Kategorie: Gastartikel

Übergänge bewusst im Alltag wahrnehmen

Gastartikel von Janna Visser

Übergänge sind Teil unseres Lebens. Einerseits die großen, lebensverändernden Übergänge, wie Umzüge, Trennungen oder Schulwechsel. Andererseits die vielen kleinen Übergänge, die unseren Alltag strukturieren, z. B. das morgendliche Aufstehen, das Verlassen des Hauses oder der Abschied vom Spielplatz. Einige dieser Übergänge gelingen uns leicht und voller Freude, einige können uns belasten. Wir geraten in Stress und manchmal beginnen wir sie zu vermeiden.

Wahrnehmung von Übergängen

Viele Übergänge nehmen wir in unserem Alltag als Erwachsene nicht mehr bewusst wahr. Sie sind für uns unsichtbar geworden. Denn je öfter wir einen Übergang erleben, desto mehr wissen wir, was auf uns zu kommt. Wir können für uns sorgen, etwas vorbereiten und entwickeln Routinen.

Für Kinder können alle Übergänge, die für uns Erwachsene nebenbei ablaufen, neu, spannend und herausfordernd sein. Sie entwickeln in unserem gemeinsamen Alltag Strategien für diese Übergänge und haben diverse Ideen, wie sie diese oder jene Situation gestalten könnten. Diese Ideen passen nicht unbedingt zu unseren Plänen, den Verkehrsregeln oder den Grenzen anderen Menschen. Oft ergibt das Verhalten des Kindes für uns zunächst keinen Sinn und wir finden uns wiederholt in ähnlichen Konflikten wieder. Häufig wissen wir nachher gar nicht genau, was der Auslöser eines Streits war.

An der Seite des Kindes

Bei jedem Übergang werden Kinder, wie wir alle, mit unterschiedlichen, teilweise auch widersprüchlichen, Gefühlen von Freude bis Frustration konfrontiert. Deshalb brauchen sie unsere Unterstützung, um im sicheren Rahmen unserer Begleitung selbst zu erfahren, wie sie ihre Gefühle regulieren und mit welchem Verhalten sie ihre Bedürfnisse am besten erfüllen können.

Der erste Schritt für uns Erwachsene ist dabei die grundsätzliche Wahrnehmung von Übergängen, den dazugehörigen Gefühlen und dem eigenen Umgang damit. Dafür braucht es nicht unbedingt die komplexen und schwierigen Übergänge. Wir können von jedem Übergang lernen, welche Handlungen uns unterstützen. 

Es ist hilfreich sich bewusst zu machen, dass ein Übergang einen Anfang und ein Ende hat und alle Beteiligten Beginn und Abschluss ganz unterschiedlich wahrnehmen können. Das hängt unter anderem von Faktoren wie dem Wissen und der Verantwortlichkeit für Aufgaben rund um den Übergang ab: Beginnt der Übergang mit der Planung und Vorbereitung eines Ausflugs oder mit dem Verlassen des Hauses? Klare Absprachen bezüglich des Ablaufs und der Zuständigkeiten können Übergänge gleichberechtigt für alle sichtbar machen und Konflikte vorbeugen.

Übergänge und Erwartungen

Abhängig davon wie wir Übergänge wahrnehmen und unsere individuellen Rahmenbedingungen aussehen, bewerten wir Übergänge in ihrer Dringlichkeit, Intensität und Bedeutung. Es kann helfen zu schauen was genau wir über den jeweiligen Übergang wissen, woher diese Informationen stammen und was wir erwarten. Wer welchen Übergang für die Erfüllung der eigenen Bedürfnisse braucht, kann Klarheit für die empathische Gefühlsregulation bei uns Erwachsenen – und auch bei den Kindern – geben. Wenn wir lernen, während eines Übergangs unsere (eigenen) Bedürfnisse zu erfüllen, werden wir entspannter und kreativer bei der Lösung von Konflikten.

