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Aggressionen bei Kleinkindern verstehen und begleiten

Wenn das eigene Kind aggressives Verhalten zeigt, ist das für Eltern oft schwierig: Sie denken, dass andere sie selbst verurteilen und als schlechte Eltern betrachten, dass andere Menschen das Kind negativ betrachten und in eine gedankliche Schublade stecken oder schließen sich selbst der Angst an, dass das Kind ein negatives Verhalten entwickelt mit weitreichenden Folgen. Die Folge dieser Denkmuster ist oft, dass versucht wird, das Verhalten des Kindes zu stoppen, dabei aber die Ursachen nicht in den Blick genommen werden und auch kein Ausweg aufgezeigt wird, wie mit dem eigentlichen Gefühl, das dahinter steht, umgegangen werden kann.

Kindliche Aggression ist weniger schlimm als ihr Ruf

Dabei ist zunächst einmal wichtig zu betrachten, dass kindliche Aggression weniger schlimm ist als ihr Ruf: Nur weil das Kleinkind Wut durch Aggression äußert, bedeutet es noch lange nicht, dass generell etwas mit der Erziehung nicht stimmen würde oder dem Kind. Zunächst einmal ist es völlig normal, dass Kleinkinder ihre Empfindungen wie Wut, Frustration, Enttäuschung, Ekel, Abwehr und anderes stark von sich weisen. Eigentlich sogar ist Aggression ein wichtiger Aspekt unseres menschlichen Erlebens, weil sie uns Kraft gibt, um Grenzen zu setzen, für uns selbst einzustehen oder auch für andere. Sie ist ein Teil unseres Schutzsystems.

Das Kleinkind denkt noch nicht wie wir Erwachsene über Gefühle und Handlungen nach, sondern handelt impulsiv. Das ist sinnvoll, da das Kind noch nicht über ausreichende Erfahrungen verfügt, um Situationen miteinander zu vergleichen und abzuwägen.

Susanne Mierau, Geborgene Kindheit, S. 124

Durchaus gibt es Kinder, die aggressiver sind als andere, was u.a. genetisch bedingt sein kann. Die Neurobiologin Dr. Nicole Strüber (2019) erklärt, wie sich diese genetische Disposition negativ auf Beziehungen und auch auf die ersten Bindungen auswirken kann. Doch gerade Kinder, die ein stärker aggressives Verhalten zeigen, brauchen ein feinfühliges Begleiten, um ihren Stress zu mindern und Handlungsstrategien zu lernen, um mit ihren Impulsen gut umgehen zu können.

Aggression als Schutzstrategie für Grenzen und Zuwendung

Auch Kleinkindern dient Aggression als Schutz: Als Schutz nach außen, um eine Grenze zu ziehen, wenn sie ihre Grenze bedroht fühlen, aber auch als Schutz nach Innen, wenn Aggression als Ausdruck benutzt wird, um etwas einzufordern wie beispielsweise elterliche Aufmerksamkeit oder Verbindung auf andere Art und Weise, beispielsweise auch mit anderen Kindern. Manchmal fehlen Kleinkindern noch Worte und Handlungsideen, wie sie ihre Bedürfnisse umsetzen können – sowohl beim Kind, das zubeißt, um sich wehren, als auch beim Kind, das zubeißt, weil es in Kontakt treten will.

Wir können darauf achten, dass unser Kind sich und andere nicht verletzt. Wir können versuchen, seine Gefühle durch unseren körperlichen Ausdruck zu spiegeln. Wir können unserem Kind aufrgund des Wissens, was ihm hilft und was es mag, eine sanfte Unterstützung sein und dabei helfen, aus der Wut herauszukommen, denn das ist für viele Kinder im Vorschulalter noch sehr schwierig. Und wir können unser Kind danach in die Arme nehmen und darüber sprechen.

Susanne Mierau, Geborgene Kindheit, S. 125

Verständnis entwickeln

Die bedeutsamen Fragen sind also auch hier wieder: Welche Absicht, welches Gefühl, welches Bedürfnis steht hinter dem Verhalten meines Kindes? Will es sich gerade abgrenzen? Wenn ja, warum und wovon? Oder will es in Verbindung treten? Wenn ja, mit wem und warum? Von diesem Punkt aus können wir dann überlegen, welche Impulse wir für die Begleitung anbieten: Wir können in die Situation in Worte fassen und dann Ideen anbieten, wie auch gehandelt werden kann. Der sozial akzeptierte Ausdruck von Gefühlen wird über viele Jahre erlernt anhand von Vorbildern und durch die Begleitung durch die nahen Bezugspersonen. Kleinkinder beginnen gerade erst damit, ihr Handlungsrepertoire auszubauen und die vielen Möglichkeiten zu verinnerlichen, wie mit bestimmten Empfindungen umgegangen werden kann. Statt ihnen nur zu sagen, was sie nicht tun sollen und sie dann mit ihrem Empfinden allein zu lassen, brauchen sie ihre nahen Bezugspersonen, die ihnen das eigene Empfinden erklären, ihm einen Namen geben und aufzeigen, wie sie damit umgehen können. Lehnen wir nur ihr Verhalten ab, kann das Kind das nicht verstehen und bezieht die Ablehnung auf sich als Mensch: Ich darf so nicht sein, mit diesem Gefühl werde nicht akzeptiert, ich muss sie verstecken, um von den nahen Bezugspersonen geliebt zu werden.

Besonders bedeutsam ist es also, das aggressive Verhalten des Kindes nicht falsch zu interpretieren: Es ist kein Machtspiel, es stellt uns nicht infrage. Es ist nicht zwangsweise ein Ausdruck für schlechtes Erziehungsverhalten und will uns deswegen nicht beschämen vor anderen. Es ist bedeutsam, genau hinzusehen, die eigentliche Absicht des Kindes zu ergründen und dann zielgerichtet darauf zu handeln, damit das Kind wirklich lernen kann, immer besser mit den eigenen Impulsen umzugehen.

Eure

Zur Autorin:
Susanne Mierau ist Diplom-Pädagogin (Schwerpunkt Kleinkindpädagogik) und Familienbegleiterin. Sie arbeitete an der FU Berlin in Forschung und Lehre, bevor sie sich 2011 im Bereich bedürfnisorientierte Elternberatung selbständig machte. Ihr 2012 gegründetes Blog geborgen-wachsen.de und ihre Social Media Kanäle sind wichtige und viel genutzte freie Informationsportale für bedürfnisorientierte Elternschaft und tragen seit über 10 Jahren maßgeblich zur Verbreitung bedürfnisorientierter Erziehung bei. Susanne Mierau gibt Workshops für Eltern und Fachpersonal und spricht auf Konferenzen und Tagungen über kindliche Entwicklung, Elternschaft und Familienrollen.

