Die freie Bewegungsentwicklung von Kindern unterstützen

Es gibt Aspekte der kindlichen Entwicklung, die für uns offensichtlicher sind und solche, die weniger sichtbar sind. Oft orientieren wir uns an den großen Meilensteinen, beispielsweise wenn das Kind die ersten Worte sagt oder danach, wenn es Zweiwortsätze spricht, oder wenn es mit dem Krabbeln beginnt oder dem Laufen. Alle Entwicklungen bestehen aber eigentlich aus vielen kleinen Bausteinen auf dem Weg zu einer Veränderung. So verhält es sich bei der Sprache ebenso wie beim Sozialverhalten oder der Motorik. Und damit diese einzelnen Schritte schließlich zu dem führen, was wir als “großen Meilenstein” betrachten, braucht das Kind die Chance, sich dorthin zu entwickeln und quasi einen Baustein auf den anderen zu setzen oder einen Schritt nach dem anderen zu bewerkstelligen. Gerade auch bei der Bewegungsentwicklung ist es wichtig, dass das Kind die Chance hat, sich zu erproben.

Raum für Entwicklung

Schon in den ersten Monaten brauchen Kinder die Chance, ihren Entwicklungsimpulsen nachzugehen. Dabei werden sie von ihren Eltern begleitet, die auf eine Balance achten zwischen Anregung und Entspannung: Gerade Babys, die (noch) größere Schwierigkeiten mit der Selbstregulation haben, brauchen oft zur Beruhigung viel Nähe und Körperkontakt, vielleicht in Trage oder Tragetuch und/oder auch mit Hilfe eines Pucksacks oder Pucktuches. Neben diesem Körperkontakt benötigen sie aber gleichsam auch die Möglichkeit, sich mit dem eigenen Körper und der Umwelt vertraut zu machen.

Aus diesem selbständigen Erkunden entwickelt sich in der Rückenlage, dass das Kind zunehmend mehr im Gleichgewicht liegen kann, die Beine an den Bauch anzieht, die Hände vor sich zusammenbringt, sich dann irgendwann zufällig auf die Seite rollt und oft* um den 5. Monat herum die Hände an die Oberschenkel bringt, erste Drehversuche unternimmt und etwas später die Hände an die Füße bringt, bis es die Füße schließlich zum Mund führen kann und die Wirbelsäule so dehnt. Es lernt, sich vom Rücken auf den Bauch zu drehen und wieder zurück, lernt in der Bauchlage die Aufrichtung und Abstützung, spielt auf der Seite, bewegt sich schließlich fort durch robben, rollen und/oder krabbeln, bevor es beginnt, sich hochzuziehen, beim Krabbeln vielleicht ein Bein aufzustellen, sich in den Kniestand zu bringen und schließlich zu stehen und zu gehen.

Mit jedem weiteren Entwicklungsimpuls bauen Kinder auch die körperliche Entwicklung aus: sie entwickeln die Muskulatur, dehnen und strecken sich, erlernen neue Bewegungsabläufe. Oft sind diese einzelnen Erfahrungen der Grundstein, auf dem dann neue Entwicklungen aufbauen. Wir sollten daher nicht unbedacht in diese Entwicklung eingreifen, damit das Kind sicher und selbständig die einzelnen Bausteine der Entwicklung durchlaufen kann. Ein beständig zu frühes Hinsetzen oder Halten zum Laufen kann das Kind (körperlich) überfordern und sich nachteilig auf die Entwicklung auswirken. Vielmehr sollten wir den Raum dafür geben, dass das Kind sich selbständig bewegen kann und die einzelnen Entwicklungsimpulse begleiten und unterstützen.

Manchmal ist dies nicht einfach, wenn das Kind sich beispielsweise gerade umgedreht hat, den kleinen Arm aber noch nicht unter dem Körper hervor ziehen kann. Eltern sind dann schnell versucht, bei dem ersten Anzeichen von Unwohlsein einzugreifen. Auch hier ist es wichtig, auf eine gute Balance zwischen Eingreifen und der Möglichkeit zur Selbständigkeit zu achten, damit das Kind durch die Bewältigung von Hürden Selbstwirksamkeit erfährt und sich nicht beständig passiv und auf Hilfe angewiesen fühlt. Merken wir allerdings, dass das Kind ein Problem nicht allein bewältigen kann, ist sanfte, liebevolle Unterstützung eine gute Hilfe.

