind weniger isst oder Essen ablehnt, sollten wir bei gesunden, normal entwickelten Kindern* nicht sofort in Angst verfallen, die uns zu übergriffigen Verhalten und Druck verleitet. Für viele Eltern ist die Ernährung – oft auch durch eigene Kindheitsthemen belastet – ein schwieriges Thema und bei kleinen Abweichungen von der Norm geraten sie schnell in Sorge. Diese Sorge und die eigenen negativen Ernährungserfahrungen führen dazu, dass gerade beim Essen schnell Druck aufgebaut wird, um das Kind wieder zum Essen anzuhalten.

Auch wenn wir als Eltern gut informiert sind über Nahrungsmittel, Inhaltsstoffe und gesunde Ernährung, erwarten wir von unseren kleinen Kindern zu viel, wenn wir denken, dass diese abstrakten Informationen sie davon überzeugen würden, jetzt das grüne Gemüse doch freudig zu essen. Vorträge über gesunde Ernährung am Esstisch sind deswegen keine zielführende Idee. Größere Schulkinder hingegen können sich mit dem Thema Ernährung kreativ beschäftigen und lernen in der Regel auch in der Schule noch einmal, auf die Bestandteile gesunder Ernährung zu achten.

Auch Bewertungen wie „gute*r“ oder „schlechte*r“ Esser*in oder Kategoriesierungen von „gesunder“ vs. „ungesunder“ Ernährung sind oft nicht zielführend, da sie einerseits für das kleine Kind zu abstrakt sind und die eigene Ernährung in Vergleich zu anderen Menschen setzen, vielleicht sogar in eine Art Wettbewerb und das Konzept von „gesund“ und „ungesund“ anhand einzelner Lebensmittel ungünstig ist, da nicht das Nahrungsmittel an sich, sondern die Menge oft den entscheidenden Faktor ausmacht und Kinder langfristig lernen sollten, nicht bestimmte Nahrungsmittel per se aus Angst zu vermeiden, sondern sinnvoll und kritisch damit umzugehen.

Auch Schulgefühle sollten wir nicht aufbauen, um das Kind zum Essen zu überreden: „Aber ich habe mir so viel Mühe gegeben beim Kochen….“ oder „Jetzt bin ich ganz traurig, weil du wieder nichts isst!“. Auch Bestrafungen/Belohnungen werden oft genutzt, um das Kind zum Essen zu überreden: „Wenn du das nicht isst, dann gibt es auch nachher kein Eis!“ – Süßigkeiten können, wenn eine Familie sich dafür entscheidet, ganz normal in den Alltag integriert werden, müssen aber nicht in Zusammenhang mit den Hauptmahlzeiten stehen und nicht als Belohnung oder Bestrafung genutzt werden. Natürlich werden Kinder von einem Pudding nicht unbedingt satt – Müssen wir ihn deswegen als Nachtisch anbieten oder macht es nicht mehr Sinn, den Pudding lieber losgelöst vom Mittagessen anzubieten?

Was wir tun können

Was wir stattdessen machen können? Ruhig bleiben, uns das Essverhalten des Kindes über einen längeren Zeitraum genauer ansehen. Manchmal verändert sich unser Blick bereits, wenn wir wirklich einmal aufschreiben, was das Kind den ganzen Tag über isst. Manchmal sehen Eltern dann, dass es so viele kleine Mahlzeiten sind (hier eine Maiswaffel, da ein Apfel und noch eine Banane,…), dass das Kind zu den Hauptmahlzeiten wenig Hunger hat. Auch unser eigenes Essverhalten kann dabei in den Blick geraten: Wer isst hier eigentlich wie und was und wann? Auch hier gilt: Wir sind Vorbild im Alltag für unsere Kinder.

Wir können unseren Blick mehr auf Bedürfnisse, Wünsche und Signale wenden und mit dem Kind erkunden, wann es hungrig ist und wann nicht und warum das so ist.  Wie fühlt sich Hunger und Sättigung an?

Zudem können wir über die aktuelle Situation und Entwicklung des Kindes nachdenken: Was macht es gerade besonders gerne? Bewegt es sich weniger? Hat es vielleicht Streit mit Freund*innen? Bekommt es Zähne und das Essen schmerzt?

Vor allem sollten wir den Druck heraus nehmen aus den Esssituationen: Essen sollte Spaß machen, ein soziales Miteinander sein, Genuss sein und so auch zelebriert werden – von allen Anwesenden. Das ist nicht immer einfach und im Laufe der Jahre gibt es immer wieder Situationen, die am Esstisch auch schwierig sind. Aber wenn wir diesen Herausforderungen als Eltern mit Entspannung und Wohlwollen begegnen, geben wir unseren Kindern ein großes Geschenk mit.

Eure

Zur Autorin:
Susanne Mierau ist Diplom-Pädagogin (Schwerpunkt Kleinkindpädagogik) und Familienbegleiterin. Sie arbeitete an der FU Berlin in Forschung und Lehre, bevor sie sich 2011 im Bereich bedürfnisorientierte Elternberatung selbständig machte. Ihr 2012 gegründetes Blog geborgen-wachsen.de und ihre Social Media Kanäle sind wichtige und viel genutzte freie Informationsportale für bedürfnisorientierte Elternschaft und kindliche Entwicklung. Susanne Mierau gibt Workshops für Eltern und Fachpersonal und spricht auf Konferenzen und Tagungen über kindliche Entwicklung, Elternschaft und Familienrollen.

Foto: Ronja Jung für geborgen-wachsen.de

*Bei Kindern mit Gedeihstörungen, Erkrankungen etc. oder bei Kindern, die in der Entwicklung verzögert sind, sowie bei Kindern, die neben einem Appetitverlust an anderen Symptomen leiden, ist eine ärztliche Beratung angezeigt. Auch wenn Eltern ein nicht näher definierbares ungutes Gefühl haben in Bezug auf die Ernährung ist eine ärztliche Abklärung und Unterstützung sinnvoll. Eine Ernährungsberatung durch Fachpersonen kann in jenen Fällen bei sehr eingeschränktem Essverhalten und/oder Mangelernährung eine hilfreiche Unterstützung sein. Dieser Artikel bezieht sich auf Kinder, die zwischenzeitlich Nahrung ablehnen und nicht unter einer Erkrankung/Mangelernährung/Gedeihstörung leiden.

