Sind „unartige Kinder“ wirklich unartig?

So oft beschreiben Erwachsene das Verhalten eines Kleinkindes als unartig: Es ist unartig, wenn es frisch angezogen und sauber in eine Pfütze springt. Es ist unartig, wenn es den Inhalt der Tasse am Esstisch auf den Teller kippt und dieser dann überläuft. Es ist unartig, wenn es im Restaurant mit den Fingern essen will oder schreit. Aber hier verhält es sich ganz ähnlich wie mit der Benutzung des Wortes „Trotz“: Kinder sind nicht per se unartig, weil sie etwas tun, was wir nicht wollen oder unangemessen finden.

Ist das wirklich eine Unart?

Was wir oft als „unartig“ bezeichnen, ist ein Verhalten des Kindes, das gerade jetzt nicht zu unseren Plänen und Wünschen passt. Eigentlich wollten wir heute pünktlich sein, ein sauberes Kind beim Kindergarten abliefern, entspannt unsere Mahlzeit am Tisch einnehmen… Manchmal denken wir auch aufgrund der tief in uns verankerten Glaubenssätze, ein Kind solle sich nicht ständig schmutzig machen, denn es muss schließlich lernen, auch sauber zu bleiben. Und ebenso muss es doch irgendwann lernen, sauber und ordentlich am Tisch zu essen.

Aber ist es wirklich eine Unart, wenn es sich so verhält, wie es sich verhält? Der Duden beschreibt eine Unart als „schlechte Angewohnheit, die sich besonders im Umgang mit anderen unangenehm bemerkbar macht“. Natürlich können sich schlechte Angewohnheiten bei Kindern einschleifen, oft durch entsprechende Vorbilder oder weil wir ein entsprechendes Verhalten nicht passend begleiten und Alternativen aufzeigen. Aber in den meisten Fällen ist das, was wir als „unartig“ bezeichnen, gar keine Unart, sondern ein ganz normales kindliches Verhalten, das die Neugier und Entdeckerlust des Kindes zeigt.

Nicht unartig, sondern wissbegierig

Schauen wir also genauer hin: Das Kleinkind, das in die Pfütze springt, übt sich in Motorik und bestaunt die hohen Spritzer, die vom Hüpfen entstehen. Das Kind, das den Becherinhalt in einen Teller gießt, experimentiert mit Volumen: Passt dieser Inhalt auch in eine andere Form? Schon der Schweizer Entwicklungspsychologe Jean Piaget hat dies im letzten Jahrhundert bei Kindern beobachtet. Und das kleine Kind, das eben noch nicht immer mit Messer und Gabel isst, muss die Nahrungsmitteln noch mit den Händen befühlen und hat Freude an der Feinmotorik. – Betrachten wir das kindliche Handeln aus dieser Sicht, ist das, was wir so schnell als Unart bezeichnen, eigentlich eine ganz wichtiger Teil der Entwicklung: Das Kind muss sich und die Welt kennenlernen, sich darin bewegen, Dinge ausprobieren und anfassen. Und durch dieses Handeln stößt es dann auch auf natürliche Grenzen – aber es ist wichtig, dass es viele Erfahrungen zunächst machen kann und nicht durch die Ermahnungen der Erwachsenen vom Entdecken abgehalten wird.

Aufmerksamkeit auf sich ziehen

Ja, neben der Neugier und dem Erforschen gibt es auch Kinder oder Situationen, in denen das Kind ganz bewusst etwas tut, das uns aufhorchen lässt, dass eine Antwort von uns einfordert. Aber auch hier ist das Kind nicht innerlich böse, sondern es fordert aus Gründen Aufmerksamkeit ein. Wenn ein Kind uns mit einem Verhalten herausfordert, das uns verärgert, macht der an das Kind gerichtete Wunsch, es solle jetzt damit aufhören, keinen Sinn. Denn vielleicht können wir das Verhalten des Kindes beenden, aber durch ein bloßes Einfordern eines Aufhörens oder gar der Androhung einer Strafe werden wir die Ursache dafür nicht beheben, dass das Kind sich so verhält, wie es sich verhält. Gerade dann, wenn wir keine Neugier und keinen Forscherdrang hinter dem Verhalten des Kindes vermuten, lohnt es sich, genauer hinzusehen und zu erkunden, woher dieses Verhalten rührt.

Eure

Zur Autorin:
Susanne Mierau ist Diplom-Pädagogin (Schwerpunkt Kleinkindpädagogik) und Familienbegleiterin. Sie arbeitete an der FU Berlin in Forschung und Lehre, bevor sie sich 2011 im Bereich bedürfnisorientierte Elternberatung selbständig machte. Ihr 2012 gegründetes Blog geborgen-wachsen.de und ihre Social Media Kanäle sind wichtige und viel genutzte freie Informationsportale für bedürfnisorientierte Elternschaft und kindliche Entwicklung. Susanne Mierau gibt Workshops für Eltern und Fachpersonal und spricht auf Konferenzen und Tagungen über kindliche Entwicklung, Elternschaft und Familienrollen.

