Manchmal erreicht mich die Frage, ob es denn dann alles ganz einfach wäre mit den großen, geborgenen Kindern und wann die „anstrengende“ Zeit mit Kindern aufhören würde. Denn wenn wir ihnen einen guten Start gegebene haben, dann haben sie ja ein sicheres Fundament für die Zukunft und sind selbstsichere, starke Persönlichkeiten, die folglich mit den Unwägbarkeiten des Lebens gut umgehen können – so die Theorie.
Das stimmt auch, aber dennoch treffen sie eben auf die Unwägbarkeiten des Lebens und müssen mit ihnen umgehen, begleitet durch uns, solange sie uns dafür brauchen. Und an manchen Stellen ist es für Kinder, die eben in einer neuen Erziehungsgeneration aufwachsen, auch nicht so einfach, wenn sie mit anderen Erziehungsmodellen konfrontiert werden. Das bedeutet nicht, dass es nicht richtig wäre, sie so wachsen zu lassen, wie wir sie heute wachsen lassen. Es bedeutet aber, dass es eben auch weiterhin Begleitung und Verständnis braucht.
Wenn demokratische Kinder größer werden
Wie ist es, wenn Kinder größer werden, die es von Anfang an gewohnt sind, an Entscheidungen Teil zu haben, die ihre eigene Meinung einbringen dürfen und über ihren Körper selbst entscheiden können? Sie werden den Diskurs auch weiterhin mit uns austragen. Sie sagen: „Nein, ich möchte nicht, weil…“ oder „Nein, das ist nicht richtig, weil…“ oder sie bringen auf einmal ihre ganz eigenen Vorstellungen über Recht und Unrecht mit ein und entschließen sich, bestimmte Dinge zu boykottieren. Vielleicht bäumen sie sich auf und protestieren für oder gegen etwas und setzen sich für sich und ihre Rechte ein. Und so manches Mal gehen sie vielleicht einen ganz anderen Weg, als wir es wünschen und werfen unsere Werte über Bord. Sie haben gelernt, dass sie eine Stimme haben und wenden diese an. Sie diskutieren und überlegen und machen sich ein eigenes Bild von der Welt.
Wir sind so schnell verleitet dazu, anzunehmen, dass durch ein bedürfnisorientiertes Familienleben die Kinder verständnisvoll und entspannt wären und es einen Zeitpunkt geben könnte, an dem sie eben ganz eingefügt sind in das Familienbild, das wir zu vermitteln versuchen. Das mag sicherlich auch daran liegen, dass in uns noch immer der Gedanke verankert ist, dass Erziehung zu Anpassung führt und Kinder Gefäße wären, die von uns gefüllt werden.
Aber es ist eine Fehlannahme, dass Bedürfnisorientierung zu einer Anpassung führen würde. Unsere Kinder haben ein sicheres Fundament, haben Empathie erfahren und können selbst emphatisch sein. Sie haben gelernt, dass das Leben auch aus Verhandlungen besteht, aus Gesprächen und Diskurs. Und diesen Diskurs tragen sie weiter aus, stellen uns in Frage und andere. Das ist nicht einfach, denn die Diskussionen hören eben nicht auf. Aber es ist eben auch das, was unsere Gesellschaft braucht für die Zukunft: Reflexionsfähigkeit, Gesprächskultur, Diskurs und die Beachtung aller auf Augenhöhe. Geborgene Kinder sind keine Tyrannen, aber sie sind nicht zwangsläufig bequeme Kinder, denn sie sind mit dem Recht auf eine eigene Stimme groß geworden.
Passen geborgene Kinder in die Gesellschaft?
Es wäre gelogen, zu sagen, dass es kein Konfliktpotential mit sich bringt, wenn die „modernen“ Erziehungshaltungen auf alte Vorstellungen in der Gesellschaft stoßen: Es ist für uns Eltern schwierig, wenn wir in unserem Umfeld unsere Einstellung rechtfertigen und uns dafür einsetzen müssen. Wenn wir im Kindergarten dafür einstehen, dass unsere Kinder nicht aufessen müssen gegen ihren Willen oder keinen Mittagsschlaf machen müssen, wenn sie nicht müde sind.