Nach dem Übergang ist vor dem Übergang

Wie im Projektmanagement oder Profi-Sport ist es während und nach Übergängen lohnenswert zu reflektieren. Kinder profitieren sehr davon, wenn sie beobachten dürfen, wie wir über Situationen nachdenken, alternative Handlungsmöglichkeiten entwickeln und sie daran aktiv teilhaben dürfen. Je nachdem wie unser Alltag gerade aussieht, gibt es mehr oder weniger Raum und Zeit um seine Gedanken zu sortieren. Hier eine Übung für zwischendurch:

Botschaft an mich selbst

Denke an einen kleinen, alltäglichen Übergang aus den letzten Stunden und erzähle deinem Vergangenheits-Ich in einer Nachricht, einer kurzen Notiz oder einer Sprachnachricht davon. Folgende Fragen können dabei helfen:

– Welches Wissen hätte ich gerne zu dem Zeitpunkt des Übergangs gehabt?

– Was hat mir an meinem Verhalten gut gefallen?

– Wer oder was hat mir in der Situation geholfen?

– Welche Tipps gebe ich meinem Vergangenheits-Ich mit auf den Weg?

Je öfter wir einen Übergang erlebt haben, desto mehr lernen wir für uns zu sorgen. Solche Übungen helfen uns dabei, unsere Anteile bei der Erfüllung der eigenen und kindlichen Bedürfnisse zu erkennen. Wir können so gezielt üben, Ideen und Strategien zu sammeln und dadurch mit Klarheit und Flexibilität Herausforderungen in zukünftigen Übergängen begegnen.

Eure

Janna Visser ist Sozialarbeiterin B.A., Erziehungs- und Bildungswissenschaftlerin M.A. und Mediatorin. Sie arbeitete in der Kinder- und Jugendhilfe, Schulsozialarbeit, Bildungsarbeit sowie Forschung und Lehre. Ende 2022 hat sie sich auf die bedürfnisorientierte Begleitung von Übergängen spezialisiert. Ihr Angebot richtet sich an Familien, Erwachsene und Jugendliche sowie pädagogische Fachkräfte & Firmen. Ein Teil ihres Konzepts ist die solidarische Bezahlung nach Ermessen. Mehr über ihre Arbeit erfährst du auf ihrer Seite oder bei Instagram .

Echte Erinnerungen festhalten oder wie wir Kinder bindungsorientiert fotografieren können

Ich erinnere mich an das erste Kennen-Lernen meiner gerade geborenen Tochter und ihrer Oma. Das Kind schlief und seine Großmutter beugte sich voller Begeisterung über es und fotografierte ihm ins Gesicht. Mit Blitz. Und auch später gab es immer wieder Situationen in denen das fotografiert werden von bestimmten Menschen für meine Kinder zu großem Unwohlsein und Unsicherheit geführt hat. Situationen in denen ich das deutliche Gefühl hatte, dass das Fotografieren auf kosten der Bindung ging, zumindest auf die Art und Weise. Ich musste erst lernen, in solchen Situationen einzugreifen und die richtigen Worte parat zu haben. Zum Beispiel zu sagen: “komm, beschäftige dich doch mit deinem Enkel und ich mache ein Erinnerungsfoto von euch beiden zusammen!”.

Ich verstehe das festhalten wollen vom Klein-sein, von den Kindheitsmomenten, das Dokumentieren der Meilensteine und auch ich versuche Täglich Kindheitserinnerungen in Bildern einzufangen, für mich und für meine Kinder. Und seit vielen Jahren auch für andere Familien, denn ich bin dokumentarische Familienfotografin, das festhalten von Kindheitserinnerungen ist mein Beruf.

Das letzte, was ich sagen würde ist, “hört auf eure Kinder und Babys zu fotografieren!“. Ganz im Gegenteil! Aber ich kann ein paar Tipps geben für alle, die die Kindheitsmomente in schönen Erinnerungsfotos festhalten möchten, ohne dabei den Moment zu stören oder den Kindern das Gefühl zu geben, sie müssten in irgendeiner Weise etwas für die Kamera tun oder sein.