Foto: Ronja Jung für geborgen-wachsen.de

„Wie redest du denn mit mir?“ – Wenn Kinder unfreundlich sind

Über viele Jahre hinweg lernen Kinder, sich in dieser Welt sicher zu bewegen: Sie lernen ihren Körper kennen, lernen sich fortzubewegen, zu sprechen, mit anderen zu interagieren. Dabei lernen sie auch, ihre Gefühle zunehmend sprachlich auszudrücken und wie sie mit Schimpfworten umgehen können oder sollten. Neben den Schimpfworten treten manchmal aber auch andere sprachliche Verhaltensweisen auf, die wir nicht stehen lassen wollen, beispielsweise wenn das Kind unfreundlich mit uns oder anderen spricht, etwas einfordert oder etwas nicht tun will. Wir fühlen uns angegriffen von den Worten, auch wenn es keine direkten Schimpfworte sind.

Unfreundliches Verhalten von Kindern ist oft kein Angriff

Als Erwachsene bewerten wir ein unfreundliches Verhalten von jungen Kindern oft als Angriff. Ein „Mach das doch selbst!“, „Ich will nicht mit zu der blöden Feier!“, „Hol du das doch!“ oder „Du bist echt immer so nervig!“ sehen wir schnell als Angriff: ein Machtspiel! Schnell reagieren wir dann auf genau diese Interpretation und versuchen, die Positionen wieder in der gewohnten Ordnung aufzustellen. „So lass ich nicht mit mir reden!“, „Du spinnst ja wohl!“, „Wenn du nicht freundlich bist, dann…“, „Geh auf dein Zimmer!“ Oft reagiert das Kind auf diese Anwtort dann mit Gegenwehr und der Konflikt eskaliert.

Deine Grenzen benennen ist wichtig…

Natürlich ist es wichtig, dass die eigenen Grenzen benannt werden. Das Kind darf und soll lernen, dass bestimmte Ausdrucksformen sozial nicht verträglich sind. Diese Grenze zu setzen, ist wichtig für den Elternteil selbst, damit du dich ausreichend geschützt und psychisch nicht angegriffen fühlst, aber auch wichtig für dein Kind, denn es darf und sollte lernen, wie innerhalb seiner sozialen Gruppe kommuniziert wird, damit es gute Beziehungen aufbauen kann – zu dir als Elternteil, aber auch zu anderen Menschen.

… und auch das Verstehen der Bedeutung hinter den Worten

Gleichzeitig ist es aber auch wichtig, in den Blick zu nehmen, was dein Kind da eigentlich ausdrücken möchte. Dass es so unfreundlich wird, ist in der Regel kein Angriff, sondern ein noch ungeschickter Versuch, ein Bedürfnis mitzuteilen. Wenn wir harsch auf die Art, aber nicht auf den eigentlichen Anlass reagieren, führt das zu einem Konflikt: Wir reden/streiten eigentlich aneinander vorbei und das Kind fühlt sich von uns nicht verstanden und lernt auch nicht, eigene Wünsche und Bedürfnisse anders auszudrücken. Hilfreicher ist es deswegen, einen Moment innezuhalten und zu überlegen, was das eigentliche Problem hinter diesem Verhalten sein könnte. Diesen Moment der Selbstberuhigung und Überlegung können wir uns durchaus gönnen, wenn das Kind gerade etwas gesagt hat, das wir als unfreundlich empfinden.

„Das Kind wird nicht gleich zum Tyrannen, bloß weil wir erst mal tief durchatmen. […] Wenn wir uns nicht gezwungen sehen, sofort zu handeln, wird das Kind nicht sofort in eine Gegenwehr gehen müssen. Wir dürfen uns erlauben, uns Zeit zu nehmen! Und dann im nächsten Moment bewusst und überlegt zu reagieren. „

S. Mierau „Frei und unverbogen“, S. 178f.

Wir können sowohl eine Grenze ziehen, als auch auf das Kind reagieren. Die Grenze, die wir ziehen, ist einerseits eine Grenze für uns selbst, aber auch eine Hilfe zur Ausbildung sozialer Fähigkeiten für das Kind. „Das war ziemlich unfreundlich ausgedrückt und verletzt mich. Ich sehe, dass du gerade viel Spaß hast beim Spielen und das Geschirr nicht in die Küche bringen möchtest. Das kannst du mir so sagen, wenn das der Grund ist, warum du nicht helfen möchtest. Dann bring es bitte, wenn du fertig bist.“, „Ich höre, dass du zum Schulfest deines Bruders wirklich nicht mitmöchtest. Lass uns darüber reden, was du stattdessen machen möchtest oder warum du dort nicht hin möchtest. Ich denke, es hat ihn verletzt, dass du das so gesagt hast und es würde ihm gut tun, wenn wir ihm das genauer erklären könnten.“, „Ich möchte nicht, dass du so mit mir redest, weil mich das verletzt. Aber du kannst mir gerne sagen, was dich gerade an meinem Verhalten stört. So finden wir bestimmt eine Lösung.“

Unsere Aufgabe als Eltern ist es, den Konflikt durch die eigene Wut, die vielleicht aufsteigt, nicht weiter eskalieren zu lassen, sondern zu einer Lösung beizutragen. Nicht immer reagiert das Kind sofort versöhnlich auf unser Angebot zum Gespräch. Aber auch dann ist es sinnvoll, eher eine Beruhigung zu erwirken, als den Streit weiter aufzuladen. Wenn das Kind auf das Gesprächsangebot nicht eingeht, können wir abwarten, ob sich das Kind doch noch öffnen will oder das Gespräch vertagen. Zuvor haben wir benannt, was wir nicht wünschen und formuliert, dass es gut ist, über das eigentliche Problem zu sprechen. So haben wir dem Gespräch bereits eine andere Wendung gegeben, als wenn wir der Fehlinterpretation nachgegangen wären.

Eure

Zur Autorin:
Susanne Mierau ist Diplom-Pädagogin (Schwerpunkt Kleinkindpädagogik) und Familienbegleiterin. Sie arbeitete an der FU Berlin in Forschung und Lehre, bevor sie sich 2011 im Bereich bedürfnisorientierte Elternberatung selbständig machte. Ihr 2012 gegründetes Blog geborgen-wachsen.de und ihre Social Media Kanäle sind wichtige und viel genutzte freie Informationsportale für bedürfnisorientierte Elternschaft und tragen seit über 10 Jahren maßgeblich zur Verbreitung bedürfnisorientierter Erziehung bei. Susanne Mierau gibt Workshops für Eltern und Fachpersonal und spricht auf Konferenzen und Tagungen über kindliche Entwicklung, Elternschaft und Familienrollen.

Foto: Ronja Jung für geborgen-wachsen.de

Selbstwirksamkeit fördern durch einen guten Umgang mit Frustration

Viele Erwachsene kennen die Aussage der Kinderbuchheldin Pippi Langstrumpf „Das hab ich ja noch nie gemacht. Ich glaub ich schaffe das !“ Eine Aussage, die Erwachsene lächeln lässt und sicherlich auch zugespitzt ist, aber dennoch für die Begleitung von Kindern einen wichtigen Impuls enthält: Kinder dürfen erfahren, dass sie in dieser Welt selbst wirksam sein können und sich auf Basis dieses verinnerlichten Wissens an Herausforderungen herantrauen. Der Weg dorthin geht aber wesentlich auch durch einen guten Umgang mit Frustration.