Die freie Bewegungsentwicklung von Kindern unterstützen

Es gibt Aspekte der kindlichen Entwicklung, die für uns offensichtlicher sind und solche, die weniger sichtbar sind. Oft orientieren wir uns an den großen Meilensteinen, beispielsweise wenn das Kind die ersten Worte sagt oder danach, wenn es Zweiwortsätze spricht, oder wenn es mit dem Krabbeln beginnt oder dem Laufen. Alle Entwicklungen bestehen aber eigentlich aus vielen kleinen Bausteinen auf dem Weg zu einer Veränderung. So verhält es sich bei der Sprache ebenso wie beim Sozialverhalten oder der Motorik. Und damit diese einzelnen Schritte schließlich zu dem führen, was wir als „großen Meilenstein“ betrachten, braucht das Kind die Chance, sich dorthin zu entwickeln und quasi einen Baustein auf den anderen zu setzen oder einen Schritt nach dem anderen zu bewerkstelligen. Gerade auch bei der Bewegungsentwicklung ist es wichtig, dass das Kind die Chance hat, sich zu erproben.

Raum für Entwicklung

Schon in den ersten Monaten brauchen Kinder die Chance, ihren Entwicklungsimpulsen nachzugehen. Dabei werden sie von ihren Eltern begleitet, die auf eine Balance achten zwischen Anregung und Entspannung: Gerade Babys, die (noch) größere Schwierigkeiten mit der Selbstregulation haben, brauchen oft zur Beruhigung viel Nähe und Körperkontakt, vielleicht in Trage oder Tragetuch und/oder auch mit Hilfe eines Pucksacks oder Pucktuches. Neben diesem Körperkontakt benötigen sie aber gleichsam auch die Möglichkeit, sich mit dem eigenen Körper und der Umwelt vertraut zu machen.

Aus diesem selbständigen Erkunden entwickelt sich in der Rückenlage, dass das Kind zunehmend mehr im Gleichgewicht liegen kann, die Beine an den Bauch anzieht, die Hände vor sich zusammenbringt, sich dann irgendwann zufällig auf die Seite rollt und oft* um den 5. Monat herum die Hände an die Oberschenkel bringt, erste Drehversuche unternimmt und etwas später die Hände an die Füße bringt, bis es die Füße schließlich zum Mund führen kann und die Wirbelsäule so dehnt. Es lernt, sich vom Rücken auf den Bauch zu drehen und wieder zurück, lernt in der Bauchlage die Aufrichtung und Abstützung, spielt auf der Seite, bewegt sich schließlich fort durch robben, rollen und/oder krabbeln, bevor es beginnt, sich hochzuziehen, beim Krabbeln vielleicht ein Bein aufzustellen, sich in den Kniestand zu bringen und schließlich zu stehen und zu gehen.

Mit jedem weiteren Entwicklungsimpuls bauen Kinder auch die körperliche Entwicklung aus: sie entwickeln die Muskulatur, dehnen und strecken sich, erlernen neue Bewegungsabläufe. Oft sind diese einzelnen Erfahrungen der Grundstein, auf dem dann neue Entwicklungen aufbauen. Wir sollten daher nicht unbedacht in diese Entwicklung eingreifen, damit das Kind sicher und selbständig die einzelnen Bausteine der Entwicklung durchlaufen kann. Ein beständig zu frühes Hinsetzen oder Halten zum Laufen kann das Kind (körperlich) überfordern und sich nachteilig auf die Entwicklung auswirken. Vielmehr sollten wir den Raum dafür geben, dass das Kind sich selbständig bewegen kann und die einzelnen Entwicklungsimpulse begleiten und unterstützen.

Manchmal ist dies nicht einfach, wenn das Kind sich beispielsweise gerade umgedreht hat, den kleinen Arm aber noch nicht unter dem Körper hervor ziehen kann. Eltern sind dann schnell versucht, bei dem ersten Anzeichen von Unwohlsein einzugreifen. Auch hier ist es wichtig, auf eine gute Balance zwischen Eingreifen und der Möglichkeit zur Selbständigkeit zu achten, damit das Kind durch die Bewältigung von Hürden Selbstwirksamkeit erfährt und sich nicht beständig passiv und auf Hilfe angewiesen fühlt. Merken wir allerdings, dass das Kind ein Problem nicht allein bewältigen kann, ist sanfte, liebevolle Unterstützung eine gute Hilfe.

Schon im ersten Jahr brauchen Babys neben Nähe also die Freiheit für die persönliche Bewegungsentwicklung. Das bedeutet:

  • Zeit, sich frei zu bewegen,
  • die Möglichkeit, dies tun zu dürfen,
  • körperliche Freiheit für die Bewegung (nicht eingeengt und durch enge Kleidung in der Bewegung behindert)

Auch große Kinder brauchen Raum

Aber auch nach dem ersten Jahr ist es wichtig, Kindern den Raum für Bewegungsentwicklung zu geben. Auch wenn Kinder schon laufen können, ist die Bewegungsentwicklung noch nicht abgeschlossen. Nun wird auch hier weiterhin verfeinert und Kinder lernen das Hüpfen, das Schleichen, das Rennen und Stoppen, das Klettern und Balancieren und die vielen anderen Bewegungsmöglichkeiten. Für all dies brauchen sie auch weiterhin passende Möglichkeiten.

Insbesondere draußen können Kinder diesen Entwicklungsimpulsen nachkommen, wenn sie Orte haben, an denen eine Vielzahl an Bewegungsmöglichkeiten umgesetzt werden können und sie sich körperlich ausprobieren können: auf Spielplätzen, im Wald, auf dem Feld.

Nicht aus Angst einschränken

Wichtig ist, dass Eltern den Bewegungsdrang des Kindes und die dahinter stehenden Entwicklungsimpulse erkennen und das Kind nicht aus Angst und Vorsicht beständig einschränken. Auch die Auswahl der Kleidung ist bei größeren Kindern weiterhin wichtig, damit sie auch wirklich ungehindert klettern und spielen können.

Gerade in den kühleren, regnerischen Monaten wird der Bewegungsdrang des Kindes manchmal zu einer Herausforderung, wenn Eltern nicht mit dem Kind hinausgehen wollen, aber zu Hause nicht gerannt/getobt/gehüpft/geklettert werden soll. Hier prallen dann kindliche Bedürfnisse und elterliche Wünsche oft zusammen und führen zu Streit. Mit dem Wissen jedoch, dass Bewegung ein Grundbedürfnis des Kindes ist und mit dem aktuellen Lernen in Verbindung steht, mag es einigen Eltern leichter fallen, mit dem Wunsch des Kindes entspannter umzugehen und gemeinsame Wege für einen entspannten, bewegungsreichen Alltag zu finden. Das können dann bewusste Spaziergänge und Ausflüge sein oder ein aufgebauter Bewegungsparcours aus Tischen und Stühlen, ein Klettergerüst oder eine Sprossenwand in der Wohnung. Und vielleicht eine Verabredung mit den Nachbarn, zu welchen Uhrzeiten eine Rennstrecke in der Wohnung möglich ist oder eine Hüpfparty passt.