Keine Aufforderungen beim fotografieren

Wenn wir Bilder machen wollen, die es später schaffen uns in der Zeit zurück zu versetzen und uns zu erinnern, wie unsere Kinder in dieser besonderen Phase waren, was sie gespielt haben und welchen Gesichtsausdruck sie dabei hatten, dann sollten wir keine Aufforderungen beim fotografieren machen. Wenn wir nicht eingreifen sondern einfach still und unauffällig die Situation nebenbei fotografieren, gelingt es echte Erinnerungen einzufangen. Viele von uns sind so sozialisiert, dass wir es gewohnt sind für ein Foto zu lächeln und in die Kamera zu schauen. Und auch unsere Kinder möchten kooperieren und werden schon nach wenigen Malen “guck mal in die Kamera” oder “lächel mal in die Kamera” in die Kamera schauen und ein Lächeln aufsetzen, sobald sie eine Kamera sehen. Das nicht zu tun, bedeutet nicht, dass wir keine Portraits von unseren strahlenden Kindern mehr machen, aber es bedeutet, dass wir auch all die anderen Momente ohne zu stören dokumentieren können und dass wir, wenn wir ein Lächeln fotografieren, ein echtes Lächeln fotografieren können, das uns bestimmt ist und nicht der Kamera.

Die Kamera nicht vor dem Gesicht halten sondern durch den Bildschirm fotografieren

Die meisten haben mittlerweile eine Kamera, mit der man nicht nur durch den Sucher fotografieren kann sondern auch über den Bildschirm. Der Vorteil davon ist, dass wir nichts vor dem Gesicht haben, das den Augenkontakt stört. Wir können auch beim fotografieren weiter in Beziehung gehen, uns unterhalten und mit unseren Kindern im Moment sein. Das Fotografieren geschieht mehr nebenbei und es gelingt sogar, das Kind oder die Kinder aus Elternsicht zu fotografieren. Die verschiedenen Ausdrücke meiner Kinder, wie sie mich ansehen und meine Sicht auf sie ist definitiv etwas, an das ich mich erinnern möchte!

Frage dich: “Woran möchte ich mich erinnern”?

Wenn wir uns selbst fragen, woran wir uns erinnern möchten und auch, woran möchte ich, dass sich meine Kinder später erinnern, dann gelingt es uns besser, genau diese Momente in Erinnerungsfotos einzufangen. Es hilft, diese Dinge auch ab und zu aufzuschreiben. Zum einen ist es auch in geschriebenen Wort eine Dokumentation dieser Dinge, die uns helfen wird sie zu erinnern. Und zum anderen hilft es uns, Bilder von genau den Momenten, Situationen, Beziehungsmomenten und Eigenheiten unserer Kinder zu machen, die wir aus ihrer Kindheit erinnern möchten. Stell dir vor, du hast in 30 Jahren eine Kiste mit Fotos, die deine Erinnerung stützen an all die Details der Kindheit, die du jetzt so gern festhalten möchtest.

Kommuniziere mit den Kindern, warum du fotografierst

Meine Kinder sind es so gewohnt, nebenbei fotografiert zu werden und es ist sogar so, dass sie es nicht nur tolerieren sondern mögen. Ich denke, das liegt vor allem daran, dass ich ihnen sage, dass ich diesen Moment mit ihnen so schön finde, dass ich ihn erinnern möchte. Und dass es Momente sind, in denen ich ganz bei ihnen bin und nicht nebenbei Haushalt mache oder an vielen Dingen gleichzeitig bin, wie es so oft ist im Familienalltag. Zu sagen, es ist so schön mit euch und ich möchte mich daran erinnern ist ja eine Anerkennung und Wertschätzung. Genau wie es die Fotobücher ihrer Kindheit sind, die sie sich so gern anschauen. Es ist etwas völlig anderes zu sagen: “bitte lächel in die Kamera, ich möchte ein hübsches Foto machen” als “es ist so schön mit dir, ich möchte diesen Moment gern festhalten damit wir uns gemeinsam später daran erinnern können”.

