Alle Artikel von Susanne Mierau

Was meint “Erziehung ohne Schimpfen”?

Wenn davon gesprochen wird, dass Eltern nicht schimpfen sollen, wird das häufig missverstanden. Gemeint ist dabei nicht, dass Gefühle wie Wut, Überlastung, Ärger oder Hilflosigkeit „einfach“ unterdrückt werden sollen oder dass das Kind tun und lassen kann, was es will. Vielmehr geht es darum, dass Eltern in Selbstberuhigungsstrategien einsetzen können, um angemessen zu reagieren – diese fehlen aber häufig. Sie auszubauen, hilft nicht nur im Alltag mit Kindern, sondern stärkt auch andere zwischenmenschliche Beziehungen – sowohl im privaten Umfeld als auch im Berufsleben.

Gewalt vermeiden

„Nicht schimpfen“ bedeutet nicht, dass Kindern kein Feedback gegeben oder keine Grenzen gesetzt werden dürfen. Auch Ärger darf gezeigt werden. Entscheidend ist jedoch, wie wir mit unseren Empfindungen umgehen: sozialverträglich, respektvoll und ohne das Kind zu ängstigen. Denn emotionale Gewalt ist ebenfalls Gewalt und kann beim Kind langfristige Spuren hinterlassen. Kinder haben laut § 1631 BGB ein Recht auf eine gewaltfreie Erziehung: „Körperliche Bestrafungen, seelische Verletzungen und andere entwürdigende Maßnahmen sind unzulässig.“ Dazu gehört auch, nicht verbaler Gewalt ausgesetzt zu sein. Dieses Recht basiert auf Erkenntnissen aus verschiedenen Forschungsbereichen, die zeigen, dass auch seelische Gewalt negative Auswirkungen auf die kindliche Entwicklung hat.

Warum machen wir das, wenn wir es nicht wollen?

Viele Eltern spüren unmittelbar nach einer Situation, in der sie ihr Kind angeschimpft oder gar angeschrien haben, dass dieses Verhalten nicht richtig war. Scham stellt sich ein. Im besten Fall folgt eine Entschuldigung und der Vorsatz, es beim nächsten Mal besser zu machen. Doch oft bleibt es nicht bei einem Ausrutscher – das Muster wiederholt sich. Warum passiert uns das, obwohl wir es eigentlich vermeiden wollen?

Eine übermäßige Reaktion hängt häufig mit der hohen Stressbelastung im Alltag zusammen. Unser Leben ist geprägt von Dauerstress und Reizüberflutung. Gehirn und Körper sind permanent damit beschäftigt, diesen Stress zu verarbeiten. Studien zeigen eindeutig: Stress wirkt sich negativ auf Erziehungsverhalten aus. Je höher die Belastung, desto schwerer fällt es, Kinder geduldig und einfühlsam zu begleiten.

Prägungen und Erwartungen: Unsichtbare Stressverstärker

Neben Alltagsstress, akuten Belastungen und dem individuellen Temperament des Kindes gibt es einen weiteren entscheidenden Faktor: unsere eigenen Prägungen. Dazu gehören sowohl genetische Voraussetzungen im Umgang mit Stress als auch die Erfahrungen aus unserer eigenen Kindheit und Erziehung. Das Thema Scham kann hier eine große Rolle spielen: Viele von uns haben verinnerlicht, dass wir uns schlecht fühlen, wenn unser Kind sich „unangemessen“ verhält – insbesondere in der Öffentlichkeit. Dieses Schamgefühl führt oft dazu, dass wir überreagieren. Aber auch der Umstand, dass wir selbst nicht lernen durften in der Kindheit, gesunde Grenzen zu setzen, kann es uns schwer machen, diese heute festlegen und uns für ihr Einheiten einzusetzen. So kommt es, dass Erwachsene dauerhaft zu viel von sich verlangen und dadurch unter Stress stehen.

Was Eltern konkret tun können

Um weniger stark zu reagieren, sollten Eltern an mehreren Punkten ansetzen:

  • Stress reduzieren: Aufgaben minimieren, Anforderungen hinterfragen und Perfektionsansprüche loslassen, gesunde Grenzen für sich selbst setzen.
  • Selbstregulation stärken: Frühzeitig wahrnehmen, wann Ärger aufsteigt, und passende Techniken einsetzen, wie Atemübungen, Körperwahrnehmung, Entspannungs- oder Meditationsübungen.

Diese Strategien helfen, gelassener zu bleiben – nicht nur im Umgang mit dem Kind, sondern auch in anderen Lebensbereichen.

Und was ist jetzt mit den Grenzen?

Kinder brauchen Orientierung, aber sie müssen dabei weder beschämt noch verängstigt werden. Grenzen lassen sich klar und respektvoll kommunizieren – ganz ohne Schimpfen (im Sinne von Niedermachen) oder Schreien. Auch wenn viele von uns durch die eigene Kindheit geprägt sind und glauben, dass harte Worte oder lautes Verhalten nötig seien: Das ist weder die einzige noch die sinnvollste Methode. Kinder können Regeln, soziales Verhalten und den Umgang mit Fehlern auch ohne Druck und Angst lernen – oft sogar besser, weil sie nicht unter dem Stress von Schimpfen und Schreien stehen.

Eure

Zur Autorin:
Susanne Mierau ist Diplom-Pädagogin (Schwerpunkt Kleinkindpädagogik) und Familienbegleiterin. Sie arbeitete an der FU Berlin in Forschung und Lehre, bevor sie sich 2011 im Bereich bedürfnisorientierte Elternberatung selbständig machte. Ihr 2012 gegründetes Blog geborgen-wachsen.de und ihre Social Media Kanäle sind wichtige und viel genutzte freie Informationsportale für bedürfnisorientierte Elternschaft und tragen seit über 10 Jahren maßgeblich zur Verbreitung bedürfnisorientierter Erziehung bei. Susanne Mierau gibt Workshops für Eltern und Fachpersonal und spricht auf Konferenzen und Tagungen über kindliche Entwicklung, Elternschaft und Familienrollen.

Foto: Ronja Jung für geborgen-wachsen.de

Wenn Babys viel weinen – und Eltern an sich selbst zweifeln: Über die unsichtbaren Spuren der Schreibabyzeit

Viel weinende Babys sind für ihre Eltern oft eine besondere Herausforderung. Es ist schwer, ein Baby zu begleiten, das viel und lange weint – körperlich ebenso wie emotional. Viele Eltern fühlen sich hilflos und entwickeln das Gefühl, als Mutter oder Vater nicht kompetent zu sein. Schließlich scheint nichts zu helfen, obwohl sie alles geben. Gedanken wie „Mein Baby weint ständig – und ich kann es nicht beruhigen“ setzen sich fest.

Besonders belastend wird es, wenn Eltern in dieser Situation keine fachliche Unterstützung erhalten, sondern allein durchhalten müssen – sei es, weil sie keine Hilfe finden oder nicht wissen, dass es pädagogisch-psychologische Unterstützung gibt. Dann kann sich das Gefühl, nicht gut genug zu sein, tief verankern – und über die Babyzeit hinaus nachwirken.