Eure

Zur Autorin:
Susanne Mierau ist Diplom-Pädagogin (Schwerpunkt Kleinkindpädagogik) und Familienbegleiterin. Sie arbeitete an der FU Berlin in Forschung und Lehre, bevor sie sich 2011 im Bereich bedürfnisorientierte Elternberatung selbständig machte. Ihr 2012 gegründetes Blog geborgen-wachsen.de und ihre Social Media Kanäle sind wichtige und viel genutzte freie Informationsportale für bedürfnisorientierte Elternschaft und kindliche Entwicklung. Susanne Mierau gibt Workshops für Eltern und Fachpersonal und spricht auf Konferenzen und Tagungen über kindliche Entwicklung, Elternschaft und Familienrollen.

Foto: Ronja Jung für geborgen-wachsen.de

* Die Bewegungsentwicklung ist sehr individuell und es gibt zwischen einzelnen Kindern erhebliche Schwankungen darin, welche Bewegungsart wann erfolgt.

Die ersten Nächte mit Baby und Geschwisterkind

In der Schwangerschaft bereiten sich Eltern oft schon auf viele Themen vor – und bei jedem weiteren Kind wissen sie mehr, was wichtig und was weniger wichtig ist. Dennoch sind die ersten Tage mit einem neuen Kind immer wieder neu und anders und gerade dann, wenn schon größere Geschwister da sind, müssen sich nicht nur Eltern und Kind finden, sondern auch das große Geschwisterkind einen neuen Platz einnehmen. Gerade die Routinen des Alltags ändern sich, wenn auf einmal wieder ein Baby im Haus ist. Diese Routinen und Rituale betreffen sowohl Morgenroutinen, Pflege, das Einnehmen von Mahlzeiten, als auch eben das Einschlafen und die nächtliche Ruhezeit. Gerade wenn das größere Geschwisterkind noch im Kleinkindalter ist, ist dies Nachtruhe oft ein schwieriges Thema und es kommt nicht selten zu Streit oder Problemen im neuen Alltag.

Das große, kleine Geschwisterkind

Betrachten wir also zunächst das große, kleine Geschwisterkind: Auch im Kleinkindalter ist der Schlaf noch nicht wie bei einer erwachsenen Person und gerade jetzt, wo das Kind selbständiger wird, sich weiter fortbewegt und andere Zusammenhänge denkt, wird das Einschlafen manchmal zum Problem: die Fantasie lässt wilde Tiere unter dem Bett wohnen oder Monster. Auch Albträume können Kindern Angst vor dem Einschlafen machen. Wann Kinder allein einschlafen, ist ganz unterschiedlich. Dass sie aber im Kleinkindalter noch nicht allein einschlafen wollen, ist recht weit verbreitet. Und selbst wenn das Einschlafen allein funktioniert, kommen viele Kinder nachts doch noch zu den Eltern: im Alter zwischen 2-7 Jahren mindestens einmal pro Woche (siehe pdf).

Es ist also ohnehin recht normal, dass das große, kleine Geschwisterkind noch in den Schlaf begleitet werden will. Nun, in der neuen Situation mit Baby, stellt sich der Alltag neu um – eine Herausforderung für viele Kinder. Sie fordern aus ihrem Bindungsbedürfnis heraus jetzt Sicherheit, Schutz und Nähe der Bezugspersonen ein. Dies umso mehr in Situationen, die ohnehin schwierig sind, die ohnehin noch nicht leicht bewerkstelligt werden können. Gerade jetzt wollen sie noch mehr sichergehen, dass wirklich alles gut ist.

Wechsel der Einschlafbegleitung – oft schwierig

In vielen Familien erleben Kinder in den ersten Jahren immer gleiche oder sehr ähnliche Zubettgehroutinen: Oft bringt ein Elternteil das Kind ins Bett, liest noch etwas vor, bleibt dabei, bis das Kind schläft. Oft sind es die Mütter, die diese Aufgabe übernehmen. Ist ein neues Baby auf einmal da, wird in diesem Fall oft gewechselt: Auf einmal bringt der andere Elternteil das größere Geschwisterkind ins Bett. Was Erwachsenen als ganz logische Idee erscheint, ist es für Kinder nicht zwangsweise auch. Sie bilden oft eine Bindungshierarchie aus: Die Person, die das Kind am häufigsten und/oder bedürfnisorientiertesten begleitet, steht in dieser Hierarchie ganz oben und wird in erster Linie zur Bedürfniserfüllung eingefordert – auch wenn die andere Bezugsperson anwesend und verfügbar ist. Wechseln nun „einfach“ die Bezugspersonen, auch wenn der andere Elternteil auch geduldig vorliest, da bleibt, die Hand hält etc., ist das für das Kind nicht dasselbe wie zuvor. Es möchte am alten, Sicherheit gebenden Ritual festhalten.

Das große Geschwisterkind ins Bett bringen

Hilfreicher als ein Wechsel beim großen Geschwisterkind ist es daher oft, wenn das größere Kind wie bislang begleitet wird und das Baby während der Einschlafbegleitung einen Wechsel erlebt: Es ist noch nicht so stark festgelegt wie das größere Kind und kann mit dem anderen Elternteil nun ein eigenes Ritual entwickeln. Vielleicht, indem es in dieser Zeit in der Trage bei einem Spaziergang getragen wird. Oder in einem anderen Raum mit dem anderen Elternteil kuschelt. Je nach Situation und Temperament/Bedürfnissen der Kinder können natürlich auch beide Kinder gleichzeitig in den Schlaf begleitet werden. Schläft das Baby regelmäßig früher ein, spricht natürlich auch nichts dagegen, es ruhig neben sich liegen zu lassen und dem größeren Kind eine Geschichte vorzulesen, sofern dies für das Geschwisterkind in Ordnung ist.

Platz für nächtliche Besuche

Schläft das größere Geschwisterkind schon in einem eigenen Bett, vielleicht sogar eigenen Zimmer, sollte bedacht werden, dass es nachts dazu kommen kann und einen sicheren Schlafplatz für sich, aber auch das neue Baby einnimmt. Das bedeutet, dass die Geschwister in der Babyzeit nicht nebeneinander im Familienbett schlafen sollten, sondern voneinander getrennt, da sich Kinder im Schlaf auf das Baby legen könnten oder durch Kuscheltiere oder Decken die Atmung des Babys behindern könnten. Ein sicherer Schlafplatz im Familienbett, der nur dem älteren Geschwisterkind gehört, wenn es nachts oder morgens dazukommen möchte, ist ein Signal des Willkommens und der Sicherheit.