Sei Vertrauensperson, auch beim fotografieren

Ich sehe oft einen gewissen Humor in dem fotografieren von Kindern, den ich kritisch sehe in Bezug auf die Beziehung. Und damit meine ich nicht die Art von Humor, bei der wir uns mitfreuen über den Kinderquatsch, es gibt durchaus wundervoll lustige Momente die wir auch fotografieren können. Was ich meine, ist ein Humor über Kinder, der eher ein sich lustig machen ist. Ich glaube, dass es auch beim fotografieren von Kindern durchaus zu Vertrauensbrüchen kommt. Ich erlebe das viel, wenn Kinder verzweifelt weinen und dabei fotografiert werden. Das wird oft als Vertrauensverlust erlebt, denn wie kann die Vertrauensperson ein Bild machen, wenn ich in größter Not und Verzweiflung bin? Und dieses Bild auch noch in einem Fotoalbum für alle zur Schau stellen? Es gibt auch Kampagnen die sich mit der Ethik von Kinderbildern im Internet beschäftigen, die sich mit einer ähnlichn Frage auseinander setzen. Wie würdest du dich fühlen, wenn Jemand dich in dieser Situation fotografiert? Und es veröffentlicht? Ich denke, das ist eine gute Frage, die wir uns stellen können, wenn wir Bilder von unseren Kindern machen. Und in Bezug darauf, dass wir Erinnerungen an Kindheit festhalten möchten, hilft es ungemein, wenn die Kinder uns Vertrauen und entspannt sind, auch wenn wir die Kamera dabei haben.

zur Autorin:
Marcia Friese ist Fotografin und für dokumentarische Familien- und Geburtsfotografie, fotografiert für Magazine und Fachzeitschriften, gibt Workshops für (angehende) Fotografinnen. Zusammen mit Hebamme Jule Tilgner hat sie 2019 das Buch “Mutter werden” veröffentlicht. Mehr über ihre Arbeit erfährst du hier auf ihrer Seite, auf Instagram oder Facebook.
Hier bekommst du von Marcia noch einmal 10 Tipps für bedürfnisorientierte Fotografie

Die Entdeckung des “Ich” als Elternteil entspannt begleiten

Die Trotzphase, wie sie im Allgemeinen genannt wird, erscheint neben der Pubertät vielen Eltern als sehr große Herausforderung und ist nicht selten von vornherein mit Angst oder zumindest großem Respekt verbunden. Manche Eltern trifft diese Phase auch mit voller Wucht und sie erkennen ihr Kind nicht mehr wieder. Jedes Kind verhält sich anders – das eine laut, das andere leise, das eine wild, das andere schüchtern. Eines aber haben sie gemeinsam: Sie sind auf der Suche nach dem Ich und entdecken ihre Autonomie, also ihre Selbstständigkeit. Es ist an uns, sie in dieser Phase zu begleiten und ihnen bei der Suche danach zu helfen.

Trotzphase? Autonomiephase? Ich-Phase? Eine besonders herausfordernde Zeit für alle

Es steht außer Frage: Die Trotzphase, oder wie wir sie lieber nennen „Autonomiephase“ oder „Ich-Phase“, ist eine ganz besondere Phase im Leben deines Kindes, in der sich ihm plötzlich ganz neue Möglichkeiten bieten. Aus einem scheinbar kleinen hilflosen Baby wird ein selbstbestimmtes Kind. Diese Phase ist eine der wichtigsten Phasen in der frühkindlichen Entwicklung und prägt das Zusammenleben in der Familie sehr. „Ich kann das allein! Auf gar keinen Fall sollen Mama oder Papa dabei helfen!“, ist das Motto. Was für eine Aufgabe! Das Kind ist zu Recht vom eigenen Ich völlig fasziniert. Leider aber funktionieren noch nicht alle Dinge so schnell und auf Anhieb, wie es sich alle Beteiligten vielleicht wünschen würden. Großer Frust, Wut und Tränen sind oft vorprogrammiert. Dein Kind rüttelt gewaltig an deinen Nerven und denen seines Umfelds. Die eigene Frustrationstoleranz, die erst aufgebaut und entwickelt werden muss, wird jeden Tag mehrfach auf eine harte Probe gestellt.