Selbstvertrauen entwickeln als Elternteil

Bindung und Beziehung entstehen durch Interaktion. Natürlich ist es wichtig, dass das Baby sich auf die Fürsorge verlassen kann – aber auch das Erleben der Eltern spielt eine große Rolle. Wenn wir spüren, dass wir unser Baby verstehen, dass unsere Reaktion hilft, dann entsteht ein Gefühl von Sicherheit und Kompetenz. Fehlt dieses Feedback, wird es schwerer, Selbstvertrauen in der Elternrolle aufzubauen. Stattdessen schleichen sich Zweifel ein – manchmal auch Angst: „Bald weint mein Baby wieder – und ich werde wieder nicht wissen, was hilft.“

Stress, Schlafmangel, Hilflosigkeit, Schamgefühle und Frustration begleiten viele Eltern durch diese Zeit. Innerlich bröckelt das Selbstwertgefühl. Das Gefühl von Selbstwirksamkeit verblasst. Und gleichzeitig wirkt der gesellschaftliche Druck: „Jetzt hast du doch ein Kind – sei doch glücklich!“
Viele fragen sich: „Was denken andere von mir, wenn ich mein Baby nicht beruhigen kann? Was bin ich für eine Mutter, was für ein Vater – wenn ich gleich zu Beginn scheitere?“

Entspannte Eltern, entspannte Kinder?

“Entspannte Eltern, entspannte Kinder” – noch immer hält sich dieser Spruch hartnäckig, auch wenn er ein Mythos ist. Die Ursachen für das viele Weinen können vielfältig sein. Durchaus können elterliches Verhalten und Stress einen Einfluss nehmen, aber es gibt auch viele weitere mögliche Gründe für das Weinen und Schreien von Babys. Hier braucht es fachkundige Abklärung, um dem Weinen auf die Spur zu kommen.

Und manchmal gibt es keine eindeutige Erklärung. Dann geht es in der Begleitung vor allem darum, die Eltern zu stärken – emotional, körperlich, mental. Damit sie durchhalten können, ohne auszubrennen. Damit sie Auswege kennen, bevor Überlastung zur Lebensgefahr wird: Überforderung kann schwerwiegende Folgen haben, etwa in Form von Schütteln des Babys. Prävention ist hier essenziell. Eltern müssen wissen, was sie ganz konkret tun sollten, wenn ihre innere Not zu groß wird.

Langfristige Auswirkungen

Manchmal bleibt das Vertrauen in die eigene Kompetenz auch nach der Babyzeit erschüttert. Zu sehr und zu lange wurde verinnerlicht, dass man einfach nicht richtig wisse, was das Kind braucht. Zu sehr ist man vielleicht auch daran gewöhnt, Vieles im Wechsel anbieten zu müssen, damit irgendwas hilft. Zu tief sitzt vielleicht auch die Angst vor dem Weinen des Kindes, das so viel Stress verursacht hat und das man mittlerweile fürchtet. Das Stress auslösende Weinen unbedingt vermeiden, kann ein unbewusstes Ziel sein. Kommt ein weiteres Baby in die Familie, kann die Angst vor dem Weinen sich auch auf dieses übertragen – auch wenn es vielleicht kein viel weinendes Baby ist, wie das Geschwisterkind zuvor. Oft ist es nicht sichtbar und bewusst, wie sehr die herausfordernde Zeit geprägt und welche Auswirkungen sie auf das Verhalten genommen hat.

Der Blick auf das Baby UND die Eltern ist wichtig

Die Begleitung von Familien mit viel weinenden Babys darf nicht beim Baby enden. Es geht nicht nur darum, das Weinen zu verstehen oder zu lindern. Genauso wichtig ist der Blick auf die Eltern: Wie geht es ihnen jetzt gerade? Was brauchen sie an Pausen, Unterstützung, Entspannungsmethoden? Was brauchen sie an Hilfen, um sich trotz der aktuell schwierigen Lage kompetent zu fühlen und nicht das Vertrauen in sich zu verlieren? wo erfahren sie sich dennoch als wirksam in der neuen Rolle und erleben schöne Momente des Miteinanders?

Bleibt diese Art der Unterstützung aus, kann eine Ängstlichkeit und Unsicherheit zurückbleiben, die sich auf den Familienalltag auswirkt. Kinder mit einem “schwierigen Temperament” haben eine höhere Wahrscheinlichkeit, unsichere Bindungsmuster zu verinnerlichen, weil durch die Herausforderung die Eltern-Kind-Interaktion beeinträchtigt werden kann. Passende Unterstützung kann dies jedoch verhindern und sichere Beziehungen entstehen lassen trotz der großen Herausforderung, die mit der anfänglichen Belastung einher gehen: Sichere Beziehungen sind möglich – auch nach einem schweren Start.

Eure

Zur Autorin:
Susanne Mierau ist Diplom-Pädagogin (Schwerpunkt Kleinkindpädagogik) und Familienbegleiterin. Sie arbeitete an der FU Berlin in Forschung und Lehre, bevor sie sich 2011 im Bereich bedürfnisorientierte Elternberatung selbständig machte. Ihr 2012 gegründetes Blog geborgen-wachsen.de und ihre Social Media Kanäle sind wichtige und viel genutzte freie Informationsportale für bedürfnisorientierte Elternschaft und tragen seit über 10 Jahren maßgeblich zur Verbreitung bedürfnisorientierter Erziehung bei. Susanne Mierau gibt Workshops für Eltern und Fachpersonal und spricht auf Konferenzen und Tagungen über kindliche Entwicklung, Elternschaft und Familienrollen.

Hochsensibilität im Familienalltag

von Franziska Krebs – Geborgen Wachsen Bindungsbegleiterin

Wenn du “mein Kind ist hochsensibel”  hörst, woran denkst du denn dann zuerst?Denkst du an ein emotionales, empathisches, verträumtes, nicht stark belastbares Kind, das sich oft weinend und voller Überreizung zurückzieht? Oder hast du ein Bild von einem wissensdurstigen, aktiven, kommunikativen und sehr begabten, stets nach neuen Herausforderungen suchenden jungen Menschen vor deinem inneren Auge? Beide Beschreibungen sind etwas überspitzt dargestellt, aber die meisten von uns tendieren wohl tatsächlich eher zur ersteren Beschreibung und verbinden mit hochsensiblen Kindern kaum auch Aktivität und Wissensdurst. Hochsensibilität ist allerdings ein angeborenes Persönlichkeitsmerkmal, welches – nach aktuellem Forschungsstand – ca. 15-20% der Bevölkerung mitbringen, und das sehr facettenreich ist.

Es gibt mehr introvertierte hochsensible, aber auch extravertierte

Doch warum ist besonders dieses erste, von mir vorab beschriebene Bild so geläufig? Als Elaine Aron, die als Begründerin des Konstruktes der Hochsensibilität gilt, anhand ihrer Studien zu diesem Persönlichkeitsmerkmal ihre Forschungsergebnisse veröffentlichte, zeigte sich eine deutliche Verteilung: Es gibt mehr introvertierte hochsensiblen Menschen. Die andere Ausprägung des wilden, aktiven, fantasievollen, mitteilungsfreudigen, interessiert fragenden und Gesellschaft liebenden hochsensiblen Menschen ist seltener vertreten und nahm auch in der öffentlichen Darstellung weniger Raum ein – dennoch gibt es auch sie.

Dem vielfältigen Persönlichkeitsmerkmal der Hochsensibilität liegt eine Struktur im Gehirn zugrunde, die es ermöglicht, viel mehr Daten und Reize über sämtliche Sinneskanäle ungefiltert aufzunehmen und intensiver zu verarbeiten, als dies bei nicht hochsensiblen Menschen der Fall ist. Doch diese Hochleistung im Gehirn führt gleichzeitig auch zu schnellerer Erschöpfung und benötigt Regenerationsphasen zur Verarbeitung – Zeit zum Auftanken und Abschalten ist besonders wichtig. 