Was lernt ein Kind, wenn wir es Hindernisse überwinden lassen? Es lernt, dass es Hindernisse überwinden kann. Selbstwirksamkeit ist eine der wesentliche Eigenschaften, die ein Kind wirklich braucht. Es muss wissen, dass es ein Ziel, das es sich steckt, auch erreichen kann. Es lernt, über welche Wege es an sein Ziel kommen kann, und vertraut auf sich und seine Fähigkeiten. Die Einschätzung der Situation ermöglicht es ihm, seine Chancen abzuklären und sich richtig auf das Vorankommen vorzubereiten: Es weiß, was es kann und bei welchen Dingen es Hilfe braucht.

Susanne Mierau: Geborgene Kindheit

Lernen beinhaltet auch Frustration, die begleitet werden will

Kinder lernen nach und nach sich selbst und die sie umgebende Welt kennen. Sie eignen sich das Wissen über sich selbst, ihr Können und die Umwelt an. Einige Lernerfahrungen bekommen wir gar nicht als solche mit, bei anderen spüren wie die Anstrengung des Kindes. Lernt es beispielsweise Laufen, fällt es auch hin. Es läuft nicht sofort viele Meter weit, sondern baut das Können aus. Dabei muss es immer wieder auch Frustration überwinden.

Viele Eltern denken, dass das Lernen eine steigende Gerade wäre, dabei gehört zum Lernen auch Frustration, die ausgehalten und begleitet werden muss. Wenn eine Fähigkeit nicht sofort gelingt, bedeutet das nicht, dass das Kind das generell nicht kann, sondern dass es sich damit auseinandersetzt. Es ist wichtig, dies Kindern auch immer wieder zu erklären: Lernen bedeutet nicht, dass du es sofort kannst. Lernen bedeutet, dass du eine Antwort noch nicht weißt, dass du etwas noch nicht kannst, aber auf dem Weg bist.

Das Mindset der Eltern überträgt sich auf die Motivation des Kindes: Wenn wir selbst nur von Resultaten überzeugt sind, wenn uns nur das Ergebnis interessiert, drücken wir das oft auch so aus und unterstützen nicht den Weg des Kindes dorthin, sondern nur das Ziel. Dabei ist es für das Kind wichtig, dass es gerade in der Herausforderung Halt bekommt und nicht erst am erlangten Ziel Lob. Anstatt also den Fokus auf das Ergebnis zu richten, können Eltern den Prozess in den Blick nehmen, das Kind ermutigen, bestärken und eben auch immer wieder versprachlichen, dass Dinge Zeit brauchen und manchmal viel Energie benötigen. Auch das Vorbildverhalten gelangt hier in den Blick: Wir können auch bei unserem eigenen Tun versprachlichen, dass das gerade ganz schön anstrengend ist und wie wir mit unserer eigenen, alltäglichen Frustration gut umgehen. So wird Frustration Teil des Prozesses anstatt als Scheitern erlebt zu werden.

Der Umgang mit großen Gefühlen

Auf dem Weg des Lernens gilt es also, mit Frustration umzugehen. Hier benötigen Kinder – wie generell beim Umgang mit ihren Gefühlen – Unterstützung und Co-Regulation. Kinder müssen erfahren, dass Frustration und Wut sein dürfen und wie sie damit umgehen können. So verstehen sie, dass diese Gefühle nicht negativ sind und sein dürfen – auch innerhalb des Lernprozesses. Es ist gut, die Gefühle des Kindes zu verbalisieren, sie anzunehmen und ihnen dann zu helfen, damit umzugehen, zum Beispiel indem wir sagen: „Oh, das ist ganz schön schwierig, das macht dich wütend, dass das jetzt noch nicht klappt. Komm wir nehmen uns eine kleine Pause und du machst später weiter. Es ist normal, dass Sachen nicht sofort klappen. So funktioniert lernen.“

Freiheit zum Erkunden

Ein angemessener Umgang mit Frustration sollte eingebettet werden in die generelle Haltung, dass das Kind sich aktiv mit sich selbst und seiner Umgebung vertraut machen darf. Das Kind lernt die Welt kennen, indem es sich darin bewegt und mit ihr interagiert. Es darf erfahren, dass es die Umwelt durch das eigene Handeln verändern kann. Es fühlt sich kompetent durch die Erfahrung, die Welt beeinflussen zu können und kann aus dieser Erfahrung zuversichtlich auf neue Herausforderungen zugehen. Die Herausforderungen, die das Kind angeht, sollten dabei in der Komplexität und Schwierigkeit dem aktuellen Entwicklungsstand angemessen sein: nicht zu leicht, nicht zu schwer, sondern gerade so, dass sie tatsächlich zu bewältigen sind mit etwas Anstrengung. Durch das Erlernen eines guten Umgangs mit Frustration kann so auch eine herausfordernde Tätigkeit umgesetzt werden.

Eure

Zur Autorin:
Susanne Mierau ist Diplom-Pädagogin (Schwerpunkt Kleinkindpädagogik) und Familienbegleiterin. Sie arbeitete an der FU Berlin in Forschung und Lehre, bevor sie sich 2011 im Bereich bedürfnisorientierte Elternberatung selbständig machte. Ihr 2012 gegründetes Blog geborgen-wachsen.de und ihre Social Media Kanäle sind wichtige und viel genutzte freie Informationsportale für bedürfnisorientierte Elternschaft und tragen seit über 10 Jahren maßgeblich zur Verbreitung bedürfnisorientierter Erziehung bei. Susanne Mierau gibt Workshops für Eltern und Fachpersonal und spricht auf Konferenzen und Tagungen über kindliche Entwicklung, Elternschaft und Familienrollen.

Foto: Ronja Jung für geborgen-wachsen.de

Der Gender-Sleep-Gap – Jede Mutter kann schlafen lernen

Babys, Kinder und Teenager schlafen anders als Erwachsene. Glücklicherweise hat sich in den vergangenen Jahren immer mehr das Wissen durchgesetzt, dass dieser andere Schlaf von jungen Menschen kein Fehler ist, sondern aus Sicht der Entwicklung durchaus sinnvoll. Gleichzeitig stellt sich aber noch immer die Frage: Wenn mein Kind richtig schläft, so wie es schläft, wie soll ich dann ausreichend Schlaf finden? Gerade dann, wenn das Baby oder Kleinkind nachts noch Nahrung benötigt oder Schwierigkeiten hat, nach dem (normalen) Aufwachen zwischen den Schlafphasen schnell wieder in den Schlaf zu finden? Bedeutet das nicht zwangsweise, dass Eltern anders schlafen müssen? Tatsächlich benötigen viele Kinder ihre Bezugspersonen nachts zur Regulation und Begleitung. Allerdings sprechen und denken wir in Bezug auf das nächtliche Begleiten eben nicht von Eltern, sondern von Müttern.