Unruhe in der Nacht

Ist das größere Kind dann mit im Familienbett oder schläft angrenzend in eigenem Bett, sorgen sich viele Eltern, ob die Geräusche des Babys nicht den Nachtschlaf des größeren Kindes stören könnten. Auch hier ist es unterschiedlich und einige Kinder schlafen gut auch bei unterschiedlichsten Geräuschen, während andere schneller aufwachen. Bevor das gemeinsame Schlafen aber ausgeschlossen wird aus dem Gedanken heraus, das größere Kind könnte davon gestört werden, lohnt sich ein Versuch, ob es wirklich so ist oder der Vorteil der Nähe überwiegt.

Eure

Zur Autorin:
Susanne Mierau ist Diplom-Pädagogin (Schwerpunkt Kleinkindpädagogik) und Familienbegleiterin. Sie arbeitete an der FU Berlin in Forschung und Lehre, bevor sie sich 2011 im Bereich bedürfnisorientierte Elternberatung selbständig machte. Ihr 2012 gegründetes Blog geborgen-wachsen.de und ihre Social Media Kanäle sind wichtige und viel genutzte freie Informationsportale für bedürfnisorientierte Elternschaft und kindliche Entwicklung. Susanne Mierau gibt Workshops für Eltern und Fachpersonal und spricht auf Konferenzen und Tagungen über kindliche Entwicklung, Elternschaft und Familienrollen.

Foto: Ronja Jung für geborgen-wachsen.de

Kranke Kinder begleiten

Wenn unsere Kinder krank sind, ist das nicht selten eine herausfordernde Situation für die Familie, denn auf der einen Seite ist da das kranke Kind mit dem Unwohlsein und auf der anderen Seite ein sich sorgendes Elternteil. Aber auch neben dem eigentlichen Kranksein spielt sich gerade jetzt viel ab zwischen den Personen – auf Beziehungsebene.

Krank sein – eine ungewohnte Erfahrung

Da ist das Kind, das krank ist: Es fühlt sich anders und ist verunsichert: „Was ist hier los? Ich fühle mich anders als sonst. Muss ich Angst haben?“ Wie so viele Erfahrungen Im Leben durchlebt es auch zum ersten Mal Kopfschmerzen, Schnupfen, ein Kratzen im Hals… Hat zum ersten Mal einen Fuß verstaucht oder einen Arm gebrochen. Es ist neu und anders, dieses Körperempfinden und jetzt braucht es eins, was in solchen Situationen immer hilft: Sicherheit von einer Bezugsperson. Es möchte das Gefühl haben, dass die Bezugsperson sicher ist in einer für das Kind unsicheren Zeit, es möchte umsorgt werden und Verlässlichkeit spüren. Gerade hier zeigt sich wie in allen anderen verunsichernden und ängstigenden Situationen das Bindungssystem: das Kind fordert Nähe und Zuwendung ein, um sich sicher zu fühlen.

Je nach Temperament braucht es vielleicht mehr oder weniger Sicherheit, Zuwendung, Co-Regulation. Manche Kinder sind krank entspannter, andere angespannter. Und sie äußern ihren Bedarf an Zuwendung auf unterschiedliche Weise: sie wollen vielleicht besonders viel spielen, andere kuscheln, hier noch einen Tee, dann ein kaltes Wasser oder noch eine Geschichte vorgelesen bekommen – all das sind Wünsche nach Zuwendung und Aufmerksamkeit.

Kinder bei ärztlichen Untersuchungen begleiten

Vielleicht ist sogar eine Untersuchung notwendig und auch hier ist alles anders und das Kind braucht das Elternteil als sicheren Hafen, als Schutzort. Die Aufgabe der Eltern ist es, in dieser Situation genau das zu sein und zu vermitteln: Sicherheit, Zuwendung, Ruhe, Schutz, Verständnis – für das Kind. 

Ähnlich wie beim Zähneputzen ist das nicht immer einfach: Es muss eine Untersuchung vorgenommen werden, vielleicht muss eine Spritze gegeben werden oder es gibt einen größeren medizinischen Eingriff. Vielleicht soll das Kind den Mund aufmachen und will nicht oder muss kurz stillhalten, ist aber zappelig.

Als Elternteil ist es in erster Linie unsere Aufgabe, dem Kind in dieser Situation Sicherheit zu vermitteln, Beistand, Verständnis. Auch wenn es oft wenig Raum und Zeit gibt in solchen Situationen, ist es das Ziel, nicht übergriffig zu handeln, sondern kooperativ. Dafür braucht es oft von der behandelnden Person besondere Feinfühligkeit und Kreativität: die Spritze kann das Gesundheitsbienchen sein, Untersuchungen werden zuvor an einem therapeutischen Kuscheltier gezeigt, das Kind darf die Geräte anfassen oder selbst einmal ausprobieren. Eltern sind dabei keine helfenden Hände für die Untersuchenden, sondern Beistand für ihre Kinder. Aber sie können auch viel für die Offenheit beitragen, wenn sie zugewandt und sicher mit den Untersuchenden umgehen, freundlich sind, interessiert. Wenn sie dem Kind nicht vorher beständig erklären „Du musst keine Angst haben!“, was bei vielen Kindern erst einmal Angst entstehen lässt, und das Kind auch nicht anlügen mit „Das tut nicht weh!“, obwohl es eben doch schmerzen wird. – Ja, wir haben im Alltag oft zu wenig Zeit für viele dieser Punkte, das bedeutet aber nicht, dass es so richtig wäre.

Krankes Kind – Herausforderung für Eltern

Das Kranksein des Kindes ist aber auch nicht selten Herausforderung für die Eltern: Es können sich Themen der eigenen Kindheit öffnen („Da muss man durch wenn man krank ist!“) und auch wenn man eigentlich bedürfnisorientiert mit dem Kind umgehen möchte, kann es in der Situation in einer Praxis oder Klinik auf einmal schwer fallen, die eigenen Grundsätze zu erinnern und nicht durch Stress in verinnerlichte Muster zu verfallen und das Kind anzuschimpfen, weil es nicht mitmacht, zu ängstlich oder langsam ist.

Der Stress kann Eltern überfordern, gerade wenn noch viel „nebenher“ erledigt werden muss, die Arbeit wartet, die Kind-Kranktage eigentlich aufgebraucht sind oder doch heute etwas ganz anderes geplant war. Und natürlich kann auch eine Diagnose überfordern, erschöpfen, verunsichern. Auch diese Gefühle sind normal. Gerade jetzt brauchen Eltern oft Unterstützung: die gute Aufteilung der Umsorgung zwischen den Eltern, Freunde, die vielleicht Einkäufe vorbei bringen oder auch Familie, die vor Ort oder mittels Videotelefonat eine Geschichte vorliest, um die Eltern kurz zu entlasten. Gerade wenn die Begleitung und Betreuung von Kindern viel Energie kostet, sollten Eltern die Möglichkeit haben, auf sich zu achten, um die eigenen Kraftreserven nicht ausgehen zu lassen.