Elternteil eines hochsensiblen Kindes sein

Eltern hochsensibler Kinder sind aufgrund dieser Anforderungen oft vor große Herausforderungen gestellt. Bedürfnisse wollen verstanden und entsprechend begleitet werden. Der Unterschied zu anderen Kindern ist von Außen nicht sichtbar und das Umfeld reagiert daher manchmal wenig verständnisvoll oder erwartet sogar, dass sich das Kind eben wie alle anderen verhalten solle. Diese Ansprüche führen auch bei Eltern nicht selten zu Verunsicherungen, ob sie das Kind denn wirklich richtig begleiten würden. Auch innerlich recht stabile Eltern haben manchmal leise Zweifel, fühlen sich hilflos oder überfordert. Gerade hochsensible Kinder sind darauf angewiesen, dass ihre Bezugspersonen ihnen auch nach Außen Sicherheit geben und den Bedarf der Kinder nach Außen verständlich machen. Nur aus der Sicherheit heraus kann das Kind Mut fassen und an Herausforderungen wachsen, nicht nur Druck und Unsicherheit, die zu wenig Verständnis hervorrufen würden. Alternative Ideen und kreative Lösungen sind für hochsensible Kinder hilfreich, damit sie einerseits erfahren, dass ihre Grenzen in Ordnung sind und sein dürfen, und andererseits aus der Sicherheit heraus Exploration stattfinden kann.

In all diesen täglichen Herausforderungen zusätzlich deine eigenen Bedürfnisse und Gefühle zu regulieren, während du ja auch die Gefühle deines Kindes co-regulierst und vielleicht noch die Erwartungen Dritter im Außen spürst, kann ein echter Kraftakt sein. Als vielleicht selbst hochsensibler Elternteil kann dies situationsabhängig manchmal zur Zerreißprobe werden. Umso wichtiger ist es dabei, auch gut für dich zu sorgen, bei Bedarf Unterstützung anzunehmen oder bewusst zu suchen, in den Austausch mit anderen Eltern hochsensibler Kinder zu gehen und dir Zeit und Raum zum eigenen Auftanken einzuräumen. 

Ressourcenorientierter Blick auf die schönen Aspekte

Auch wenn die Begleitung eines hochsensiblen Kindes durchaus auch herausfordernd ist, gibt es im Familienalltag von Familien mit hochsensiblen Mitgliedern wunderschöne Momente. Das Leben mit einem hochsensiblen Kind bringt manchmal auch den kritischen Blick auf die generelle Reizüberflutung unseres Alltags mit sich und lädt dazu ein, mehr Ruhe und Entspannung auch in den eigenen Alltag einfließen zu lassen. Hochsensible Kinder bereichern uns mit ihrem speziellen Blick auf diese Welt, bringen durch die hoch durchdachten und wissbegierigen Fragen neue Impulse in unser aller Leben und regen zum Überdenken an. 

Auch hier gilt wie so oft, dass wir das Kind so annehmen sollten, wie es ist. Und als der Mensch wertschätzen sollten, der es ist. Auf dieser Basis können wir es ressourcenorientiert unterstützen, mit der Hochsensibilität die Welt zu erkunden und sich sicher darin zu bewegen. Das große Ziel ist ja letztendlich, die Hochsensibilität in ihrer Vielfalt annehmen zu können, eigene Bedürfnisse und Gefühle wahrzunehmen und die Potenziale darin entfalten zu dürfen. 

Franziska Krebs ist staatlich anerkannte Sozialpädagogin, Geborgen Wachsen Bindungsbegleiterin und Fachpädagogin für Hochsensibilität. Sie begleitet Einzelpersonen und Familien in 1:1 Beratungen und gibt regelmäßig Workshops, Vorträge und online Austauschrunden für Eltern und pädagogische Fachkräfte. Zudem nutzt sie auch bedarfsorientiert Klangangebote und Kinesiologische Reflextherapie. Franziskas Wirkungsraum befindet sich in Halle (Saale), im Saalekreis und bei Anfragen auch in Leipzig, sowie online. Hier findest du sie auf Instagram.

Fotos: Ronja Jung für geborgen-wachsen.de

Orientierung schenken (statt Grenzen setzen)

Die Bezeichnung “Grenzen setzen” hat für viele Eltern einen eher negativen Beigeschmack. Zu sehr werden damit oft Strafen und Willkür verbunden, häufig in Verbindung mit eigenen negativen Kindheitserfahrungen. Prinzipiell jedoch ist es gar nicht verkehrt, dass Kinder auch die Begrenzungen ihres Handelns, Tuns und ihrer Umgebung erfahren dürfen. Um sich sicher in der Welt bewegen zu können, ist es bedeutsam, die eigenen körperlichen Grenzen zu kennen, die eigenen psychischen Grenzen zu kennen und zu schützen und auch im Außen Grenzen gegenüber anderen wahren zu können. Um Kindern dieses mitzugeben, ist es wichtig, sich als Elternteil mit dem eigenen Unwohlsein gegenüber Grenzen auseinanderzusetzen. Eine Annäherung kann dadurch erfolgen, eine neue Bezeichnung zu wählen, die nicht so negativ belegt ist, wie sie sich für einige anfühlen mag.

Menschen benötigen Orientierung

Orientierung zu haben, ist für unser Wohlergehen bedeutsam. Wir wollen die Welt verstehen, in der wir uns befinden. Gerade auch in Bezug auf das soziale Miteinander brauchen wir Orientierung, welche Grenzen wo gelten und wie man sie berücksichtigen sollte. Kinder gewinnen Orientierung durch ihre Bezugspersonen: Ihr Vorbildverhalten gibt ihnen eine Orientierung in ihrer Umwelt und das Erziehungsverhalten gibt ihnen auch eine Orientierung im Innen: Wenn ich bestimmte Signale sende, reagieren meine Bezugspersonen mit einem dazu passenden Verhalten – bestenfalls verlässlich und in weiten Teilen auch vorhersagbar. So kann sich ein Vertrauen in die Bezugspersonen entwickeln und auch das Selbstbild ausgebaut werden.

Überall gibt es Grenzen

Grenzen erfahren Kinder ohnehin jeden Tag vielfach aus dem Alltag heraus: sie erleben die eigenen körperlichen Grenzen, wenn sie etwas nicht erreichen oder heben oder bewegen können, erleben dingliche Grenzen und müssen der Frustration begegnen, wenn sie eine ganz konkrete Vorstellung vom Ablauf einer Handlung hatten und diese dann nicht so eintritt, und sie erleben die menschlichen Grenzen ihres Gegenüber, wenn dieser andere Mensch etwas nicht mag, zurückweist oder ausweicht. Die Regeln, die hinter diesen Erfahrungen stehen und die sie durch ihr Handeln lernen, bieten ihnen eine Orientierung: so kann ich einem Menschen, Tier oder Gegenstand begegnen und so nicht. Das erreiche ich noch nicht, aber vielleicht bald, wenn ich etwas größer bin.

Orientierung ist hilfreich

Bezugspersonen bieten mit ihren Grenzen Orientierung. Gleichzeitig geben sie dem Kind auch Orientierung durch Worte und Handlungen zum Schutz von Dingen, Tieren und anderen Menschen. Sie erklären die Welt, um es dem Kind zu erleichtern, sich darin zu bewegen und sie zu verstehen: Warum man was nicht tun sollte, warum man was auf jeden Fall tun sollte. Von Familie zu Familie kann es unterschiedliche Regeln und Grenzen geben. All dies sind Informationen, die das Kind braucht, um sich zunehmend sicher in seiner Umgebung bewegen zu können. Orientierung bietet dem Kind damit einen sicheren Zugang zu der Umwelt aus dem Schutz der Bezugspersonen heraus.

Es geht also nicht um willkürlich gesetzte Regeln und Machtmissbrauch, sondern vielmehr um ein feinfühliges Wahrnehmen dessen, was es dem Kind erleichtert, sicher selbstwirksam sein zu können.