Die Schlaflücke – Wie groß der Gender-Sleep-Gap wirklich ist

Mütter begleiten insbesondere in den Schlaf und rund um den Schlaf – wie sie auch sonst mehr Care-Arbeit übernehmen. Laut einer Studie des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung ist der Schlaf von Eltern innerhalb der ersten sechs Jahre nach der Geburt des ersten Kindes in seiner Qualität und Dauer beeinträchtigt – Mütter schlafen hierzulande in den ersten drei Monaten nach der Geburt durchschnittlich eine Stunde weniger, Väter 15 Minuten weniger. Dieser Differenz im Umsorgen des Schlafes passt sich ein den bestehenden Gender-Care-Gap:

Die Sorgelücke betrug im Jahr 2019 (trotz allgemeiner Verringerung seit dem Jahr 1992) noch immer 52,4 Prozent: Frauen wenden täglich 52,4 Prozent mehr Zeit für unbezahlte Sorgearbeit als Männer auf. Hierbei muss aber noch einmal genauer nach Alter und Lebenssituation differenziert werden: In der Altersgruppe der 34jährigen beträgt der Gender-Care-Gap sogar 110,6 Prozent. Frauen dieser Altersgruppe verbringen pro Tag durchschnittlich 5 Stunden und 18 Minuten mit Care-Arbeit, während Männer 2 Stunden und 31 Minuten damit verbringen. Besonders viel Care-Arbeit fällt in Haushalten mit Kindern an. Hier verrichten Mütter 2 Stunden und 30 Minuten mehr Care-Arbeit als Väter.

Susanne Mierau „Füreinander sorgen“ (2023, S.59)

Sind Mütter bessere Versorgerinnen nachts?

Kinder brauchen nächtliche Fürsorge und sie muss von ihren nahen Bezugspersonen geleistet werden. Doch das nächtliche Umsorgen muss keinesfalls ausschließlich durch ein Elternteil erfolgen und ist nicht an ein Geschlecht gebunden.

Die israelische Psychologin und Hirnforscherin Ruth Feldman hat festgestellt, dass Mütter in der Regel mit einer geöffneten Amygdala schlafen (die Region im Gehirn, die u.a. für Gefühle verantwortlich ist und potenzielle Gefahren analysiert): Hierdurch sind sie für die Signale des Babys auch während des Schlafs zugänglich ist. Diese Aktivierung bleibt auch nach der Babyzeit bestehen. Väter hingegen können mit einem geschlossenen Mandelkern schlafen, weil sie wissen, dass die Mutter sich kümmern wird. Ist allerdings ein Vater eine Hauptbezugsperson, wird bei diesem der Mandelkern aktiviert. Es ist also – wie generell bei der Care-Arbeit – keine Frage des Geschlechts, sondern der Zuständigkeit und der Verantwortlichkeit. Das Umsorgen von Babys und Kindern wird gelernt und braucht aktives Tun.

Folgen des Schlafmangels für Mütter

Dass nun Mütter besonders für die nächtliche Care-Arbeit zuständig sind, bleibt nicht folgenlos. Wir haben bereits gesehen, dass die Zeitmenge des Schlafdefizits durchaus beträchtlich ist. In der Regel können wir kurzfristig mit weniger oder keinem Schlaf ohne große Schäden davonkommen und der in der Elternschaft erlebte Schlafmangel muss nicht zwangsweise zu Problemen führen, aber langfristig oder in Kombination mit vorher oder nachher (wenn sich Schlafstörungen durch diese Zeit und nächtliche Begleitung entwickeln) bestehenden Schlafstörungen kann er sich auf unser körperliches und psychisches Wohlergehen auswirken: das Immunsystem, unser Gehirn, psychische Erkrankungen und unsere Emotionen.

Schlafmangel macht uns launischer, gereizter und nervöser. Damit einher geht, dass sich unser Blick auf die Welt verändert, da sich Menschen mit Schlafstörungen besser an negative Erlebnisse erinnern als an positive. Gerade in der Elternschaft ist das eine sehr ungünstige Auswirkung von Schlafmangel, wenn sich der Blick auf das Erleben, aber auch auf das Kind, negativ eintrübt und nur noch die schlechten Seiten betrachtet werden und kein ressourcenorientierter, wohlwollender Blick mehr möglich ist. Hinzu kommt vielleicht noch das abendliche oder nächtliche Grübeln, wenn ein Ein- oder Durchschlafproblem vorliegt.

Susanne Mierau (2024): Das Schlafbuch für die ganze Familie, S.58

Gerade Menschen, die in der Verantwortung stehen, sich mit Feinfühligkeit um andere kümmern zu müssen, brauchen Schlaf, um Signale zu bemerken und angemessen darauf reagieren zu können, brauchen Kraft für die vielen Handgriffe des Tages und die Begleitung von Emotionen des Kindes und Regulation der eigenen.

Starke Gefühle wie Zorn, Wut, Kampf-oder-Flucht wurden bei den Personen mit Schlafmangel um über 60 Prozent verstärkt, während die ausgeschlafenen Personen kontrollierter und gemäßigter reagierten. Vielleicht kommt es in Bezug auf das gewaltfreie Begleiten von Kindern also viel mehr darauf an, dass wir ausgeschlafen sein können, als uns bisher bewusst war.

Susanne Mierau (2024): Das Schlafbuch für die ganze Familie, S.65

Doch nicht nur in Bezug auf die Begleitung der Kinder und das psychische und physische Wohlergehen ist der Schlafmangel der Mütter problematisch. Schließlich wird neben all dem Umsorgen, der täglichen und nächtlichen Care-Arbeit auch Leistung in der Erwerbsarbeit erwartet.

Frauen verdienen weniger, erhalten weniger Rente, kümmern sich mehr unbezahlt um andere. Dass sie all dies auch noch trotz Schlafmangels tun, dass sich dieser Schlafmangel auch noch negativ auf ihre Karrierechancen und Erwerbsarbeit auswirkt, wird nicht bedacht. Der Gender-Sleep-Gap ist hierzulande noch recht unbekannt. Dass wir uns müde weniger politisch engagieren können und damit weniger Kraft haben, um etwas an unserer Situation zu verändern, setzt all dem noch die Krone auf.

Susanne Mierau (2024): Das Schlafbuch für die ganze Familie, S.265

Wie kann jede Mutter schlafen lernen?

Wir brauchen also zweifellos politische Lösungen und gesamtgesellschaftliche Lösungen, um das Problem der schlaflosen Mütter anzugehen. Wir müssen darüber reden, wie es uns geht, warum wir müde sind und aufhören, diese Müdigkeit als Selbstverständlichkeit für Mütter hinzustellen. Nur weil es der Norm entspricht, ist es nicht richtig oder gesund.

Innerhalb von Familien brauchen wir mehr Schlafgerechtigkeit. Nicht nur die erwerbsarbeitende Person braucht ausreichend Schlaf, sondern auch carearbeitende brauchen Schlaf. „Du bist ja nur zu Hause, dann kannst du dich nachts ja um das Kind kümmern!“ sollte wirklich kein Argument sein, um einer Person den Schlafmangel zuzuschieben. Und ja: Es ist möglich, sich den Schlaf aufzuteilen und Care-Arbeiten umzuschichten, damit sich der nachts betreuende Elternteil wenigstens tagsüber mehr ausruhen kann. Gerade auch für Alleinerziehende braucht es mehr Unterstützung und Ressourcen, um Schlafmangel aufzufangen. Das wichtigste ist aber zuerst: Dass wir auch hier benennen, dass es einen ungerechten Unterschied gibt und dass dieser behoben werden muss.