Es ist also wichtig, dass wir beides nicht aus den Augen verlieren: Das Bindungsbedürfnis des Kindes in dieser Zeit, aber auch nicht unsere eigenen Kraftreserven und Möglichkeiten und für beide Seiten nach Möglichkeiten suchen, um gut damit umzugehen. 

Eure

Zur Autorin:
Susanne Mierau ist Diplom-Pädagogin (Schwerpunkt Kleinkindpädagogik) und Familienbegleiterin. Sie arbeitete an der FU Berlin in Forschung und Lehre, bevor sie sich 2011 im Bereich bedürfnisorientierte Elternberatung selbständig machte. Ihr 2012 gegründetes Blog geborgen-wachsen.de und ihre Social Media Kanäle sind wichtige und viel genutzte freie Informationsportale für bedürfnisorientierte Elternschaft und kindliche Entwicklung. Susanne Mierau gibt Workshops für Eltern und Fachpersonal und spricht auf Konferenzen und Tagungen über kindliche Entwicklung, Elternschaft und Familienrollen.

Foto: Ronja Jung für geborgen-wachsen.de

Autorität haben oder sein? – Die Rolle der Eltern

Kinder brauchen Bezugspersonen, die größer, stärker, weise und gütig sind. Sie brauchen Schutz und Liebe. Auf dieser Basis gewinnen sie Vertrauen und Sicherheit, können eine sichere Beziehung zu ihren Bezugspersonen aufbauen. Wie genau sich Eltern dabei verhalten sollen, ist allerdings für viele Eltern unklar: Gebe ich einen Rahmen vor? Wie begleite ich? Wieviel gebe ich vor und wo lasse ich mich auf das Kind ein? Soll ich eine Autorität sein für mein Kind und wenn ja, wie bin ich das? Es ist nicht so einfach, den eigenen Platz und Weg zu finden. Auch, da der Begriff „Autorität“ in uns oft negative Empfindungen freisetzt, denn wir denken dabei an Macht und Herrschaft – an unangenehme Beziehungen und Druck. Aber das ist lediglich EINE Art, wie Autorität zum Ausdruck kommen kann.

Autorität haben

Wir können Autorität HABEN durch die Verwendung von Druck und Macht, die wir dazu nutzen, dass sich das Kind nach uns richtet. Wir sind größer, wir sind auf vielen ebenen mächtiger: haben finanzielle Macht, körperliche Macht, mehr Erfahrungen – all dies können wir einsetzen, damit das Kind sich nach uns richten muss. Und diese Macht kommt in vielen verschiedenen Gestalten zu uns: durch Strafen, Beschämung, Drohungen. Manchmal ist sie auch wenig erkenntlich, wenn wir scheinbar Kompromisse anbieten, aber auch der Kompromiss nur eine von unserer Regel abweichende und von uns selbst vorgeschlagene Alternative ist, bei der sich das Kind nur entscheiden kann zwischen zwei Wegen, die es eigentlich beide nicht will und nicht vorgeschlagen hat.

Diese Art der Macht und Autorität können wir eine ganze Weile über unsere Kinder ausüben – bis sich das Machtgefällt langsam ändert und die Kinder weniger abhängig in der Bedürfniserfüllung von uns sind. Natürlich führt diese Art des Umgangs immer wieder auch zu größeren Problemen, denn das Kind bäumt sich nicht selten gegen die vielen Fremdbestimmungen auf. Dennoch aber funktioniert es eine ganze Weile so. Bis zu dem Punkt, an dem Kinder Dinge heimlich machen können, wenn die Konsequenzen sie nicht mehr schrecken oder sie ihnen aus dem Weg gehen können.

Autorität sein

Oder wir SIND eine Autorität für unsere Kinder. Nicht durch Macht(missbrauch), sondern durch Vorbild, Einfühlungsvermögen, Charisma. Das geht nicht? Doch, denn Kinder sind von Anfang an kooperativ. Studien haben gezeigt: Kinder, die respektvoll aufwachsen mit einem sensiblen, toleranten Umgang zwischen Eltern und Kindern, kommen viel eher elterlichen Anweisungen nach.

Es ist ein Umdenken für jene Eltern, die selbst in Machtstrukturen und mit Eltern aufgewachsen sind, die Macht mittels bestimmter Erziehungsmethoden ausgeübt haben. Es scheint zunächst befremdlich: Können wir wirklich auf Druck und Unterwerfung verzichten und folgen uns unsere Kinder dennoch? Sind sie gar keine unzuverlässigen, wilden, eigennützigen Wesen, sondern sind sie wirklich von sich aus schon sozial und wollen dazugehören? Das Bindungssystem gibt uns eigentlich bereits Aufschluss über diese Fragen: Ja, Kinder wollen dazu gehören, wollen in ihrer Gruppe aktive Mitglieder sein, wollen respektiert werden und sind gleichsam auf ihre Bezugspersonen so ausgerichtet, dass sie sich den Schutz und die Sicherheit dieser Personen durch Kooperation sichern.

Natürlich hat die Kooperationsfähigkeit eines kleinen Kindes Grenzen. Es kann sich jeden Tag nur in einer bestimmten Menge den Rahmenbedingungen anpassen und eigene Bedürfnisse wie Neugier und Entdeckungsdrang zurückstellen, die es häufig sind, die Eltern dazu verleiten, Druck und Strafen anzusetzen. Dies müssen wir berücksichtigen in unseren Handlungen und der Alltagsgestaltung. Und ja: Manchmal schaffen wir es vielleicht wirklich nicht auf Augenhöhe durch den Tag, denn es gibt Situationen, die es einfach nicht hergeben. Aber im Großen und Ganzen sollte es unser Ziel sein, nicht Autorität zu haben, sondern Autorität zu sein – aus unserer liebevollen, verständisvollen Haltung heraus.

Lassen wir das Denken hinter uns, dass Eltern Bestimmer*innen sind und mit Druck, Strafe und Unterwerfung arbeiten müssten und entwickeln wir ein Bild von uns als Eltern, die mit Güte, Liebe und Verständnis unsere Kinder begleiten, ihnen Schutz geben, ihnen als Vorbild im Handeln und Denken dienen und auf diese Weise eine natürliche, liebevolle Autorität bilden, an der sie sich orientieren können.

Eure

Zur Autorin:
Susanne Mierau ist Diplom-Pädagogin (Schwerpunkt Kleinkindpädagogik) und Familienbegleiterin. Sie arbeitete an der FU Berlin in Forschung und Lehre, bevor sie sich 2011 im Bereich bedürfnisorientierte Elternberatung selbständig machte. Ihr 2012 gegründetes Blog geborgen-wachsen.de und ihre Social Media Kanäle sind wichtige und viel genutzte freie Informationsportale für bedürfnisorientierte Elternschaft und kindliche Entwicklung. Susanne Mierau gibt Workshops für Eltern und Fachpersonal und spricht auf Konferenzen und Tagungen über kindliche Entwicklung, Elternschaft und Familienrollen.