Eure

Zur Autorin:
Susanne Mierau ist Diplom-Pädagogin (Schwerpunkt Kleinkindpädagogik) und Familienbegleiterin. Sie arbeitete an der FU Berlin in Forschung und Lehre, bevor sie sich 2011 im Bereich bedürfnisorientierte Elternberatung selbständig machte. Ihr 2012 gegründetes Blog geborgen-wachsen.de und ihre Social Media Kanäle sind wichtige und viel genutzte freie Informationsportale für bedürfnisorientierte Elternschaft und tragen seit über 10 Jahren maßgeblich zur Verbreitung bedürfnisorientierter Erziehung bei. Susanne Mierau gibt Workshops für Eltern und Fachpersonal und spricht auf Konferenzen und Tagungen über kindliche Entwicklung, Elternschaft und Familienrollen.

Foto: Ronja Jung für geborgen-wachsen.de

Warum du niemanden von deiner Erziehung überzeugen musst – außer dich selbst

Gerade bedürfnisorientierte Erziehung wird immer wieder von vielen Menschen infrage gestellt – ob nun in der eigenen Familie, auf der Straße oder manchmal auch noch in Institutionen. Wir fühlen uns im Rechtfertigungsdruck. Vielleicht wollen wir auch die andere Person davon überzeugen, dass es genau richtig ist, was wir da tun und der kritische Mensch gegenüber das doch verstehen muss. Oft ist aber beides – sowohl Rechtfertigung als auch Überzeugungsversuche – nicht erfolgreich. Anstatt am Gegenüber zu arbeiten, ist es für uns oft hilfreicher und kräftesparender, uns selbst zu versichern, dass es richtig ist, was wir da tun.

“Sieh das doch genau wie ich!” klappt einfach nicht

Natürlich ist es wünschenswert, andere Menschen davon überzeugen zu können, dass Kinder mit Respekt behandelt werden sollen, dass sie über eigene Rechte verfügen und als der Mensch gesehen und respektiert werden sollten, der sie sind. Diese grundlegenden Ansätze bedürfnisorientierter Erziehung können eine gute Basis für ein psychisch gesundes Aufwachsen ermöglichen und es wäre wunderbar, wenn diese Gedanken von der breiten Gesellschaft getragen werden, damit Kinder nicht nur von den nahen Bezugspersonen, sondern eben allen Menschen unter Achtung ihrer Würde behandelt werden. Auch Forschungsergebnisse bestätigen, dass der autoritative Erziehungsstil, also ein Erziehungsverhalten, das sowohl durch Liebe und Zuneigung gekennzeichnet ist, als auch Kindern Orientierung bietet, den besten Einfluss auf die kindliche Entwicklung hat. Zurecht können wir uns also fragen, warum dann noch immer Menschen davon überzeugt sind, Kinder müssten autorität erzogen werden oder auch in die andere Richtung des Laissez-Faire tendieren.

Rein logische Argumente führen uns in diesem Diskurs jedoch leider nicht weiter. Um sich auf eine Erziehungshaltung einzulassen, in der Nähe/Wärme und Orientierung ausgeglichen vorhanden sind, braucht es ein emotionales Einlassen. Wir müssen nicht nur die Fakten anerkennen, sondern auch eine innere Überzeugung überwinden, sie sich oft durch eigene Erfahrungen ausgebildet hat. Dies beinhaltet ggf. eigene negative Erfahrungen zu reflektieren, sie zu analysieren und in das heutige Leben zu integrieren. Sich den eigenen negativen Erfahrungen zu stellen oder auch auf einmal eigenes Handeln gegenüber den eigenen Kindern kritisch zu hinterfragen und eigene Fehler aufzudecken, erfordert viel emotionale Kraft. Es ist leichter, sich hinter einem “Hat mir ja auch nicht geschadet” emotional zu verstecken, als sich dem vielleicht doch empfundenen Schaden zu stellen. Langfristig kann durchaus durch das Miterleben anderer Ansätze ein Reflexions- und Lernprozess eingeleitet werden, doch zwischen “Tür und Angel” oder auf einem Familienfest ist es eher nicht zu erwarten, dass wir mal schnell einen anderen Menschen von einer ganz anderen Menschenhaltung überzeugen können.

Sicherheit statt Rechtfertigung

Als Generation von Eltern, die Erziehung wieder einmal anders ausrichten will und die oben genannten Werte in einer Haltung gegenüber Kindern ausdrücken möchte, die sie selbst vielleicht nicht erfahren haben, besteht durchaus auch Unsicherheit in Bezug auf das eigene Handeln: Ist das wirklich richtig, was ich da tue? Die innere Unsicherheit, die sich daraus ergibt, dass wir ein Erziehungsverhalten anwenden wollen, das wir nicht durch Erfahrung verinnerlicht haben, sondern ganz neu lernen müssen (und während des neuen Umsetzens nicht selten mit unseren eigenen Lasten parallel umgehen), ist normal. Wir lernen, während wir es leben. Das erfordert sehr viel Kraft und Reflexion – und bringt eben auch Unsicherheiten mit sich: Versuch und Irrtum. Auf der Unsicherheit, die ein neues Handeln mit sich bringt, gedeiht Verunsicherung gut. Dies gerade dann, wenn wir durch die eigene Erziehung ohnehin nicht im eigenen Selbstbild gestärkt wurden, sondern eher kritisch auf uns blicken. Wir verfallen schnell in Selbstzweifel oder Rechtfertigungsdruck, wenn wir es anderen vielleicht auch noch gerne Recht machen wollen und irgendwo zwischen verschiedenen Stühlen stehen.

Natürlich ist es auch wichtig, gut gemeinte Hinweise von nahen Bezugspersonen nicht nur abzuweisen. Manchmal ist es durchaus gut, auch noch andere Impulse zu bekommen und wir können aus dem Erfahrungsschatz anderer profitieren. Aber als nun erwachsene Menschen, die Eltern sind, ist es auch wichtig, eigene Entscheidungen treffen zu können und dem eigenen Kind aus innerer Überzeugung den Weg dieser Familie zu zeigen.

Es kommt daher gerade bei Familienfeiern und anderen Zusammenkünften weniger darauf an, andere zu überzeugen oder gute Rechtfertigungsargumente für das neue Erziehungsverhalten zusammenzutragen, als Sicherheit für sich selbst zu haben und diese auszustrahlen. Recht wahrscheinlich werden wir jemanden anderen nicht einfach so überzeugen können. Recht wahrscheinlich werden Rechtfertigungsgründe für moderne, demokratische Erziehung auf eine innere Abwehr des Gegenüber treffen. Es geht also weniger darum, dass wir uns gute Argumente zurechtlegen, warum wir tun, was wir tun, als uns sicher zu sein: “Ich bin heute das Elternteil meines Kindes, ich entscheide, was wir wie tun.”, “Ich bin nicht mehr nur das Kind meiner Eltern, das sich nach ihnen richten muss, sondern selbst Erwachsen und treffe eigene Entscheidungen.”, “Ich bin überzeugt von meiner Erziehungshaltung.”

Was dir helfen kann, innere Sicherheit zu fühlen und sie nach Außen zu zeigen:

  • Versichere dir selbst vorab, dass es dir uns deinem Kind gut mit deiner Haltung geht.
  • Menschen, die uns den Rücken stärken, tun gut: Umgib dich mit Menschen, die dich stützen und stärken.
  • Versichere dir selbst vorab, dass du nicht diskutieren möchtest und musst.
  • Überlege, was dir helfen kann, um dich innerlich stark und sicher zu fühlen.
  • Überlege, welche Regulationsstrategien dir helfen, um ruhig und klar bleiben zu können.
  • Sich abzugrenzen erfordert Kraft: Ziehe dich zurück, wenn du merkst, dass deine Kraft schwindet. Gönn dir Pausen oder plane gleich nur einen kurzen Aufenthalt.