Zur Autorin:
Susanne Mierau ist Diplom-Pädagogin (Schwerpunkt Kleinkindpädagogik) und Familienbegleiterin. Sie arbeitete an der FU Berlin in Forschung und Lehre, bevor sie sich 2011 im Bereich bedürfnisorientierte Elternberatung selbständig machte. Ihr 2012 gegründetes Blog geborgen-wachsen.de und ihre Social Media Kanäle sind wichtige und viel genutzte freie Informationsportale für bedürfnisorientierte Elternschaft und kindliche Entwicklung. Susanne Mierau gibt Workshops für Eltern und Fachpersonal und spricht auf Konferenzen und Tagungen über kindliche Entwicklung, Elternschaft und Familienrollen.

Foto: Ronja Jung für geborgen-wachsen.de

Wie Kinder lernen, Dinge zu teilen

Das Teilen ist ein positiver Wert, den viele Eltern in ihren Kindern verinnerlichen wollen. Dieser Wert erscheint so wichtig, dass Eltern manchmal beschämt sind, wenn das eigene Kind jetzt gerade nicht teilen möchte. So wird das Kind dazu gedrängt, „jetzt doch mal was abzugeben“ oder „auch nett zum anderen Kind“ zu sein. Es wird sich beim Gegenüber entschuldigt, wenn das Kind trotz Druck einfach nicht zum Teilen bewegt werden kann. Manchmal wird sogar in oder nach der erfolglosen Teil-Situation mit dem Kind geschimpft. Aber ist das ein guter Weg, um Kinder zum Teilen zu bringen?

Teilen ist weiterhin wichtig für Menschen

Das Teilen ist ein wichtiger Bestandteil unseres menschlichen Seins, da sich unser Mensch-Sein im Miteinander und gegenseitiger Unterstützung ausgebildet hat: Erst durch das Zusammenarbeiten von Menschen und gegenseitige Unterstützung ist es dem Menschen gelungen, sich über die ganze Welt auszubreiten und Regeln für das Zusammenleben zu gestalten, die eine Gemeinschaft stützen und schützen. Dass wir also auch weiterhin das Teilen und Kooperation als wichtige Werte einschätzen, die an die folgende Generation weitergeben werden sollen, ist verständlich. Doch der Weg dorthin führt nicht über Strenge und das Einfordern von Freundlichkeit, sondern über empathische Zuwendung und Vorbild.

Soziales Verhalten entwickelt sich über die Zeit und wird mit zunehmendem Alter komplexer. Etwa im zweiten Lebensjahr zeigen Kinder bereits ein erstes soziales Verhalten, wie verschiedene Studien zeigen, indem sie anderen helfen, andere unterstützen, teilen und kooperieren – allerdings ist dieses noch recht spezifisch ausgerichtet und nicht allgemein. Für die Ausbildung eines umfassend sozialen Verhaltens sind vielfältige soziale und emotionale Erfahrungen wichtig.

Kein Druck, sondern Einfühlung

Wesentlich für das Teilen ist die Entwicklung von Empathie. Kinder brauchen ihre nahen Bezugspersonen, um sie mit der Gefühlswelt des Gegenüber vertraut zu machen. Das bedeutet, zusammen mit dem Kind darüber zu sprechen: „Wie fühlt sich das andere Kind?“, „Wie fühlt es sich, wenn du mit dem Kind teilst?“ Auch Kinderbücher können eine gute Möglichkeit sein, um über Gefühl und gegenseitige Unterstützung zu sprechen „Was fühlt das Kind im Buch? Warum fühlt es sich so?“ In zwei Untersuchungen mit kleiner Stichprobengröße an Kleinkindern und ihren Eltern konnte gezeigt werden, dass Kleinkinder sich sozialer verhielten, wenn Eltern mit ihnen über die Gefühle der Personen in Kinderbüchern sprachen und sie anregten, selbst über die Gefühle anderer nachzudenken.

Auch in sozialen Alltagssituationen ist es bedeutsam, Kindern nicht nur zu erklären, wie andere sich fühlen, sondern sie zur Reflexion anzuregen: Wie fühlen sich andere Menschen? Woran erkennt das Kind, dass der andere Mensch so fühlt? Wie lässt sich dieses Empfinden verändern?

Vorbild sein

Neben aller Begleitung und Anregung kommt es auch bei der Entwicklung sozialen Verhaltens und des Teilens darauf an, wie sich die nahen Bezugspersonen selbst verhalten und welches Vorbildverhalten sie zeigen: Wann kann das Kind die Bezugspersonen beim Teilen beobachten? Wie reagieren die Erwachsenen darauf, wenn von ihnen das Teilen eingefordert wird durch andere, beispielsweise am Familientisch oder in der Öffentlichkeit? Wie verhalten sich die Eltern untereinander, aber auch gegenüber den eigenen Kindern in Bezug auf das Teilen? Gibt es Rituale des Teilens, die das Kind bei den Erwachsenen erlebt, beispielsweise wenn Kleidung gespendet wird oder wird thematisiert, dass die Familie an gemeinnützige Einrichtungen spendet?

Wie in allen anderen Bereichen der kindlichen Entwicklung sollte auch bei der Entwicklung des Sozialverhaltens und des Teilens nicht mit Druck und Strafen gearbeitet werden. Vielmehr sollte die emotionale Entwicklung unterstützt werden durch Gespräche über die eigenen und fremde Gefühle, sowie ein gutes Vorbildverhalten.

Eure

Zur Autorin:
Susanne Mierau ist Diplom-Pädagogin (Schwerpunkt Kleinkindpädagogik) und Familienbegleiterin. Sie arbeitete an der FU Berlin in Forschung und Lehre, bevor sie sich 2011 im Bereich bedürfnisorientierte Elternberatung selbständig machte. Ihr 2012 gegründetes Blog geborgen-wachsen.de und ihre Social Media Kanäle sind wichtige und viel genutzte freie Informationsportale für bedürfnisorientierte Elternschaft und kindliche Entwicklung. Susanne Mierau gibt Workshops für Eltern und Fachpersonal und spricht auf Konferenzen und Tagungen über kindliche Entwicklung, Elternschaft und Familienrollen.

Foto: Ronja Jung für geborgen-wachsen.de

Können Kinder zu viel Spielzeug haben?

Eigentlich erscheint der Gedanke doch logisch: Je mehr Spielzeug Kinder haben, desto besser sollten sie sich doch allein beschäftigen können und desto eher lernen sie, wie die Welt funktioniert? Nicht selten denken Eltern deswegen, dass sie vielleicht noch dieses oder jenes Spielzeug kaufen sollten, damit das Kind dann endlich besser allein spielen kann, sich intensiver beschäftigt, besser gefördert wird. Vielleicht ist die Auswahl doch einfach zu klein und das Kind langweilt sich?