Foto: Ronja Jung für geborgen-wachsen.de

Mehr dazu lesen in:
Kohn, Alfie (2015): Liebe und Eigenständigkeit. Die Kunst bedingungsloser Elternschaft, jenseits von Belohnung und Bestrafung. – 4. Aufl. Freiburg: Arbor
Omer, Haim/von Schlippe, Arist (2010): Stärke statt Macht. Neue Autorität in Familie, Schule und Gemeinde. 3. Aufl. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht
Omer, Haim/von Schlippe, Arist (2016): Autorität durch Beziehung. Die Praxis des gewaltlosen Widerstands in der Erziehung. Göttingen: Vandenhoeck & Rupprecht
Powell, Bert/ Cooper, Glen/ Hoffmann, Kent/Marvin, Bob (2015): Der Kreis der Sicherheit. Die klinische Nutzung der Bindungstheorie. – Lichtenau: G.P. Probst Verlag

„Nein, nicht hauen!“ – Impulskontrolle bei Kleinkindern

Der Alltag mit Kleinkindern ist oft voll von großen Gefühlen: sie können vor Freude hüpfen und singen, die können lange weinen, wenn sie traurig sind – und wenn sie wütend sind, dann stampfen sie auf, wollen etwas werfen oder auch mal ein anderes Kind (oder Erwachsenen) hauen. Diese Gefühle zu begleiten – besonders beim Hauen, Beißen oder Spucken, ist nicht einfach: Wir wollen nicht angegriffen werden, wir wollen andere Kinder schützen und wünschen uns auch, dass das Kind sich sozial in der Gesellschaft bewegt. Aber wer einem Kleinkind in einer Wutsituation sagt: „Nein, nicht hauen!“ weiß oft auch, dass das Kind nicht zwangsweise hört bzw. – und da liegt die wichtige Information für uns Eltern – das Gefühl noch nicht richtig kontrollieren kann.

Die große Zeit der Aggressionen

Aggression ist ein Teil unserer Gefühlswelt. Allerdings unterscheiden wir Erwachsene uns im Ausleben der Aggression (meist) von unseren Kindern, da wir aggressive Impulse (meist) besser kontrollieren können. Allerdings gibt es sowohl bei den Kindern in Hinblick auf Aggression als auch bei uns Erwachsenen ein große Bandbreite unterschiedlichen Verhaltens. Das Hemmen eines aggressiven Impulses hängt nämlich sowohl von unserer genetischen Ausstattung für die Hormone/Neurotransmitter ab, als auch (teilweise in Verbindung damit) von den Erfahrungen in der eigenen Kindheit und der Hirnreifung allgemein: Belastende Erfahrungen und Stress in der frühen Kindheit können nämlich einen Einfluss nehmen auf die Ausschüttung von Stoffen, die aggressive Impulse hemmen und damit wir mit der Wut sozialverträglich umgehen, muss ein bestimmter Hirnbereich (der medilae präfrontale Cortex) die Aktivität der für Emotionen zuständigen Amygdala hemmen.*

Bei unseren Kindern ist dies alles noch ein wenig anders als bei den (meisten) Erwachsenen. In einer Studie wurde herausgefunden, dass die körperliche Gewalt von Kindern in der Regel ab einem Alter von 1,5 Jahren zunimmt, ihren Höhepunkt im Alter von 3,5 Jahren hat und dann wieder in den meisten Fällen abnimmt. Genetische Faktoren, soziale Erfahrungen und die Interaktion zwischen beidem haben einen wichtigen Einfluss darauf, ob das aggressive Verhalten wieder zurückgeht, oder sich chronisch ausbildet.

Wie also nun mit Aggression umgehen?

Wir sehen also: Kinder können von Anfang an sehr unterschiedlich darin sein, ihre Aggressionen auszuleben, es gibt bei den meisten Kindern eine Art Hochzeit des aggressiven Verhaltens und Kinder lernen im Laufe der Zeit (auch in Zusammenhang mit der Hirnreifung) mit Aggression umzugehen. Wichtig dabei ist, dass sie durch ihre Umgebung lernen, wie sie mit ihren Gefühlen umgehen können und sollten.

Für Eltern bedeutet dies zunächst: Dass Kinder aggressives Verhalten zeigen, ist normal. Es ist zunächst kein Zeichen für ein Versagen als Eltern, wenn das Kleinkind andere Kinder oder auch Erwachsene hauen will. Wichtig ist aber, wie wir selbst mit dem Kind umgehen, ob wir ihm durch Strafen, Druck und andere Gewalt Stress zufügen, was seinen Umgang mit Aggression langfristig beeinflussen kann, und wie wir ganz konkret in jenen Situationen mit dem Kind umgehen, in denen es haut/beißt/spuckt/kratzt.

Den Umgang mit der breiten Palette an Gefühlen müssen Kleinkinder erst üben. Von uns können sie lernen, die Gefühle nicht zu unterdrücken, sondern wahrzunehmen und gut auszudrücken.

Mierau, Susanne (2020): Geborgene Kindheit

Wenn wir wissen, dass das Kind es durch die Hinreifung bedingt noch schwer hat, in schwierigen Situationen überlegt zu handeln, ändert dies schon einmal den Blick auf das Kind: Es ist nicht „von sich aus böse“, es kann nur gerade noch nicht anders handeln. Und das Lernen dieses anderen Handelns begleiten wir nun als Eltern:

  • Es gibt Situationen, in denen können wir von uns aus einschätzen, dass das Kind gleich wütend wird: Wir sehen, wie sich ein Konflikt zuspitzt und können dann schon in Erwartung dessen diesen Konflikt nah begleiten. Das bedeutet beispielsweise, dass wir das andere Kind vor dem Übergriff schützen können. Wir können auch versuchen, eine Alternative anzubieten: „Ich sehe, dass du super wütend bist, das ist okay. Aber lass es nicht am anderen Kind aus, sondern… (stampfe, schreie, boxe ins Kissen…).“ – Je jünger die Kinder sind, desto schwerer fällt es aber, eine Alternative umzusetzen. Dennoch: andere Wege aufzuzeigen ist sinnvoll.
  • Wut und Aggression sind Gefühle und gehören zu unserem Leben dazu. Es ist nicht gut, wenn Kinder diese Gefühle ausklammern müssen und nicht haben dürfen. Daher ist es wichtig, nicht einzufordern, dass das Kind nicht wütend sein darf. Es darf wütend sein! Es muss nur noch einen Weg finden, mit der Wut gut umzugehen. Auch in ruhigen Momenten können wir gemeinsam über Aggression und Wut sprechen, auch mit Hilfe von Kinderbüchern.
  • Aggression eines Kleinkindes hat oft mit dem „Nein“ zu tun. Dieses „Nein“ ist wichtig für die Entwicklung: Nein, ich will nicht, dass du mir etwas wegnimmst. Nein, ich will nicht mit dir spielen. Nein, ich will nicht, dass du mich anfasst. Nein, ich will nicht teilen.- Das Nein ist ein großer Meilenschritt der Entwicklung, mi dem das Kind umgehen lernt und das es für ein selbstbestimmtes Handeln braucht.
  • Strafen als Reaktion sind ebenfalls nicht sinnvoll. Durch Strafen lernt es, dass dieses Gefühl nicht sein darf. Darüber hinaus versucht es aber vielleicht auch (da es diese Gefühle ja gibt), das wütende Verhalten im Geheimen zu zeigen und lügt, wenn es darauf angesprochen wird aus Angst vor der Bestrafung. Auch eine Auszeit ist keine passende Reaktion auf die Aggression eines Kleinkindes.
  • Immer wieder auftauchende aggressive Konflikte und eine andauernde Aggression des Kindes kann auch ein Hinweis sein, dass es dem Kind gerade nicht gut geht. Dann lohnt es sich, genauer hinzusehen: Was hat sich verändert? Welche Probleme hat das Kind? Gerade hier sind Strafen und Druck ebenfalls unangemessen. Das Kind hat ein Problem, das wir einfühlsam identifizieren müssen.
  • Auch unser eigener Umgang mit der Wut ist wichtig: Was erlebt das Kind bei uns? Wie gehen wir mit Wut um?
  • Auch der Satz „Nicht hauen!“ kann schwierig sein, da Kinder das „nicht“ darin nicht richtig wahrnehmen.

Wir sehen also: Aggression ist normal und Teil der Entwicklung. Wir Eltern müssen aber an vielen Stellen noch (oder wieder) lernen, mit den Aggressionen unserer Kinder sinnvoll umzugehen, damit sie dann lernen, mit ihnen umgehen zu können.

Eure

Zur Autorin:
Susanne Mierau ist Diplom-Pädagogin (Schwerpunkt Kleinkindpädagogik) und Familienbegleiterin. Sie arbeitete an der FU Berlin in Forschung und Lehre, bevor sie sich 2011 im Bereich bedürfnisorientierte Elternberatung selbständig machte. Ihr 2012 gegründetes Blog geborgen-wachsen.de und ihre Social Media Kanäle sind wichtige und viel genutzte freie Informationsportale für bedürfnisorientierte Elternschaft und kindliche Entwicklung. Susanne Mierau gibt Workshops für Eltern und Fachpersonal und spricht auf Konferenzen und Tagungen über kindliche Entwicklung, Elternschaft und Familienrollen.

Foto: Ronja Jung für geborgen-wachsen.de

Zum Weiterlesen:
Juul, Jesper (2017): Aggression. Warum sie für uns und unsere Kinder notwendig ist. – Frankfurt am Main: Fischer Taschenbuch.
Mierau, Susanne (2020): Geborgene Kindheit. Kinder vertrauensvoll und entspannt begleiten. – München: Kösel.
*Strüber, Nicole (2019): Risiko Kindheit. Die Entwicklung des Gehirns verstehen und Resilienz fördern.

Sind „unartige Kinder“ wirklich unartig?

So oft beschreiben Erwachsene das Verhalten eines Kleinkindes als unartig: Es ist unartig, wenn es frisch angezogen und sauber in eine Pfütze springt. Es ist unartig, wenn es den Inhalt der Tasse am Esstisch auf den Teller kippt und dieser dann überläuft. Es ist unartig, wenn es im Restaurant mit den Fingern essen will oder schreit. Aber hier verhält es sich ganz ähnlich wie mit der Benutzung des Wortes „Trotz“: Kinder sind nicht per se unartig, weil sie etwas tun, was wir nicht wollen oder unangemessen finden.

Ist das wirklich eine Unart?

Was wir oft als „unartig“ bezeichnen, ist ein Verhalten des Kindes, das gerade jetzt nicht zu unseren Plänen und Wünschen passt. Eigentlich wollten wir heute pünktlich sein, ein sauberes Kind beim Kindergarten abliefern, entspannt unsere Mahlzeit am Tisch einnehmen… Manchmal denken wir auch aufgrund der tief in uns verankerten Glaubenssätze, ein Kind solle sich nicht ständig schmutzig machen, denn es muss schließlich lernen, auch sauber zu bleiben. Und ebenso muss es doch irgendwann lernen, sauber und ordentlich am Tisch zu essen.

Aber ist es wirklich eine Unart, wenn es sich so verhält, wie es sich verhält? Der Duden beschreibt eine Unart als „schlechte Angewohnheit, die sich besonders im Umgang mit anderen unangenehm bemerkbar macht“. Natürlich können sich schlechte Angewohnheiten bei Kindern einschleifen, oft durch entsprechende Vorbilder oder weil wir ein entsprechendes Verhalten nicht passend begleiten und Alternativen aufzeigen. Aber in den meisten Fällen ist das, was wir als „unartig“ bezeichnen, gar keine Unart, sondern ein ganz normales kindliches Verhalten, das die Neugier und Entdeckerlust des Kindes zeigt.

Nicht unartig, sondern wissbegierig

Schauen wir also genauer hin: Das Kleinkind, das in die Pfütze springt, übt sich in Motorik und bestaunt die hohen Spritzer, die vom Hüpfen entstehen. Das Kind, das den Becherinhalt in einen Teller gießt, experimentiert mit Volumen: Passt dieser Inhalt auch in eine andere Form? Schon der Schweizer Entwicklungspsychologe Jean Piaget hat dies im letzten Jahrhundert bei Kindern beobachtet. Und das kleine Kind, das eben noch nicht immer mit Messer und Gabel isst, muss die Nahrungsmitteln noch mit den Händen befühlen und hat Freude an der Feinmotorik. – Betrachten wir das kindliche Handeln aus dieser Sicht, ist das, was wir so schnell als Unart bezeichnen, eigentlich eine ganz wichtiger Teil der Entwicklung: Das Kind muss sich und die Welt kennenlernen, sich darin bewegen, Dinge ausprobieren und anfassen. Und durch dieses Handeln stößt es dann auch auf natürliche Grenzen – aber es ist wichtig, dass es viele Erfahrungen zunächst machen kann und nicht durch die Ermahnungen der Erwachsenen vom Entdecken abgehalten wird.