Eure

Zur Autorin:
Susanne Mierau ist Diplom-Pädagogin (Schwerpunkt Kleinkindpädagogik) und Familienbegleiterin. Sie arbeitete an der FU Berlin in Forschung und Lehre, bevor sie sich 2011 im Bereich bedürfnisorientierte Elternberatung selbständig machte. Ihr 2012 gegründetes Blog geborgen-wachsen.de und ihre Social Media Kanäle sind wichtige und viel genutzte freie Informationsportale für bedürfnisorientierte Elternschaft und tragen seit über 10 Jahren maßgeblich zur Verbreitung bedürfnisorientierter Erziehung bei. Susanne Mierau gibt Workshops für Eltern und Fachpersonal und spricht auf Konferenzen und Tagungen über kindliche Entwicklung, Elternschaft und Familienrollen.

Foto: Ronja Jung für geborgen-wachsen.de

Den Weg zwischen Kontrolle und Laissez Faire finden

Was brauchen Kinder für ein glückliches Aufwachsen? Sie wollen gesehen werden als der Mensch, der sie sind. Sie brauchen Bezugspersonen, die sie anerkennen, ihre Bedürfnisse wahrnehmen, richtig interpretieren und dann passend darauf antworten. Das klingt einfach, ist es dann aber oft im Alltag doch nicht. Denn es ist gar nicht so einfach, sich auf einen anderen Menschen einzulassen, auf seine Signale, aber auch auf dieses enge Miteinander. Schnell verlieren sich Eltern in Einzelfragen, statt das große Ganze der Beziehung im Blick zu behalten.

Den Erziehungsstil gestalten

Kinder brauchen eine feinfühlige Begleitung. Das bedeutet nicht, dass wir alle Entscheidungen vorsichtig und zart treffen müssen, sondern dass Eltern sehen müssen, was dieses Kind an Begleitung braucht: Ist es eher schüchtern und braucht Unterstützung und Ermutigung, sich den Herausforderungen des Alltags zu stellen, damit es lernt, sich gut in der Welt zurechtzufinden? Oder ist es eher temperamentvoll und braucht Erklärung und etwas Beruhigung, um gute Beziehungen aufzubauen und andere nicht zu überfordern? Was ist gerade der Entwicklungsraum des Kindes, wie kann ich es darin unterstützen zu lernen, was es gerade lernen will und wo braucht es vielleicht Hilfe, um sich dem zuzuwenden?

Wir können uns vorstellen, dass Feinfühligkeit in der Mitte liegt zwischen den Extremen der Kontrolle und der Unresponsivität. Kontrolle meint, dass wir nicht auf die Bedürfnisse und Möglichkeiten des Kindes achten, sondern als Eltern einen ganz genauen Plan haben, den wir durchziehen – unabhängig davon, was das Kind nun will. Da Kinder das Bindungssystem für Kinder äußerst bedeutsam ist, passen sie sich diesem kontrollierendem Verhalten nach und nach an und geben ihr eigenes Selbst auf. Unresponsivität meint, dass auf die Bedürfnisse und Möglichkeiten des Kindes wenig reagiert wird und wenig Interesse an den Bedürfnissen des Kindes besteht. Dem Kind fehlt echte (emotionale) Zuwendung, aber auch Anleitung und Unterstützung und es verinnerlicht, dass es keine besondere Zuwendung von den Bezugspersonen bekommt und keine Bedeutung hat.

Freiheit geben in einem stabilen Rahmen

Wenn wir darüber sprechen, dass Kinder sowohl Führung und Unterstützung, als auch Freiheit brauchen, meinen wir, dass genau diese feinfühlige Balance notwendig ist. Regeln und Strukturen können Halt geben und zeigen dem Kind, dass dort eine stabile Bezugsperson gegenüber ist, die eine grobe Vorstellung von der Welt hat, an der sie sich orientiert und gewillt ist, dem Kind durch die eigene Stabilität diese Welt näher zu bringen, weil sie das Kind wertschätzt und sich wünscht, dass das Kind gut in der Welt zurecht kommt und sich darin sicher fühlen kann. Gleichzeitig erkennt die Person auch das Bedürfnis nach Autonomie und Kontrolle des Kindes an und sieht, an welchen Stellen der Freiraum gegeben werden kann für das eigene Tun und Erforschen, damit das Kind sich als wirksam in dieser Welt erfährt und spürt, dass es die Welt mit seiner Stimme und seinem Handeln beeinflussen kann.

Das Kind erhält also Freiheit in einem stabilen Rahmen. Dieser Rahmen muss mit der Zeit und der fortschreitenden Entwicklung des Kindes wachsen: je mehr Fertigkeiten das Kind erwirbt, desto größer sollte er werden, damit es sich Neuem zuwenden kann. Die Eltern und andere Bezugspersonen sollten im Blick haben, welche Fähigkeiten das Kind gerade hat und wie es diese ausbauen kann, so dass es weder über-, noch unterfordert ist. Es kann sich erproben und weiß, dass es dennoch immer auf die sichere Bezugsperson zurückkommen kann.

Es ist schwer, im oft an Aufgaben vollen Alltag einen Blick auf das Kind zu haben. Der Stress unserer Zeit drängt und oft zu einem eher kontrollierendem Verhalten: “Wir haben jetzt keine Zeit dafür!”, “Nein, du machst das jetzt nicht, ich mach das!”. Auch die Angst davor, dass das Kind sich nicht gut genug entwickeln und vielleicht schlechtere Zukunftschancen haben könnte, kann uns zu mehr Kontrolle verleiten, weil wir bestimmte Lernaufgaben vorschieben, das Kind eher schulisch fördern wollen, statt die grundlegenden Entwicklungsbereiche des Kindes zu ermöglichen durch Eigenaktivität. Auf der anderen Seite kann uns der Stress und die Erschöpfung des Alltags auch dazu verleiten, dass wir (unbewusst) froh sind, wenn wir uns nicht mit dem Kind auseinandersetzen müssen: Wir ziehen uns zurück und überlassen dem Kind die Führung, weil wir zu erschöpft sind und uns mit den Grenzen nicht auseinandersetzen wollen oder einen weiteren Streit heute nicht aushalten, wodurch das Kind langfristig nicht genug Feedback und Orientierung bekommt. Auch Mengen an Spielzeug oder Medien dienen manchmal nicht dem dosierten Entertainment, sondern werden eher genutzt, um selbst Ruhe zu haben. Auf Dauer ziehen wir uns auch damit aus der Beziehungsarbeit, die das Kind eigentlich braucht.

Alle Eltern haben im Alltag mal mehr kontrollierende Anteile, mal mehr unresponsive. Solange sich aber ein feinfühliger roter Faden zeigt, ist das kein Problem. Natürlich ist unser Alltag nicht immer gleichbleibend und manchmal durchleben Familien schwierige Phasen, in denen Erwachsene weniger feinfühlig sein können. Wenn wir allerdings merken, dass – gerade durch den Einfluss der vielen Anforderungen unserer Zeit – wir immer mehr in das ein oder andere Extrem neigen, ist Unterstützung notwendig.

Eure

Zur Autorin:
Susanne Mierau ist Diplom-Pädagogin (Schwerpunkt Kleinkindpädagogik) und Familienbegleiterin. Sie arbeitete an der FU Berlin in Forschung und Lehre, bevor sie sich 2011 im Bereich bedürfnisorientierte Elternberatung selbständig machte. Ihr 2012 gegründetes Blog geborgen-wachsen.de und ihre Social Media Kanäle sind wichtige und viel genutzte freie Informationsportale für bedürfnisorientierte Elternschaft und tragen seit über 10 Jahren maßgeblich zur Verbreitung bedürfnisorientierter Erziehung bei. Susanne Mierau gibt Workshops für Eltern und Fachpersonal und spricht auf Konferenzen und Tagungen über kindliche Entwicklung, Elternschaft und Familienrollen.