Schon im ersten Jahr brauchen Babys neben Nähe also die Freiheit für die persönliche Bewegungsentwicklung. Das bedeutet:

  • Zeit, sich frei zu bewegen,
  • die Möglichkeit, dies tun zu dürfen,
  • körperliche Freiheit für die Bewegung (nicht eingeengt und durch enge Kleidung in der Bewegung behindert)

Auch große Kinder brauchen Raum

Aber auch nach dem ersten Jahr ist es wichtig, Kindern den Raum für Bewegungsentwicklung zu geben. Auch wenn Kinder schon laufen können, ist die Bewegungsentwicklung noch nicht abgeschlossen. Nun wird auch hier weiterhin verfeinert und Kinder lernen das Hüpfen, das Schleichen, das Rennen und Stoppen, das Klettern und Balancieren und die vielen anderen Bewegungsmöglichkeiten. Für all dies brauchen sie auch weiterhin passende Möglichkeiten.

Insbesondere draußen können Kinder diesen Entwicklungsimpulsen nachkommen, wenn sie Orte haben, an denen eine Vielzahl an Bewegungsmöglichkeiten umgesetzt werden können und sie sich körperlich ausprobieren können: auf Spielplätzen, im Wald, auf dem Feld.

Nicht aus Angst einschränken

Wichtig ist, dass Eltern den Bewegungsdrang des Kindes und die dahinter stehenden Entwicklungsimpulse erkennen und das Kind nicht aus Angst und Vorsicht beständig einschränken. Auch die Auswahl der Kleidung ist bei größeren Kindern weiterhin wichtig, damit sie auch wirklich ungehindert klettern und spielen können.

Gerade in den kühleren, regnerischen Monaten wird der Bewegungsdrang des Kindes manchmal zu einer Herausforderung, wenn Eltern nicht mit dem Kind hinausgehen wollen, aber zu Hause nicht gerannt/getobt/gehüpft/geklettert werden soll. Hier prallen dann kindliche Bedürfnisse und elterliche Wünsche oft zusammen und führen zu Streit. Mit dem Wissen jedoch, dass Bewegung ein Grundbedürfnis des Kindes ist und mit dem aktuellen Lernen in Verbindung steht, mag es einigen Eltern leichter fallen, mit dem Wunsch des Kindes entspannter umzugehen und gemeinsame Wege für einen entspannten, bewegungsreichen Alltag zu finden. Das können dann bewusste Spaziergänge und Ausflüge sein oder ein aufgebauter Bewegungsparcours aus Tischen und Stühlen, ein Klettergerüst oder eine Sprossenwand in der Wohnung. Und vielleicht eine Verabredung mit den Nachbarn, zu welchen Uhrzeiten eine Rennstrecke in der Wohnung möglich ist oder eine Hüpfparty passt.

Eure

Zur Autorin:
Susanne Mierau ist Diplom-Pädagogin (Schwerpunkt Kleinkindpädagogik) und Familienbegleiterin. Sie arbeitete an der FU Berlin in Forschung und Lehre, bevor sie sich 2011 im Bereich bedürfnisorientierte Elternberatung selbständig machte. Ihr 2012 gegründetes Blog geborgen-wachsen.de und ihre Social Media Kanäle sind wichtige und viel genutzte freie Informationsportale für bedürfnisorientierte Elternschaft und kindliche Entwicklung. Susanne Mierau gibt Workshops für Eltern und Fachpersonal und spricht auf Konferenzen und Tagungen über kindliche Entwicklung, Elternschaft und Familienrollen.

Foto: Ronja Jung für geborgen-wachsen.de

* Die Bewegungsentwicklung ist sehr individuell und es gibt zwischen einzelnen Kindern erhebliche Schwankungen darin, welche Bewegungsart wann erfolgt.

1 Kommentare

  1. Daniela Sutter

    Liebe Susanne
    Vielen Dank für deinen tollen Beitrag! Meine Tochter (16 Monate) ist sehr Bewegungsfreudig und kann kaum eine Minute ruhig sein. Ständiges rumgewusel, gehüpfe, springen, verstecken spielen etc ist normal. auch möglichst draussen sein braucht sie unbedingt. Auch wenn sie mein Mann und mich immer wieder sehr herausfordert, da wir nur ruhige Minuten haben wenn sie schläft, finden wir unsere Tochter genau richtig so wie sie ist. Die wilde Art unserer Tochter kommt nicht bei allen gut an. Ihre Grossmutter zum Beispiel betitelt sie als ständig unruhig, nicht normal, als zu wild, anstrengend und als nicht “hütbar” und dass wir sie zu fest verwöhnen würden indem wir mit ihr viel spielen. Werde ihr deinen Blog als Lektüre empfehlen. Vielleicht hilft ihr ein Sichtwechsel. Ich denke, dass bei ihr die gesellschaftlichen Normen und Erwartungen der alten Schule noch stark präsent sind und stereotype Vorstellungen von Mädchen ihre Sicht- und Denkweise prägen. Leider, da wir in ständiger Diskussion mit ihr deswegen sind.
    Dein Blog bestärkt mich aber sehr in unserem Weg als Familie. Danke dir dafür!
    Grüsse dich, Daniela

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