Aufmerksamkeit auf sich ziehen

Ja, neben der Neugier und dem Erforschen gibt es auch Kinder oder Situationen, in denen das Kind ganz bewusst etwas tut, das uns aufhorchen lässt, dass eine Antwort von uns einfordert. Aber auch hier ist das Kind nicht innerlich böse, sondern es fordert aus Gründen Aufmerksamkeit ein. Wenn ein Kind uns mit einem Verhalten herausfordert, das uns verärgert, macht der an das Kind gerichtete Wunsch, es solle jetzt damit aufhören, keinen Sinn. Denn vielleicht können wir das Verhalten des Kindes beenden, aber durch ein bloßes Einfordern eines Aufhörens oder gar der Androhung einer Strafe werden wir die Ursache dafür nicht beheben, dass das Kind sich so verhält, wie es sich verhält. Gerade dann, wenn wir keine Neugier und keinen Forscherdrang hinter dem Verhalten des Kindes vermuten, lohnt es sich, genauer hinzusehen und zu erkunden, woher dieses Verhalten rührt.

Eure

Zur Autorin:
Susanne Mierau ist Diplom-Pädagogin (Schwerpunkt Kleinkindpädagogik) und Familienbegleiterin. Sie arbeitete an der FU Berlin in Forschung und Lehre, bevor sie sich 2011 im Bereich bedürfnisorientierte Elternberatung selbständig machte. Ihr 2012 gegründetes Blog geborgen-wachsen.de und ihre Social Media Kanäle sind wichtige und viel genutzte freie Informationsportale für bedürfnisorientierte Elternschaft und kindliche Entwicklung. Susanne Mierau gibt Workshops für Eltern und Fachpersonal und spricht auf Konferenzen und Tagungen über kindliche Entwicklung, Elternschaft und Familienrollen.

Foto: Ronja Jung für geborgen-wachsen.de

Foto: Ronja Jung für geborgenwachsen.de

Die Frage ist nicht „Wann schläft das Kind?“ sondern „Warum denke ich, es würde wie ich schlafen?“

Mit dem Schlaf der Kinder haben es viele Eltern ein Problem – nicht nur im ersten Jahr, wenn sich das Baby langsam umgewöhnt von dem Erfahrungsraum im Uterus zu dem Leben in unserer Mitte und den Tag-Nacht-Rhythmus, sondern auch im zweiten Lebensjahr, wenn die Nächste noch immer unterbrochen sind, es schlechte Träume gibt, Zähne durchbrechen und die vielen Entwicklungen die Nachtruhe unruhiger werden lassen. Und selbst in den Jahren danach ist der Schlaf nicht immer ohne Unterbrechungen: auch da gibt es schlechte Träume oder den Nachtschreck, Angst vor Monstern oder Geistern unter dem Bett oder Wachstumsschmerzen.

Und die Eltern sind müde und erschöpft und denken sich so manches Mal: „Wann schläft das Kind denn nun endlich?“ oder „Kann es nicht einfach schlafen so wie ich?“ – Das Problem, das sich aber immer wieder auftut, ist das Unverständnis gegenüber den kindlichen Fähigkeiten und Bedürfnissen. Denn Kinder schlafen nicht aus bösem Willen heraus anders, wachen nachts nicht auf, um uns zu ärgern und kommen auch nicht ins Elternbett gekrabbelt, um uns aufzuwecken. Sie tun all das, was sie eben einfach Kinder sind und nicht anders können.

Was uns hilft in schlaflosen Zeiten

Was uns hilft in all den Jahren, in denen unser Schlaf anders ist als zuvor, in denen wir in Stundentakten aufwachen, oder nachts noch einmal aufstehen müssen, um ein Kind zur Toilette zu begleiten oder durch einen schrillen Kinderschrei aus dem Tiefschlaf gerissen werden, ist natürlich zunächst, dass wir darauf schauen, wie wir selbst genügend Schlaf bekommen können, indem wir uns mit einem anderen Elternteil die Zeiten und die Verantwortlichkeit aufteilen oder – sofern dies nicht möglich ist – tagsüber unseren Schlafbedarf decken können. Hilfe und Unterstützung sind in so vielen Situationen die ersten Maßnahmen, an die wir denken sollten.

Und im zweiten Schritt ist die Anpassung unseres Denkens wichtig: Wir denken so oft negativ von unseren Kindern. Oder denken, dass wir sie nur irgendwie dazu bewegen müssten, so zu schlafen, wie wir es tun. Wahrscheinlich haben wir einfach noch nicht den richtigen Trick gelesen! Oder das richtige Rezept gefunden! Es muss doch eines geben.

Die Wahrheit aber ist: Das wirkliche Geheimrezept ist es, zu verstehen, wie das Kind ist und was es braucht. Der Versuch der reinen Anpassung an unseren Erwachsenenschlaf führt in den meisten Fällen nicht zu Erfolg. Jedenfalls nicht ohne Verluste von Entspannung und Vertrauen, wenn wir das Kind unter Druck setzen und Dinge fordern, die es eigentlich noch nicht erbringen kann. Wir denken von unseren Kindern so oft als kleine Erwachsene, als Miniaturausgaben, die sich unserem Leben anpassen könnten/würden/müssten. Aber Kinder sind Kinder.

Es ist normal…

Es ist normal, dass ihr Schlaf noch anders ist als unserer. Es ist normal, dass sie Nähe brauchen von uns Erwachsenen, die ihnen Schutz und Wärme bieten in der Nacht. Es ist normal, dass sie Angst haben vor der Dunkelheit, denn sie wissen noch nicht, dass Nächte sicher sind und sie behütet hier bei uns schlafen können. Es ist normal, dass sie nachts aufwachen und unsere Nähe suchen, wenn ein Alptraum sie erschreckt hat und sie ihn nicht einordnen können. Es ist normal, dass sie manchmal eben doch nochmal Hunger oder Durst haben oder nochmal auf Toilette müssen, weil sie es noch nicht richtig einschätzen können. Es ist normal, dass sie eben einfach Kinder sind. Und wir ihre Eltern, die sie annehmen, schützen und behüten. – Und die auch wieder andere Nächte haben werden, wenn die Kinder soweit sind.

Eure

Zur Autorin:
Susanne Mierau ist Diplom-Pädagogin (Schwerpunkt Kleinkindpädagogik) und Familienbegleiterin. Sie arbeitete an der FU Berlin in Forschung und Lehre, bevor sie sich 2011 im Bereich bedürfnisorientierte Elternberatung selbständig machte. Ihr 2012 gegründetes Blog geborgen-wachsen.de und ihre Social Media Kanäle sind wichtige und viel genutzte freie Informationsportale für bedürfnisorientierte Elternschaft und kindliche Entwicklung. Susanne Mierau gibt Workshops für Eltern und Fachpersonal und spricht auf Konferenzen und Tagungen über kindliche Entwicklung, Elternschaft und Familienrollen.

Foto: Ronja Jung für geborgen-wachsen.de

Foto: Katja Vogt