Foto: Ronja Jung für geborgen-wachsen.de

Wie Kinder Selbständigkeit entwickeln

Selbständigkeit ist für viele Eltern ein bedeutsames Ziel in der Entwicklung: selbständig einschlafen, selbständig anziehen, selbständig spielen. Der Wunsch dahinter ist oft, dass das Kind kompetent ist, um mit den Herausforderungen des Alltags gut umgehen zu können und eine eigene innere Stärke und Problemlösungsfähigkeit entwickelt, die es gut durch das Leben trägt. Viele Eltern fragen sich, wie sie dieses Ziel erzieherisch unterstützen können: Wie fördert man die Selbständigkeit des Kindes? Welche Schritte braucht es auf dem Weg zu Selbständigkeit?

Selbständigkeit entsteht nicht allein

Schnell ist man verleitet, zu denken, dass Selbständigkeit dann entsteht, wenn das Kind Aufgaben und Probleme allein lösen muss. Wie soll es das sonst lernen? Durchaus brauchen Kinder Raum und Zeit, um sich an Herausforderungen zu erproben und eigene Lösungsstrategien zu entwickeln, doch dies ist nur ein Baustein der Entwicklung von Selbständigkeit. Neben der Möglichkeit, sich selbst zu erproben, brauchen Kinder das Gefühl von Sicherheit, um überhaupt erst auf eine Aufgabe zugehen zu können.

Die Welt zu erkunden und sich ihren Herausforderungen zu stellen, gelingt dann gut, wenn wir uns sicher genug fühlen, um auf Herausforderungen zuzugehen. Eigentlich kennen wir das auch als Erwachsene: Wir gehen dann selbstbewusster an eine neue Aufgabe heran, wenn wir uns gut und sicher fühlen, wenn wir vielleicht schon Kompetenzen haben, die wir einsetzen können oder zumindest dann, wenn das Gefühl haben, im Notfall eine andere Person um Hilfe bitten zu können. Unsere Kinder sind noch stärker auf ein sicheres Notfallnetz angewiesen als wir, schließlich sind sie jünger und verfügen noch über weniger Erfahrungswissen. Je sicherer sie sich fühlen, desto leichter fällt es, sich einer neuen/fremden/herausfordernden Tätigkeit zuzuwenden.

Diesen Bedarf an Sicherheit zeigen unsere Kinder im Alltag und viele Eltern spüren ihn, auch wenn sie ihn noch nicht als Basis für die Selbständigkeit wahrnehmen: Wenn wir uns wünschen, dass das Kleinkind- oder Vorschulkind allein einschlafen soll, ist es hilfreich, zu vereinbaren, immer wieder vorbei zu kommen in regelmäßigen Abständen (“Ich räum eben den Geschirrspüler ein, dann komm ich nochmal rein.”). Wenn wir uns wünschen, dass das Kleinkind sich allein anzieht oder selbst ein Brot schmiert, ist es hilfreich, wenn wir in der Nähe sind und gar nicht unbedingt eingreifen, aber die Sicherheit ausstrahlen, zur Not zur Verfügung zu stehen. Ebenso, wenn das Vorschulkind auf dem Spielplatz eine neue Höhe auf dem Klettergerüst erklettert oder wenn das Schulkind nachmittags die Hausaufgaben machen soll und weiß, dass wir notfalls da und ansprechbar sind, wenn es nicht weiter weiß.

Ich glaub an dich!

Wenn wir in der Nähe sind, wenn das Kind sich einer neuen Herausforderung widmet, geben wir einerseits Sicherheit, dass es sich im Notfall an uns wenden kann, andererseits vermitteln wir auch Zuversicht. In der Nähe zu sein und etwas zuzulassen, dass wir wahrnehmen, vermittelt: Ich glaube, dass du das kannst. Wir müssen Kinder gar nicht beständig mit Worten anspornen oder loben, sondern können schon durch unsere Haltung ausdrücken, dass wir dem Kind die Kompetenz zusprechen, ein Problem lösen zu können. So können Eltern ressourcenorientiert statt defizitorientiert an eine Situation herangehen: Eine Situation bewusst zuzulassen, ohne groß zu erklären, dass wir da sind, ohne groß anzuweisen vermittelt dem Kind das Gefühl, dass es das schon schaffen kann.

Sicherheit, um Hilfe bitten zu können

Sicherheit bedeutet nicht nur, dass man da ist, um das Kind körperlich zu schützen vor Gefahren. Sicherheit ist auch das Gefühl, sich wirklich verlassen zu können. Sicherheit bedeutet für ein Kind, dass es sich ohne Angst an eine Bezugsperson wenden kann. Wenn es doch keine Lösung findet, wenn es nicht weiter weiß oder körperlich/geistig überfordert ist, kann es sich an die Person in der Nähe wenden und um Hilfe bitten, ohne dafür beschämt, verängstigt oder bestraft zu werden. Aus dieser Sicherheit heraus kann es entspannter mit neuen Aufgaben umgehen, kann sich kreativ einem Problem zuwenden. Wenn es hingegen Spott oder Abwertung als Reaktion auf ein Scheitern erwartet, ist es schon während des Tuns viel angespannter.

Selbständigkeit bedeutet nicht nur, ganz allein eine Aufgabe bewältigen zu können. Selbständigkeit meint auch, selbst zu merken, wann man nicht weiter kommt und dann selbst zu entscheiden, wie man mit dieser Situation umgeht. Selbständigkeit ist auch, selbst eine andere Person hinzu zu ziehen, wenn man es allein nicht schafft: um Hilfe bitten, andere einzubeziehen, vozuschlagen, als Gruppe zuzusammen zu arbeiten, kann auch Selbständigkeit sein.

Hilfe, um sich selbst zu helfen

Wenn das Kind mit einer Aufgabe nicht sofort allein zurecht kommt und Hilfe erbittet, bedeutet das nicht, dass dem Kind sofort die Lösung präsentiert werden muss. Hilfe anzubieten, um die Selbständigkeit des Kindes zu fördern, kann bedeutet, das Problem noch einmal gemeinsam anzusehen und zu überlegen, was bisher nicht funktioniert hat und welche Optionen es stattdessen noch gibt. Erwachsene haben einen Wissens- und Erfahrungsvorsprung, von dem aus sie schnell Probleme von Kindern lösen können: das Kind auf etwas hinaufsetzen oder herunternehmen, etwas heruntergeben oder wegnehmen. Doch wenn es darum geht, Selbständigkeit zu vermitteln, sind diese für uns einfachen und zeitsparenden Lösungen oft gar nicht der beste Weg. Hilfreicher ist es, gemeinsam zu überlegen, wie das Kind die Situation mit unserer Hilfe lösen kann. Vielleicht, indem wir einen Hocker suchen, der hoch genug ist, damit das Kind etwas selbst erreichen kann. Oder indem wir Raum dafür geben, dass das Kind sagen kann, was es eigentlich noch braucht, um gut allein einschlafen zu können. Hilfe kann in erster Linie Unterstützung sein, anstatt Lösung.

