Vor dem Kind mit der eigenen Wut umgehen

Und auf einmal ist sie da, die Wut. Über den ausgeschütteten Tee, über die zerbrochene Tasse. Darüber, dass sich das Kind mal wieder nicht anziehen lassen will oder dass es ein bestimmtes Schimpfwort gesagt hat, von dem man doch schon x Mal gesagt hat, dass es nicht gesagt werden soll. Da ist sie also, diese Wut und bahnt sich den Weg durch den Körper in jede einzelne Zelle, möchte über die Lippen kommen, möchte vielleicht etwas anfassen, möchte etwas werfen oder aufstampfen oder… Aber halt! Wir sind keine Kinder, wir sind die Erwachsenen. Wir sind Vorbilder und können überlegt handeln – oder doch nicht?

Wut darf sein

Wut zu spüren, ist normal. Sie gehört zur breiten Palette unserer Gefühle. In unserem Alltag können wir all das spüren: Liebe und Mitgefühl und Freude, aber auch Wut, Enttäuschung, Ekel. Was oft als „negative“ Gefühle bezeichnet wird, ist einfach ein Teil unseres Gefühlslebens. Es ist richtig, zu fühlen. Und auch diese Gefühle haben ihre Berechtigung, deuten sie uns doch auf etwas hin: auf einen Widerwillen, auf Gefahr, auf Überforderung, auf Ungerechtigkeit. Hinter dem Gefühl, das wir spüren, steht ein Anlass dafür, genau das zu spüren. Und dieser Anlass für dieses Gefühl verdient Beachtung. Es ist nicht richtig, von uns zu erwarten, dass wir bestimmte Gefühle aus dem Leben ausklammern, weil wir Eltern geworden sind.

Meistens ist es nicht das Kind…

In den meisten Fällen ist es nicht das Kind, das die großen Gefühle in uns auslöst. Oft bringen Kinder nur das Fass zum Überlaufen: An einem ohnehin schon anstrengenden Tag, an dem wir nur noch schnell nach Hause wollen, zieht das Kind auf einmal die Bremse und setzt sich auf den Bürgersteig, nicht bereit noch einen Zentimeter voran zu gehen. Wir sind erschöpft von diesem Tag, wollen uns endlich ausruhen und dann das! Wir schimpfen, aber eigentlich meinen wir nicht: „Kind, ich bin so wütend auf dich!“ sondern „Kind, nicht das jetzt auch noch. Der Tag war zu anstrengend!“ An einem stressigen Morgen mit Zeitdruck will sich das Kind nicht anziehen. An einem Samstag ohne Terminen wäre es vielleicht kein Problem, aber heute muss das Kind pünktlich abgeben sein, denn kurz darauf gibt es einen wichtigen Termin. Wir schimpfen und meinen eigentlich nicht „Kind, mach dich endlich fertig, immer bist du zu langsam!“, sondern meinen eher „Kind, heute ist es doof, ich muss so dringend zu diesem Termin!“ Unser Alltag ist voll von all den Dingen, die es uns schwer machen, Familie entspannt zu leben. Voll von Terminen, Druck, Stress – und diese sind gerade in der Kleinkindzeit große Hürden für den Alltag.

Und manchmal weckt das Kind auch Erinnerungen

Manchmal wecken unsere Kinder mit ihrem Verhalten aber auch Erinnerungen, die tief in uns verwurzelt sind: wir werden „getriggert“. Die Erfahrungen unseres Lebens sind in unserem Gehirn gespeichert. Ist das Kind laut, schreit es, schlägt es um sich, beißt oder tritt, kann uns das an die eigene Kindheit erinnern. Wir versuchen, diese Situation zu unterbinden durch Handlungsmuster, die wir erfahren haben. Oft sind das jene, die wir eigentlich nicht einsetzen wollten in der Erziehung der eigenen Kinder.

„Das Kind ist AUSLÖSER für ein Verhalten, das tief in uns eingespeichert ist. Die eigentliche URSACHE unseres Handelns ist nicht das Kind, sondern die Erfahrung, die wir selbst gemacht haben.

S. Mierau „Ich! Will! Aber! Nicht!“ S. 68

Wie nun mit der Wut umgehen?

Wir sehen also: Wut ist ein normales Gefühl. Wir sehen auch: Auf vielfältige Weise kann Wut in unserem Alltag ausgelöst werden – selbst wenn wir uns bemühen, die auslösenden Faktoren zu vermeiden. Wir wissen: Es tut unseren Kindern nicht gut, wenn wir sie beschämen, durch Worte ihren Selbstwert angreifen – und jede Art körperlicher Gewalt ist falsch. Aber wie können wir nun mit der Wut, die es eben gibt, umgehen? Wie sollen wir im Familienalltag einen Weg finden, wütend zu sein und wütend sein zu dürfen? Wie können wir unseren Kindern ein gutes Vorbild darin sein, Wut zu haben und angemessen damit umzugehen?