Die Interessen des Kindes im Blick haben

Tatsächlich ist es wichtig, die aktuellen Interessen und die aktuelle Entwicklung des Kindes im Blick zu haben, wenn es um Spielzeug geht. Denn oft spielen Kinder die Themen nach, die sie gerade bewegen: Da geht es im Spiel um „Gut und Böse“ und Drachen kämpfen gegen Einhörner, es werden soziale Situationen (manchmal sehr überspitzt) nachgespielt oder Erfahrungen aus dem Alltag oder Rollenvorbilder nachgespielt. Die Kinder üben sich in fein- oder grobmotorischen Tätigkeiten, wollen jetzt gerade besonders viel Springseilspringen oder über Hindernisse balancieren.

Über das, wofür sich das Kind gerade im Spiel interessiert, erfahren wir also viel über seine aktuelle Entwicklung und die Themen, die es gerade bewegt. Für das Kind ist es toll, wenn das gesehen und bedient wird.

Viel hilft nicht viel

Der Trugschluss dabei ist aber, dass viel Material auch viel helfen würde. In einer kleinen Studie der University of Toledo aus dem Jahr 2018, in der 36 Kleinkinder untersucht wurden, zeigte sich, dass weniger Spielzeug zu fokussiertem und kreativerem Spiel führte als viel Spielzeugangebot. Ein 10jähriges Kind in Großbritannien verfügt etwa über 238 verschiedene Spielzeuge (damit sind nicht einzelne Bausteine gemeint, sondern Spielzeugsysteme) im Wert von etwa £6,500, wobei eine Studie zeigte, dass 8 von 10 Kindern nur mit maximal 20 Spielzeugen aus der ganzen Auswahl an Material tatsächlich auch spielen. Einige Kinder werden von der großen Auswahl mehr abgelenkt, andere weniger. Tatsächlich brauchen Kinder aber keine riesige Auswahl.

Verschiedene Spielangebote

Wer viele Spielsachen zu Hause hat, kann die Materialien immer mal wieder austauschen: Ein Teil der Spielsachen kann im Keller gelagert werden oder mit anderen getauscht werden, so dass immer mal wieder neue Impulse kommen. Aussortiert kann dann (je nach Alter) mit dem Kind werden: Spielst du damit aktuell wirklich noch, oder können wir das zur Seite räumen, bis du wieder damit spielen magst? Wichtig ist dafür natürlich, dass das Kind wirklich darauf vertrauen kann, dass das Spielzeug auch zurück kommt. Wer damit droht, Spielsachen wegzuwerfen, weil beispielsweise nicht gut aufgeräumt wurde, kann ein solches Vertrauen nur schwer aufbauen. Generell sollte nicht damit gedroht werden, Spielsachen einfach zu verschenken oder zu entsorgen.

Bei den Angeboten, die im Kinderzimmer vorhanden sind, sollten wir viel weniger darauf achten, dass es 100 verschiedene Spielzeugautos oder viele verschiedene Kuscheltiere gibt, sondern vielmehr, dass es eine Varianz an Spielmöglichkeiten gibt: etwas zum Konstruieren, etwas für Rollenspiel (jenseits von Stereotypen), etwas für das Lernen von Regeln und Miteinander wie (kooperative) Brettspiele etc. So haben Kinder die Möglichkeit, die verschiedenen Entwicklungsbereiche im Spiel auszubauen und sich über das Spiel die Welt anzueignen.

Auch viele Kitas setzen immer wieder einmal auf spielzeugfreie Zeiten, Spielzeugfasten/Spielzeugferien und das Reduzieren von Spielsachen, um die Kinder im sozialen Spiel und der Fantasie anzuregen und zu ergründen, welche Materialien jetzt gerade wirklich interessant sind.

Die falsche Idee des beschäftigten Kindes

Viele Eltern denken, dass Kinder sich mit mehr Spielmaterialien endlich selbst beschäftigen würden. Aber Kinder sind soziale Wesen. Die Aneignung der Welt erfolgt durchaus über das Spiel, aber wesentlich auch in Zusammensein mit anderen Menschen – jeden Alters. Zu erwarten, dass Kinder über lange Strecken ganz allein und ruhig im Kinderzimmer spielen würden, ist bei vielen Kindern eine falsche Erwartung. Durchaus gibt es diese Phasen und durchaus gibt es auch Kinder, die lieber und solche, die weniger gern allein spielen, aber viele Kinder wünschen sich ein Miteinander und spielen nicht über lange Zeiträume entspannt allein.

Als Eltern können und müssen wir dabei nicht beständig die Position des Spielpartners übernehmen. Wir können auch nicht das Spiel mit anderen Kindern ersetzen, weil wir als Erwachsene anders denken und handeln. Wir können aber für ein Miteinander mit anderen Kindern sorgen und unsere Kinder in unsere Handlungen und unseren Alltag einbeziehen – auch das kann nämlich oft spielerisch sein.

Unser Alltag lässt uns oft zu wenig Raum für all die tausend Dinge, die wir als Eltern zu erledigen haben – und zu wenig Zeit für das Miteinander. Das ist ein strukturelles Problem. Gleichzeitig haben wir ein schlechtes Gewissen, dass wir nicht mitspielen (wollen) mit unseren Kindern. Wir denken manchmal, das x-te Spielzeug wäre eine Lösung. Mehr Spielzeug bedeutet aber nicht per se, glücklichere, schlauere oder intensiv spielendere Kinder zu haben.

Spielen ist von enormer Bedeutung für unsere Kinder: Sie brauchen dafür Zeit, Raum und die Chance, sich mit genau dem beschäftigen zu können, was gerade ihr Thema ist.

Eure

Zur Autorin:
Susanne Mierau ist Diplom-Pädagogin (Schwerpunkt Kleinkindpädagogik) und Familienbegleiterin. Sie arbeitete an der FU Berlin in Forschung und Lehre, bevor sie sich 2011 im Bereich bedürfnisorientierte Elternberatung selbständig machte. Ihr 2012 gegründetes Blog geborgen-wachsen.de und ihre Social Media Kanäle sind wichtige und viel genutzte freie Informationsportale für bedürfnisorientierte Elternschaft und kindliche Entwicklung. Susanne Mierau gibt Workshops für Eltern und Fachpersonal und spricht auf Konferenzen und Tagungen über kindliche Entwicklung, Elternschaft und Familienrollen.

Foto: Ronja Jung für geborgen-wachsen.de

Übergänge bewusst im Alltag wahrnehmen

Gastartikel von Janna Visser

Übergänge sind Teil unseres Lebens. Einerseits die großen, lebensverändernden Übergänge, wie Umzüge, Trennungen oder Schulwechsel. Andererseits die vielen kleinen Übergänge, die unseren Alltag strukturieren, z. B. das morgendliche Aufstehen, das Verlassen des Hauses oder der Abschied vom Spielplatz. Einige dieser Übergänge gelingen uns leicht und voller Freude, einige können uns belasten. Wir geraten in Stress und manchmal beginnen wir sie zu vermeiden.