Eine Frage des Mindsets

Manchmal ist es auch das eigene Konzept von Selbständigkeit, das Eltern hinterfragen können: Was bedeutet Selbständigkeit eigentlich? Erwarte ich, dass das Kind allein alle Situationen meistern soll oder wünsche ich mir die Kompetenz des Kindes, selbst Entscheidungen zu treffen? Der Fokus auf das Alleine-Machen ist ein gesellschaftliches Konstrukt, das wir überdenken können: Ist es wirklich wichtig, dass jede Person das Leben ganz individuell und allein meistert, oder ist es vielleicht besser, mehr auf Gemeinschaft und Kooperation zu setzen? Menschen und Kinder müssen nicht zwangsweise dazu erzogen werden, möglichst früh möglichst viel allein zu bewerkstelligen.

Kinder sind unterschiedlich. Manche schlafen früher selbständig ohne Begleitung ein, andere später. Manche trauen sich früher, das Schwimmen/Radfahren zu lernen, andere brauchen länger. Manche können früher ohne Windeln unterwegs sein, andere brauchen mehr Zeit. In der Regel verlaufen sich diese Dinge im Laufe des Lebens und es ist später nicht mehr bedeutsam, wann genau das Kind allein gegessen hat oder zum ersten Mal woanders übernachtet hat. Was aber bleibt, ist das Gefühl des Kindes, darauf vertrauen zu können, dass es sich im Notfall an jemand anderen wenden darf und nicht allein alles bewerkstelligen muss.

Eure

Zur Autorin:
Susanne Mierau ist Diplom-Pädagogin (Schwerpunkt Kleinkindpädagogik) und Familienbegleiterin. Sie arbeitete an der FU Berlin in Forschung und Lehre, bevor sie sich 2011 im Bereich bedürfnisorientierte Elternberatung selbständig machte. Ihr 2012 gegründetes Blog geborgen-wachsen.de und ihre Social Media Kanäle sind wichtige und viel genutzte freie Informationsportale für bedürfnisorientierte Elternschaft und tragen seit über 10 Jahren maßgeblich zur Verbreitung bedürfnisorientierter Erziehung bei. Susanne Mierau gibt Workshops für Eltern und Fachpersonal und spricht auf Konferenzen und Tagungen über kindliche Entwicklung, Elternschaft und Familienrollen.

Foto: Ronja Jung für geborgen-wachsen.de

Aggressionen bei Kleinkindern verstehen und begleiten

Wenn das eigene Kind aggressives Verhalten zeigt, ist das für Eltern oft schwierig: Sie denken, dass andere sie selbst verurteilen und als schlechte Eltern betrachten, dass andere Menschen das Kind negativ betrachten und in eine gedankliche Schublade stecken oder schließen sich selbst der Angst an, dass das Kind ein negatives Verhalten entwickelt mit weitreichenden Folgen. Die Folge dieser Denkmuster ist oft, dass versucht wird, das Verhalten des Kindes zu stoppen, dabei aber die Ursachen nicht in den Blick genommen werden und auch kein Ausweg aufgezeigt wird, wie mit dem eigentlichen Gefühl, das dahinter steht, umgegangen werden kann.

Kindliche Aggression ist weniger schlimm als ihr Ruf

Dabei ist zunächst einmal wichtig zu betrachten, dass kindliche Aggression weniger schlimm ist als ihr Ruf: Nur weil das Kleinkind Wut durch Aggression äußert, bedeutet es noch lange nicht, dass generell etwas mit der Erziehung nicht stimmen würde oder dem Kind. Zunächst einmal ist es völlig normal, dass Kleinkinder ihre Empfindungen wie Wut, Frustration, Enttäuschung, Ekel, Abwehr und anderes stark von sich weisen. Eigentlich sogar ist Aggression ein wichtiger Aspekt unseres menschlichen Erlebens, weil sie uns Kraft gibt, um Grenzen zu setzen, für uns selbst einzustehen oder auch für andere. Sie ist ein Teil unseres Schutzsystems.

Das Kleinkind denkt noch nicht wie wir Erwachsene über Gefühle und Handlungen nach, sondern handelt impulsiv. Das ist sinnvoll, da das Kind noch nicht über ausreichende Erfahrungen verfügt, um Situationen miteinander zu vergleichen und abzuwägen.

Susanne Mierau, Geborgene Kindheit, S. 124

Durchaus gibt es Kinder, die aggressiver sind als andere, was u.a. genetisch bedingt sein kann. Die Neurobiologin Dr. Nicole Strüber (2019) erklärt, wie sich diese genetische Disposition negativ auf Beziehungen und auch auf die ersten Bindungen auswirken kann. Doch gerade Kinder, die ein stärker aggressives Verhalten zeigen, brauchen ein feinfühliges Begleiten, um ihren Stress zu mindern und Handlungsstrategien zu lernen, um mit ihren Impulsen gut umgehen zu können.

Aggression als Schutzstrategie für Grenzen und Zuwendung

Auch Kleinkindern dient Aggression als Schutz: Als Schutz nach außen, um eine Grenze zu ziehen, wenn sie ihre Grenze bedroht fühlen, aber auch als Schutz nach Innen, wenn Aggression als Ausdruck benutzt wird, um etwas einzufordern wie beispielsweise elterliche Aufmerksamkeit oder Verbindung auf andere Art und Weise, beispielsweise auch mit anderen Kindern. Manchmal fehlen Kleinkindern noch Worte und Handlungsideen, wie sie ihre Bedürfnisse umsetzen können – sowohl beim Kind, das zubeißt, um sich wehren, als auch beim Kind, das zubeißt, weil es in Kontakt treten will.

Wir können darauf achten, dass unser Kind sich und andere nicht verletzt. Wir können versuchen, seine Gefühle durch unseren körperlichen Ausdruck zu spiegeln. Wir können unserem Kind aufrgund des Wissens, was ihm hilft und was es mag, eine sanfte Unterstützung sein und dabei helfen, aus der Wut herauszukommen, denn das ist für viele Kinder im Vorschulalter noch sehr schwierig. Und wir können unser Kind danach in die Arme nehmen und darüber sprechen.

Susanne Mierau, Geborgene Kindheit, S. 125

Verständnis entwickeln

Die bedeutsamen Fragen sind also auch hier wieder: Welche Absicht, welches Gefühl, welches Bedürfnis steht hinter dem Verhalten meines Kindes? Will es sich gerade abgrenzen? Wenn ja, warum und wovon? Oder will es in Verbindung treten? Wenn ja, mit wem und warum? Von diesem Punkt aus können wir dann überlegen, welche Impulse wir für die Begleitung anbieten: Wir können in die Situation in Worte fassen und dann Ideen anbieten, wie auch gehandelt werden kann. Der sozial akzeptierte Ausdruck von Gefühlen wird über viele Jahre erlernt anhand von Vorbildern und durch die Begleitung durch die nahen Bezugspersonen. Kleinkinder beginnen gerade erst damit, ihr Handlungsrepertoire auszubauen und die vielen Möglichkeiten zu verinnerlichen, wie mit bestimmten Empfindungen umgegangen werden kann. Statt ihnen nur zu sagen, was sie nicht tun sollen und sie dann mit ihrem Empfinden allein zu lassen, brauchen sie ihre nahen Bezugspersonen, die ihnen das eigene Empfinden erklären, ihm einen Namen geben und aufzeigen, wie sie damit umgehen können. Lehnen wir nur ihr Verhalten ab, kann das Kind das nicht verstehen und bezieht die Ablehnung auf sich als Mensch: Ich darf so nicht sein, mit diesem Gefühl werde nicht akzeptiert, ich muss sie verstecken, um von den nahen Bezugspersonen geliebt zu werden.

Besonders bedeutsam ist es also, das aggressive Verhalten des Kindes nicht falsch zu interpretieren: Es ist kein Machtspiel, es stellt uns nicht infrage. Es ist nicht zwangsweise ein Ausdruck für schlechtes Erziehungsverhalten und will uns deswegen nicht beschämen vor anderen. Es ist bedeutsam, genau hinzusehen, die eigentliche Absicht des Kindes zu ergründen und dann zielgerichtet darauf zu handeln, damit das Kind wirklich lernen kann, immer besser mit den eigenen Impulsen umzugehen.