Zunächst können wir die äußeren Faktoren in den Blick nehmen, die uns in Wutsituationen führen können und sehen, was an diesen geändert werden kann: Wo können wir den Alltag entstressen, wo können wir mehr Unterstützung bekommen und Aufgaben abgeben? Welche Routinen können wir ändern oder neu entwickeln, um weniger Stress zu haben? Den Tisch abends für morgens vordecken? Die Kleidung abends schon bereit legen? Das Kind doch lieber tragen oder mit dem Buggy abholen, auch wenn es schon 4 ist, als darauf zu bestehen, dass es erschöpft vom Kitatag noch läuft, weil es „ja schon groß“ ist?

An welchen Stellen sind es vielleicht auch Fehlannahmen über unser Kind, die uns leiten: Kinder wollen uns nicht verärgern, sie spielen keine „Machtspiele“, sondern haben konkrete Bedürfnisse, die hinter ihrem Verhalten stehen. Diese zu ergründen, kann uns – gerade in der Kleinkindzeit – auch einem entspannteren Alltag näher bringen. Schauen wir, was unser Kind leitet, warum es sich verhält, wie es sich verhält. Und übernehmen wir als neuen Glaubenssatz, den wir uns immer wieder vorsagen: „Mein Kind will mich nicht ärgern. Es handelt, wie es handelt, weil es einfach ein Kind ist.“

Wenn wir damit einige Wutsituationen umschifft haben, können wir uns uns selbst zuwenden: Wie schaffe ich es, in den dennoch anstrengenden Situationen zwar wütend, aber nicht verängstigend oder beschämend zu sein? Die Neurowissenschaftlerin Jill Boyle Taylor erklärt in ihrem Buch „My stroke of Insight. A Brain Scientist’s Personal Journey„, dass die eigentliche Wutreaktion, die neurochemisch im Gehirn ausgelöst wird, nur 90 Sekunden andauert. Diese Sekunden – die sich lang anfühlen können – sind es, in denen wir uns um uns selbst kümmern müssen und für die wir Handlungsalternativen finden und implementieren müssen: Schritt für Schritt sollen wir von dem, was wir eigentlich tun wollen (beispielsweise das Kind anschreien) neue Möglichkeiten einüben (beispielsweise erst einmal die Wand anschreien, schlagen die Autorinnen vor). Unsere Wut ist da, sie ist eines unserer Gefühle. Wir sollten allerdings einen guten Umgang mit ihr finden.

In vielen Situationen tut es gut, bewusst einen Schritt zurück zu treten – das kann auch wortwörtlich sein. Sich distanzieren von der Situation und durchatmen. Sich eine Pause verschaffen, um dem Körper die Chance zu geben, sich zu beruhigen und dann eine überlegte Handlung auszuführen. Wir können über unseren Ärger sprechen, wir können ihn rauslassen und dabei bei uns bleiben. Nicht zum Kind sagen: „Du bist blöd, weil du die Tasse kaputt gemacht hast!“ sondern „Ich bin echt traurig, weil die Tasse kaputt ist!“ oder statt „Jetzt hör endlich auf mit deinem nervigen Geschrei!“ sagen „Für mich ist es gerade wirklich zu laut, ich brauche eine kurze Pause.“ Es ist in Ordnung, sich eine Pause zu nehmen, sich eine Pause zu gönnen. Wir müssen nicht immer für alles beständig eine Lösung parat haben.

Mit der Zeit können wir unser Bewusstsein darauf lenken, wie es sich anfühlt, wenn die Wut in uns aufsteigt und dann schon frühzeitig die Notbremse zu ziehen, wenn es geht. Manchmal spüren wir, dass wir uns auf eine Situation zubewegen und können uns selbst sagen: Gleich wirst du wütend. Wenn wir das spüren, weil vielleicht unsere Atmung flacher und schneller wird, weil wir merken, wie unser Herz stärker schlägt, können wir versuchen, uns frühzeitig aus der Situation zu ziehen und eine Pause zu gönnen. Manchmal merken wir auch lange Zeit vorher, dass der Tag irgendwie eine ungünstige Wendung zu nehmen droht und können dann bewusst gegenwirken: Die Musik anmachen und tanzen, alle Verabredungen absagen und sich einfach zusammen ins Bett kuscheln und lesen, …

Es ist nicht leicht, einen neuen Umgang mit der Wut zu finden, wenn wir in alten Mustern feststecken. Aber es ist möglich. Es braucht vor allem Zeit, manchmal aber auch eine therapeutische Unterstützung. Es ist nicht schlimm, Hilfen zum Umgang mit der Wut zu suchen, denn oft haben wir einfach keinen guten Umgang erlernt und brauchen neue Ideen, Vorbilder und Anregungen für diesen Weg. Er ist es wert. Für unsere Kinder, aber auch für uns selbst.

Eure

Dieser Artikel enthält Affiliate-Links zu Amazon und Buch7, durch die ich im Falle einer Bestellung eine Provision erhalte ohne dass für Euch Mehrkosten anfallen. Das Buch „Mama, nicht schreien“ habe ich von den Autorinnen als Rezensionsexemplar zugestellt bekommen.

11 Kommentare

  1. Hallo, ich bin soo eine Mama, die oft schreit, aber nicht wegen dem Kind, sondern wegen anderen Dingen, die mich beschäftigen und die hängen mit dem engen Umfeld zusammen, aber wie kann ich das ändern?