Foto: Ronja Jung für geborgen-wachsen.de

Foto: Ronja Jung für geborgenwachsen.de

6 Kommentare

  1. Leonie Baumgart

    Das liest sich schön und ist sicher gut gemeint. Das Kind mit Forscherimpuls und Experimentierlust muss jedoch lernen, das nicht zwingend überall auszuleben. Man nennt das „Erziehung“, die natürlich dem jeweiligen Alter entsprechen aussehen sollte. Alternativen anbieten ist gut, aber gewiss nicht am Restauranttisch!

    Kennen Sie diese Kinder, die in Restaurants völlig distanzlos andere Gäste „nerven“ – und die Eltern sitzen am Tisch und kümmern sich nicht?

    Auch beobachte ich Kinder, die sich „extra“ als Störer/innen aufführen, um die Aufmerksamkeit der jeweiligen Erwachsenen zu bekommen. Nachvollziehbar, aber gleiczeitig ist auch wahr, dass Mutter oder Vater sind nicht 100% ihrer Zeit mit dem Nachwuchs beschäftigen können und sollen. Kinder sollten auch lernen, mit sich selbst mal alleine zu sein, ohne ständig bespasst werden zu müssen. Sonst werden aus ihnen kleine Narzisten, die es später echt schwer haben, wenn sie mal nicht im Mittelpunkt stehen.

    • Ich verstehe die Punkte, die hier aufgeführt sind, aber ich frage mich, was der Kommentar mit dem Inhalt des Artikels zu tun hat. Natürlich haben Eltern Verantwortung. Und wenn das Kind scheinbar stört, beispielsweise am Restauranttisch, ist es eben der falsche Impuls, das Kind für sein normales Verhalten zu bestrafen, sondern es muss etwas am Setting geändert werden, wenn das Kind anscheinend im feinen Restaurant noch nicht lange durchhält. Dann bestellt man vielleicht lieber eine Pizza nach Hause, als fein essen zu gehen oder geht in ein Restaurant, in dem Menschen, die sich wie Sie darüber aufregen, eben nicht essen. Es tut mir sehr leid, dass Sie so negative Erfahrungen machen mussten, aber der Artikel erklärt nicht, dass alle Eltern ihre Kinder im Restaurant einfach machen lassen sollen, wie Sie es aufgrund Ihrer negativen Erfahrungen herausgelesen haben.

  2. Hallo und vielen Dank für diesen Blog!

    Das im Beitrag beschriebene Problem müssen wir z. B. noch mit Oma und Uroma ausdiskutieren. Wir sind ja der Meinung, wenn die Kinder eine neue Hose anhaben, dann ist das so – und wenn sie damit in die nächste Pfütze hüpfen… Pfützenhüpfen eben. 😉 Uromas sehen das irgendwie anders. 😉 Kurzum, der Beitrag hat mir ein bisschen Input gegeben, dahingehend, dass wir doch gar nicht so falsch mit der Ansicht liegen können. Das ist super!

    Ich wünsche im Übrigen viel Erfolg mit dem Blog!

    LG
    Velik

  3. Hallo,
    Sehr interessanter Bericht. Ich bin Oma und denke heute genauso, schön das ich heute die Muße dafür habe. Als Mutter mit im Sterben liegenden Verwandten, Arbeit und Finanzsorgen ist es mir nicht immer gelungen. Oft denke ich darüber nach das es manchmal nicht einfach war für meine Kids wenn an einigen Tagen die Zündschnur kurz war. Such ich musste mir von den älteren oft anhören das sie nur mal einen auf den Hintern bräuchten. Gar nicht einfach da auf Linie zu bleiben. Ich hab da Verständnis wenns mal nicht optimal läuft. Bleibt am Ball, der Weg lohnt sich. Omas sollten Elternauszeiten bieten wenn sie können und man kann täglich neu starten und etwas tolles gemeinsames planen, das hilft meist.
    Liebe Grüsse
    Renate

  4. Vieles erkennt man erst, wenn man selbst Mutter ist, was die Eltern durch gemacht haben. Jede Generation hat einen anderen erziehungsstil. Ich weiß aber auch, dass Kinder ganz bestimmte Stufen durchlaufen müssen, dass das Gehirn beansprucht wird. Wenn man auch manches leid mit den Kindern durchlebt hat, es gibt auch ganz viele Freud. Es ist eine schöne Zeit die ich nicht missen möchte.

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