Eure

Zur Autorin:
Susanne Mierau ist Diplom-Pädagogin (Schwerpunkt Kleinkindpädagogik) und Familienbegleiterin. Sie arbeitete an der FU Berlin in Forschung und Lehre, bevor sie sich 2011 im Bereich bedürfnisorientierte Elternberatung selbständig machte. Ihr 2012 gegründetes Blog geborgen-wachsen.de und ihre Social Media Kanäle sind wichtige und viel genutzte freie Informationsportale für bedürfnisorientierte Elternschaft und tragen seit über 10 Jahren maßgeblich zur Verbreitung bedürfnisorientierter Erziehung bei. Susanne Mierau gibt Workshops für Eltern und Fachpersonal und spricht auf Konferenzen und Tagungen über kindliche Entwicklung, Elternschaft und Familienrollen.

Foto: Ronja Jung für geborgen-wachsen.de

“Wie redest du denn mit mir?” – Wenn Kinder unfreundlich sind

Über viele Jahre hinweg lernen Kinder, sich in dieser Welt sicher zu bewegen: Sie lernen ihren Körper kennen, lernen sich fortzubewegen, zu sprechen, mit anderen zu interagieren. Dabei lernen sie auch, ihre Gefühle zunehmend sprachlich auszudrücken und wie sie mit Schimpfworten umgehen können oder sollten. Neben den Schimpfworten treten manchmal aber auch andere sprachliche Verhaltensweisen auf, die wir nicht stehen lassen wollen, beispielsweise wenn das Kind unfreundlich mit uns oder anderen spricht, etwas einfordert oder etwas nicht tun will. Wir fühlen uns angegriffen von den Worten, auch wenn es keine direkten Schimpfworte sind.

Unfreundliches Verhalten von Kindern ist oft kein Angriff

Als Erwachsene bewerten wir ein unfreundliches Verhalten von jungen Kindern oft als Angriff. Ein “Mach das doch selbst!”, “Ich will nicht mit zu der blöden Feier!”, “Hol du das doch!” oder “Du bist echt immer so nervig!” sehen wir schnell als Angriff: ein Machtspiel! Schnell reagieren wir dann auf genau diese Interpretation und versuchen, die Positionen wieder in der gewohnten Ordnung aufzustellen. “So lass ich nicht mit mir reden!”, “Du spinnst ja wohl!”, “Wenn du nicht freundlich bist, dann…”, “Geh auf dein Zimmer!” Oft reagiert das Kind auf diese Anwtort dann mit Gegenwehr und der Konflikt eskaliert.

Deine Grenzen benennen ist wichtig…

Natürlich ist es wichtig, dass die eigenen Grenzen benannt werden. Das Kind darf und soll lernen, dass bestimmte Ausdrucksformen sozial nicht verträglich sind. Diese Grenze zu setzen, ist wichtig für den Elternteil selbst, damit du dich ausreichend geschützt und psychisch nicht angegriffen fühlst, aber auch wichtig für dein Kind, denn es darf und sollte lernen, wie innerhalb seiner sozialen Gruppe kommuniziert wird, damit es gute Beziehungen aufbauen kann – zu dir als Elternteil, aber auch zu anderen Menschen.

… und auch das Verstehen der Bedeutung hinter den Worten

Gleichzeitig ist es aber auch wichtig, in den Blick zu nehmen, was dein Kind da eigentlich ausdrücken möchte. Dass es so unfreundlich wird, ist in der Regel kein Angriff, sondern ein noch ungeschickter Versuch, ein Bedürfnis mitzuteilen. Wenn wir harsch auf die Art, aber nicht auf den eigentlichen Anlass reagieren, führt das zu einem Konflikt: Wir reden/streiten eigentlich aneinander vorbei und das Kind fühlt sich von uns nicht verstanden und lernt auch nicht, eigene Wünsche und Bedürfnisse anders auszudrücken. Hilfreicher ist es deswegen, einen Moment innezuhalten und zu überlegen, was das eigentliche Problem hinter diesem Verhalten sein könnte. Diesen Moment der Selbstberuhigung und Überlegung können wir uns durchaus gönnen, wenn das Kind gerade etwas gesagt hat, das wir als unfreundlich empfinden.

“Das Kind wird nicht gleich zum Tyrannen, bloß weil wir erst mal tief durchatmen. […] Wenn wir uns nicht gezwungen sehen, sofort zu handeln, wird das Kind nicht sofort in eine Gegenwehr gehen müssen. Wir dürfen uns erlauben, uns Zeit zu nehmen! Und dann im nächsten Moment bewusst und überlegt zu reagieren. “

S. Mierau “Frei und unverbogen”, S. 178f.

Wir können sowohl eine Grenze ziehen, als auch auf das Kind reagieren. Die Grenze, die wir ziehen, ist einerseits eine Grenze für uns selbst, aber auch eine Hilfe zur Ausbildung sozialer Fähigkeiten für das Kind. “Das war ziemlich unfreundlich ausgedrückt und verletzt mich. Ich sehe, dass du gerade viel Spaß hast beim Spielen und das Geschirr nicht in die Küche bringen möchtest. Das kannst du mir so sagen, wenn das der Grund ist, warum du nicht helfen möchtest. Dann bring es bitte, wenn du fertig bist.”, “Ich höre, dass du zum Schulfest deines Bruders wirklich nicht mitmöchtest. Lass uns darüber reden, was du stattdessen machen möchtest oder warum du dort nicht hin möchtest. Ich denke, es hat ihn verletzt, dass du das so gesagt hast und es würde ihm gut tun, wenn wir ihm das genauer erklären könnten.”, “Ich möchte nicht, dass du so mit mir redest, weil mich das verletzt. Aber du kannst mir gerne sagen, was dich gerade an meinem Verhalten stört. So finden wir bestimmt eine Lösung.”

Unsere Aufgabe als Eltern ist es, den Konflikt durch die eigene Wut, die vielleicht aufsteigt, nicht weiter eskalieren zu lassen, sondern zu einer Lösung beizutragen. Nicht immer reagiert das Kind sofort versöhnlich auf unser Angebot zum Gespräch. Aber auch dann ist es sinnvoll, eher eine Beruhigung zu erwirken, als den Streit weiter aufzuladen. Wenn das Kind auf das Gesprächsangebot nicht eingeht, können wir abwarten, ob sich das Kind doch noch öffnen will oder das Gespräch vertagen. Zuvor haben wir benannt, was wir nicht wünschen und formuliert, dass es gut ist, über das eigentliche Problem zu sprechen. So haben wir dem Gespräch bereits eine andere Wendung gegeben, als wenn wir der Fehlinterpretation nachgegangen wären.

Eure

Zur Autorin:
Susanne Mierau ist Diplom-Pädagogin (Schwerpunkt Kleinkindpädagogik) und Familienbegleiterin. Sie arbeitete an der FU Berlin in Forschung und Lehre, bevor sie sich 2011 im Bereich bedürfnisorientierte Elternberatung selbständig machte. Ihr 2012 gegründetes Blog geborgen-wachsen.de und ihre Social Media Kanäle sind wichtige und viel genutzte freie Informationsportale für bedürfnisorientierte Elternschaft und tragen seit über 10 Jahren maßgeblich zur Verbreitung bedürfnisorientierter Erziehung bei. Susanne Mierau gibt Workshops für Eltern und Fachpersonal und spricht auf Konferenzen und Tagungen über kindliche Entwicklung, Elternschaft und Familienrollen.

Foto: Ronja Jung für geborgen-wachsen.de