    • Aktuell gibt es eine ganze Reihe von Büchern, die sich dem Thema widmen. Eher als grundlegende Literatur und leichten Einstieg würde ich Nicola Schmidts „Erziehen ohne schimpfen“ sehen, dann gibt es von Daniela Gaigg und Linda Syllaba „Die Schimpfdiät“, das geht mehr in Persönlichkeitsentwicklung und hat auch viele Anregungen und Praxistipps und dann gibt es noch „Mama, nicht schreien!“ von Jeannine Mik und Sandra Teml-Jetter, das noch tiefer in die eigene Geschichte geht.

  2. Es wird häufiger empfohlen Kindern zu sagen irgendetwas das sie tun würde uns „traurig“ machen. Ich sehe das eher skeptisch. Für mich ist „traurig“ schon ein sehr starkes Gefühl. Damit mein Kind mich „traurig“ macht, da muss schon einiges passieren. Eine zerbrochene Tasse macht mich sicher nicht traurig und wenn’s die Lieblingstasse war, dann wird sie eben geklebt. Ich denke, ein Kind, das aus versehen eine Tasse zerbricht, wird sich sehr schlecht fühlen, wenn die Mama dann „traurig“ ist.
    Wenn mein Kind absichtlich eine Tasse zerbricht, macht mich das auch nicht traurig, sondern eben wütend, völlig unabhängig davon, wie mein Tag war. Ich finde es richtig, dies dem Kind dann auch zu sagen. Dabei muss ja nicht geschrien werden.

    • Das Problem bei „das macht mich traurig“ ist, daß es dem Kind die Verantwortung für die Gefühle des Gegenüber aufhalst.

  3. Mein Thema ist eher wie dann mit der Reaktion meines Kindes umgehen? Ich versuche mich aus der Situation rauszuziehen, wenn ich merke, das die Wut kommt, aber meine Tochter folgt mir und protestiert lautstark. Dann fällt es mir noch schwerer selbst runterzukommen.

    • Aus der Ferne ist das immer schwer einzuschätzen. natürlich brauchst du ein eigenes Ritual oder eine Hilfe, damit du dich fokussieren kannst. Hier gibt es neben Wegegehan auch andere Methoden wie sich auf den eigenen Körper und Körperwahrnehmung zu fokussieren, ein Gummiband am Arm zu haben, das man an die eigene Haut schnipst, um sich im Hier und Jetzt zu verorten, tiefe Atmung…

  4. Hallo, auch ich schreie meinen Großen (3) leider zu oft an, aber aus nur einem Grund: er ist sehr leicht überreizt (high need durch und durch) und immer wenn ihm etwas zu viel ist, geht er auf seinen kleinen Bruder (4 Monate) los, d. h. er „spielt“ oder „kuschelt“ zum Abreagieren, aber deshalb eben so wild, dass er dem Kleinen oft wirklich gefährlich wird. Er ist dann auch so in seinem Wahn, dass er sonst nichts wahrnimmt. Nur wenn ich ihn wirklich laut anbrülle oder ihn weg trage (also ja auch irgendwie körperlich übergreife), kann ich die Situation auflösen. Meistens ist es daher gar nicht so meine Wut, sondern ich sehe schlicht keine andere Möglichkeit. Alle Erklärungsversuche (davor, danach, währenddessen, egal) sind vergebens und auch alle angebotenen Alternativen (je nach Auslöser woanders Energie abzulassen oder versuchen, ihn zur Ruhe zu bringen etc. ) klappen in dem Moment nicht. Er handelt da nur und hat sein „Ventil“ leider in den Kleinen gefunden (auch in der Kita) und wir haben deshalb echt Probleme. Und da ihm eben so schnell so Vieles zu viel wird, ist es auch so gut wie unmöglich, die Überreizung immer zu vermeiden oder ihn immer rechtzeitig aus der Situation herauszunehmen. Hast du einen Rat?

  5. Vielen Dank für diesen Text! Das Thema Wut ist momentan sehr präsent bei uns …
    Meist fehlt der Impuls die Wut in etwas anderes zu lenken, statt z. B. zu schreien. Es ist wirklich anstrengend und herausfordernd sich neue Verhaltensweisen anzutrainieren.

  6. Vielen Dank für den Beitrag. Die Wut ist gerade so präsent. Ich weiß gerade einfach nicht, was mit mir los ist. Ich habe im Moment das Gefühl, keine gute Mutter zu sein. Ich habe so einen wundervollen kleinen Jungen und er hat es einfach nicht verdient meine Wut mit voller Wucht mitzubekommen. Es gibt zwei Punkte um Alltag, die mich so sehr zu triggern scheinen, dass ich nicht anders kann, als wütend zu werden. Und ja, nach bereits kurzer Zeit ist die Wut verpufft und es tut mir so unendlich leid. Ich habe das Gefühl kraftlos zu sein. Ich muss unbedingt versuchen etwas zu ändern und werde es damit versuchen mich ein paar Sekunden aus der Situation zu entfernen. Ich hoffe es klappt.

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