Wenn unsere Kinder größer werden, stoßen auch sie auf diese Konflikte, die wir früher für sie ausgetragen haben. Sie setzen sich vielleicht zur Wehr gegen Ungerechtigkeit, wenn sie diese in der Schule erleben oder sprechen zu Hause darüber und bitten um Lösung. Wenn verschiedene Haltungen aufeinander treffen, werden sie den für sie gewohnten Weg gehen wollen und sich vielleicht nicht dem Zwang ergeben. Oder sie spüren die Diskrepanz und wir als Eltern müssen sie begleiten und gemeinsam einen guten Weg finden. Wir müssen uns vielleicht mit Erzieher*innen, Lehrer*innen und anderen Eltern auseinander setzen, die andere Vorstellungen haben und Konflikte begleiten, die sich daraus ergeben, dass andere Kinder mit anderen Werten gewachsen sind und verschiedene Vorstellungen aufeinander prallen. Wir müssen vermitteln und auch an einigen Stellen akzeptieren, dass unsere Kinder in der Gesellschaft auch mit anderen Haltungen konfrontiert werden und einen Umgang damit lernen müssen. Wir müssen loslassen und vertrauen und nicht versucht sein, die Kinder einzugrenzen und ihnen Erfahrungen vorzuenthalten, nur weil sie vielleicht nicht ganz mit unseren Gedanken übereinstimmen.
Der Diskurs und die Fragen hören nicht auf
Die Ausrichtung auf Bedürfnisorientierung ist noch relativ neu und wir stoßen in unserer Gesellschaft immer wieder an Grenzen, müssen verhandeln und begleiten. Nein, sie hören nicht auf, die Diskussionen, die Auseinandersetzungen. Kinder, die auf Augenhöhe aufgewachsen sind, sind nicht per se angepasst und der Weg nicht per se einfacher. Das bedeutet aber nicht, dass es das nicht wert wäre, sie weiterhin so zu begleiten und aufwachsen zu lassen. Es wird an einigen Stellen einfacher, aber an anderen nicht. Große Kinder setzen sich auf eine andere Weise mit der Welt auseinander, stellen immer neue Fragen nach dem Leben und den sozialen Beziehungen. Je größer sie werden, desto größer werden auch die Fragen. Aber es sind gute Fragen, es sind gute Diskurse, die zu Veränderungen führen statt zu Stillstand.
Deswegen: Nein, bindungs- und bedürfnisorientiertes Familienleben führt nicht dazu, dass es irgendwann ganz einfach wäre und Kinder nichts mehr in Frage stellen. Es wird anders als in der Baby- und „Trotz“phase, aber Selbständigkeit und Respekt sind immer ein Teil dieses Zusammenlebens und es geht immer um das Aushandeln der Bedürfnisse aller Beteiligten. Aber das ist auch unsere Verantwortung als Eltern, der wir uns nicht entziehen sollten.
Der geborgene Weg ist kein Allheilmittel für Entspannung und Leichtigkeit. Er ist manchmal steinig und anstrengend, aber deswegen nicht weniger wert oder wichtig. Er ist schön, liebevoll und manchmal eben auch schwer. Am Anfang und eben auch später.
Susanne Mierau ist u.a. Diplom-Pädagogin (Schwerpunkt Kleinkindpädagogik)Familienbegleiterin und Mutter von 3 Kindern. 2012 hat sie „Geborgen Wachsen“ ins Leben gerufen, das seither zu einem der größten deutschsprachigen Magazine über bindungsorientierte Elternschaft gewachsen ist. Sie ist Autorin diverser Elternratgeber, spricht auf Konferenzen und Tagungen, arbeitet in der Elternberatung und bildet Fachpersonal in Hinblick auf bindungsorientierte Elternberatung mit verschiedenen Schwerpunkten weiter.