Wahrnehmung von Übergängen

Viele Übergänge nehmen wir in unserem Alltag als Erwachsene nicht mehr bewusst wahr. Sie sind für uns unsichtbar geworden. Denn je öfter wir einen Übergang erleben, desto mehr wissen wir, was auf uns zu kommt. Wir können für uns sorgen, etwas vorbereiten und entwickeln Routinen.

Für Kinder können alle Übergänge, die für uns Erwachsene nebenbei ablaufen, neu, spannend und herausfordernd sein. Sie entwickeln in unserem gemeinsamen Alltag Strategien für diese Übergänge und haben diverse Ideen, wie sie diese oder jene Situation gestalten könnten. Diese Ideen passen nicht unbedingt zu unseren Plänen, den Verkehrsregeln oder den Grenzen anderen Menschen. Oft ergibt das Verhalten des Kindes für uns zunächst keinen Sinn und wir finden uns wiederholt in ähnlichen Konflikten wieder. Häufig wissen wir nachher gar nicht genau, was der Auslöser eines Streits war.

An der Seite des Kindes

Bei jedem Übergang werden Kinder, wie wir alle, mit unterschiedlichen, teilweise auch widersprüchlichen, Gefühlen von Freude bis Frustration konfrontiert. Deshalb brauchen sie unsere Unterstützung, um im sicheren Rahmen unserer Begleitung selbst zu erfahren, wie sie ihre Gefühle regulieren und mit welchem Verhalten sie ihre Bedürfnisse am besten erfüllen können.

Der erste Schritt für uns Erwachsene ist dabei die grundsätzliche Wahrnehmung von Übergängen, den dazugehörigen Gefühlen und dem eigenen Umgang damit. Dafür braucht es nicht unbedingt die komplexen und schwierigen Übergänge. Wir können von jedem Übergang lernen, welche Handlungen uns unterstützen. 

Es ist hilfreich sich bewusst zu machen, dass ein Übergang einen Anfang und ein Ende hat und alle Beteiligten Beginn und Abschluss ganz unterschiedlich wahrnehmen können. Das hängt unter anderem von Faktoren wie dem Wissen und der Verantwortlichkeit für Aufgaben rund um den Übergang ab: Beginnt der Übergang mit der Planung und Vorbereitung eines Ausflugs oder mit dem Verlassen des Hauses? Klare Absprachen bezüglich des Ablaufs und der Zuständigkeiten können Übergänge gleichberechtigt für alle sichtbar machen und Konflikte vorbeugen.

Übergänge und Erwartungen

Abhängig davon wie wir Übergänge wahrnehmen und unsere individuellen Rahmenbedingungen aussehen, bewerten wir Übergänge in ihrer Dringlichkeit, Intensität und Bedeutung. Es kann helfen zu schauen was genau wir über den jeweiligen Übergang wissen, woher diese Informationen stammen und was wir erwarten. Wer welchen Übergang für die Erfüllung der eigenen Bedürfnisse braucht, kann Klarheit für die empathische Gefühlsregulation bei uns Erwachsenen – und auch bei den Kindern – geben. Wenn wir lernen, während eines Übergangs unsere (eigenen) Bedürfnisse zu erfüllen, werden wir entspannter und kreativer bei der Lösung von Konflikten.

Nach dem Übergang ist vor dem Übergang

Wie im Projektmanagement oder Profi-Sport ist es während und nach Übergängen lohnenswert zu reflektieren. Kinder profitieren sehr davon, wenn sie beobachten dürfen, wie wir über Situationen nachdenken, alternative Handlungsmöglichkeiten entwickeln und sie daran aktiv teilhaben dürfen. Je nachdem wie unser Alltag gerade aussieht, gibt es mehr oder weniger Raum und Zeit um seine Gedanken zu sortieren. Hier eine Übung für zwischendurch:

Botschaft an mich selbst

Denke an einen kleinen, alltäglichen Übergang aus den letzten Stunden und erzähle deinem Vergangenheits-Ich in einer Nachricht, einer kurzen Notiz oder einer Sprachnachricht davon. Folgende Fragen können dabei helfen:

– Welches Wissen hätte ich gerne zu dem Zeitpunkt des Übergangs gehabt?

– Was hat mir an meinem Verhalten gut gefallen?

– Wer oder was hat mir in der Situation geholfen?

– Welche Tipps gebe ich meinem Vergangenheits-Ich mit auf den Weg?

Je öfter wir einen Übergang erlebt haben, desto mehr lernen wir für uns zu sorgen. Solche Übungen helfen uns dabei, unsere Anteile bei der Erfüllung der eigenen und kindlichen Bedürfnisse zu erkennen. Wir können so gezielt üben, Ideen und Strategien zu sammeln und dadurch mit Klarheit und Flexibilität Herausforderungen in zukünftigen Übergängen begegnen.

Eure

Janna Visser ist Sozialarbeiterin B.A., Erziehungs- und Bildungswissenschaftlerin M.A. und Mediatorin. Sie arbeitete in der Kinder- und Jugendhilfe, Schulsozialarbeit, Bildungsarbeit sowie Forschung und Lehre. Ende 2022 hat sie sich auf die bedürfnisorientierte Begleitung von Übergängen spezialisiert. Ihr Angebot richtet sich an Familien, Erwachsene und Jugendliche sowie pädagogische Fachkräfte & Firmen. Ein Teil ihres Konzepts ist die solidarische Bezahlung nach Ermessen. Mehr über ihre Arbeit erfährst du auf ihrer Seite oder bei Instagram .

„Mit dir spiele ich nie wieder!“ – Konflikte unter Kindern begleiten

Die meisten Eltern kennen wohl diese Situation: Das Kind kommt zurück aus dem Kindergarten/aus der Schule/von einem Besuch bei Freund*innen und erzählt, dass das andere Kind gesagt hat, dass sie keine Freund*innen mehr sind. Oder schreit ein anderes Kind auf dem Spielplatz selbst an: „Mit dir spiele ich nie wieder!“. Ein Kind, das solche Sätze gesagt bekommt „Ich bin nicht mehr deine Freund*in!“ oder „Mit dir spiele ich nie wieder!“ ist oft traurig, weint, zieht sich vielleicht zurück, will getröstet werden. Als Erwachsene wissen wir zwar oft, dass die Situation schon morgen sehr wahrscheinlich anders aussehen wird, aber davon ist die aktuelle Not des Kindes nicht aufzuheben.

Das Kind braucht Trost und Verständnis

Selbst wenn wir wissen, dass dieser Streit schon morgen keinen Bestand mehr hat, braucht unser Kinder jetzt gerade unser Verständnis und unsere Zuwendung. Der Ausschluss aus einer sozialen Gruppe schmerzt das Kind, schließlich basiert unser menschliches Leben auf dem Zusammensein und dem Schutz durch die Gruppe. Der sogenannte soziale Schmerz des Ausschlusses, des Nicht-Dazugehörens oder auch Ignoriertwerdens schmerzt in einem Kind wie eine körperliche Wunde und aktiviert im Gehirn auch die gleichen Regionen.

Wenn Kinder sich also ausgegrenzt fühlen, brauchen sie Trost, Zuwendung und Verständnis. Auch wenn wir Erwachsene nicht direkt mitfühlen können und unser vorausschauender Blick diesen Streit anders einordnet, sollten wir uns auf das Empfinden des Kindes konzentrieren, es trösten und nach der individuellen Trostzeit gemeinsam Lösungen suchen.

Warum „Das wird schon wieder“ nicht hilfreich ist

Auch wenn wir denken, dass sich die Situation von allein einrenken wird, hat das Kind jetzt aktuell Schmerzen . Zudem wissen wir nicht, ob sich die Situation wirklich so einfach von allein einrenkt, sondern vielleicht über einen längeren Zeitraum bestehen bleibt oder sich sogar verschlimmert. Das Kind allein zu lassen mit einem „Das wird schon wieder“ vermittelt dem Kind, dass wir es mit einer Konfliktsituation, die es anscheinend nicht allein bewältigen kann, allein lassen. Zudem kann das Gefühl transportiert werden – auch durch Sätze wie „Da stehst du doch drüber, lass dich nicht unterkriegen“ – dass das Verhalten des anderen Kindes/der anderen Kinder einfach geduldet werden sollte. So kann sich eine Passivität entwickeln und ein Unterordnen unter eigentlich schmerzhafte und ausgrenzende Strukturen. Kein Kind sollte verinnerlichen, dass es okay ist, wenn andere schlecht mit ihm umgehen, es beleidigen oder ausstoßen.

Je jünger das Kind ist, desto dringender braucht es nicht nur die Regulation der aktuell schmerzhaften Gefühle, sondern auch Unterstützung in der Konfliktlösung. Als sichere Bindungspersonen ist es die Aufgabe der Eltern, dem Kind Sicherheit zu geben und es vor Gefahren zu schützen. Auch die psychische oder physische Gewalt (wozu auch der Ausschluss aus einer Gruppe gehört) durch andere ist eine solche Situation, in der sich das Kind auf die nahen Bezugspersonen verlassen muss. Eltern fungieren im Rahmen des Bindungssystem als Schutz, auch in Hinblick auf die emotionale Unversehrtheit.

Aber reagiere ich nicht über?

Manchmal ist es für Eltern schwer, diese Position des Schutzes einzunehmen: Vielleicht halten mich andere dann für ein Helikopter-Elternteil? Reagiere ich hier über? Es ist allerdings wichtig, dass sich Eltern hier vor Augen führen, dass es um ein Problem des Kindes geht und es dem Kind aktuell schlecht geht. Die persönlichen Unsicherheiten sollten an dieser Stelle nicht die Not des Kindes überschatten und sind ein Thema, dem sich Eltern gesondert von der aktuellen Situation stellen sollten.

Gegenüber Pädagog*innen, Lehrenden und anderen Eltern ist es wichtig, eine klare Haltung einzunehmen. Das ist nicht immer einfach, wenn das Kind beispielsweise von dem Kind einer Freundin ausgeschlossen wurde oder Pädagog*innen in der Schule erklären, das Kind hätte ja einfach selber kommen können, wenn es ein Problem hat. Es kann viele Gründe geben, warum sich das Kind anderen nicht anvertraut hat, aber den eigenen Eltern. Auch hier ist es wichtig, die Schutzfunktion einzunehmen und dafür einzustehen, lösungsorientiert und respektvoll mit der Problemsituation umgehen zu wollen.

Gemeinsam Lösungen suchen

Viele Eltern denken, dass Kinder ihre Probleme schon unter sich lösen können. Leider ist dies nicht immer der Fall: Kinder sind unterschiedlich, haben unterschiedliche Temperamente. Einige Kinder sind extrovertierter, andere introvertierter. Konflikte nicht zu begleiten und gute Konfliktlösungsstrategien nicht aufzuzeigen, würde die Dominanz der stärkeren, extrovertierteren Kindern stärken. Kinder müssen jedoch lernen, Konflikte gerecht auszutragen und müssen Konfliktlösungsstrategien verinnerlichen. Das bedeutet, dass introvertiertere Kinder durch Begleitung lernen dürfen, wie sie ihre Meinung einbringen können und für ihre Bedürfnisse und Gefühle einstehen dürfen, während andere Kinder lernen müssen, anderen auch Raum für deren Meinung zu überlassen und manchmal einen Schritt zurück zu treten und sich zu beruhigen. Dies lernen Kinder durch unser Vorbild, aber auch durch Anleitung. Kinder brauchen Konfiktbegleitung durch ihre Bezugspersonen, um nach und nach über Jahre zu lernen, wie sie gut mit Problemen und Konflikten umgehen zu können.

Wenn Ausgrenzungen oder Beleidigungen immer wieder auftreten

Wenn Ausgrenzungen, Beleidigungen oder auch körperliche Gewalt immer wieder auftreten, kann man von Mobbing sprechen. Da Mobbing oft erst recht spät von Erwachsenen als solches erkannt wird, ist es wichtig, dass schon bei obigen Problemen eingegriffen wird, damit sich die Gewalt gegenüber dem Kind nicht normalisiert. Kinder, die von anderen angegriffen werden, tragen keine eigene Schuld am übergriffigen Verhalten der anderen – der gegenteilige Gedanke ist Teil des Problems, dass das Mobbing erst spät in seiner Tragweite bemerkt wird: Wird dem Kind immer wieder vermittelt „Naja, wenn wir ehrlich sind, hast du ja auch…“ ist das eine Täter-Opfer-Verschiebung. Wichtig ist, dass das betroffene Kind von den nahen Bezugspersonen Verständnis, Sicherheit und Unterstützung erhält. Das Kind kann sich aus dieser Situation in der Regel nicht selbst befreien. Es ist gut, zunächst mit dem Kind in das Gespräch zu kommen darüber, was es selbst will. Darüber kann dann überlegt werden, welche weiteren Hilfen in Anspruch genommen werden sollten: Oft muss das pädagogische Personal in Kita/Schule einbezogen werden, das als Bezugsperson ebenso für den Schutz des Kindes zuständig ist. Eventuell gibt es vor Ort auch sichere Bezugspersonen, die das Kind schützen und unterstützen können. Darüber hinaus kann psychologische Unterstützung bis hin zu rechtlichem Beistand notwendig sein (je nach Schwere und Situation). Auch spezielle individuelle Mobbingberatung gibt es, wie auch Workshops für Schulklassen.

Eure

Zur Autorin:
Susanne Mierau ist Diplom-Pädagogin (Schwerpunkt Kleinkindpädagogik) und Familienbegleiterin. Sie arbeitete an der FU Berlin in Forschung und Lehre, bevor sie sich 2011 im Bereich bedürfnisorientierte Elternberatung selbständig machte. Ihr 2012 gegründetes Blog geborgen-wachsen.de und ihre Social Media Kanäle sind wichtige und viel genutzte freie Informationsportale für bedürfnisorientierte Elternschaft und kindliche Entwicklung. Susanne Mierau gibt Workshops für Eltern und Fachpersonal und spricht auf Konferenzen und Tagungen über kindliche Entwicklung, Elternschaft und Familienrollen.

Foto: Ronja Jung für geborgen-wachsen.de