Es gibt keine pauschalen Antworten und Tipps

Nicht jeder Impuls oder jede Idee passt für jedes Kind und deren Familie. Was bei dir und deinem Kind funktioniert, kann bei deiner Nachbarin und ihrem Kind im gleichen Alter überhaupt nicht funktionieren. Manchmal muss man ausprobieren und verschiedene Möglichkeiten im Kopf haben – und viel Geduld.

Ein kreativer Umgang mit herausfordernden Situationen kann beispielsweise sein:

  • eine Kleiderstraße zu legen für das Anziehen morgens
  • abends ein “plattes Kind” auf den Fußboden legen mit der Kleidung für den nächsten Tag
  • passende Bilderbücher zu Themen gemeinsam ansehen
  • Rituale für den Alltag entwickeln
  • eine Ja-Umgebung zu Hause gestalten
  • in schwierigen Situationen mit Fremden auf eine vorher zurechtgelegte Liste mit Antworten zurückgreifen

Was heute nicht klappt, klappt vielleicht morgen. Oder nächste Woche. Umgekehrt gilt auch, was heute wunderbar funktioniert hat, muss morgen nicht zwangsläufig genauso gut funktionieren. Es ist also vielseitig. So vielseitig wie dein Kind in der Autonomiephase auch. Es braucht dabei deine Begleitung, dich als Kompass, deine Liebe. Du selbst brauchst eine fast schon stoische Gelassenheit und ein ziemlich dickes Fell, um wirklich entspannt da durchzukommen. Und selbst dann wird es Tage geben, da wirst du am Abend völlig entnervt über dich und deine Reaktionen auf einzelne Situationen mit deinem Kind, unzufrieden ins Bett gehen. All das ist „normal“. All das beschreibt das Leben mit einem Kind in der Autonomiephase. Auch für dein Kind ist diese Phase sehr anstrengend, zwiegespalten, herausfordernd, verwirrend.

Was aber dennoch immer wichtig ist

Das Wichtigste in der Begleitung – ob zu Hause oder in der Kita – ist: den Druck herauszunehmen, sich in das Kind hineinzuversetzen und einen Perspektivwechsel zu vollziehen. Die meisten Eltern sind bemüht, entspannt und liebevoll durch diese Zeit zu kommen und geben jeden Tag ihr Bestes. Als Pädagoginnen geben wir folgende Säulen für deinen entspannten Umgang mit:

  1. Du brauchst Zeit und Geduld
    Wir wissen: das ist gar nicht so einfach. Es ist anstrengend, immer und immer wieder mit dem Kind in Beziehung zu gehen und Verständnis zu haben. Dennoch: Regulation baut sich mit der Zeit aus und braucht unsere Begleitung. Nimm dir Zeit für dein Kind, für euch, aber auch für dich allein, damit du wieder Kraft tanken kannst.
  2. Die Außenwelt hat manchmal wenig Verständnis – lass dich davon nicht verunsichern
    Es ist gar nicht so leicht, sich ein “dickes Fell” zuzulegen. Denk dran: Nicht du bist zu unhöflich, wenn du dir eine Einmischung verbittest, dein Gegenüber ist es, wenn es sich ungefragt einmischt.
  3. Sei “perfekt unperfekt”
    Oft haben wir viele Gedanken dazu, wie Elternschaf sein muss, was wir leisten müssen. Aber diese Ansprüche sind oft nicht notwendig, unsere Kinder wachsen wunderbar auch mit viel weniger. Nimm den Druck raus.

Deine Barbara + Lisa

Zu den Autorinnen:
Barbara Weber-Eisenmann ist Diplom-Sozialpädagogin, Bloggerin und Mutter. Als langjährige Leiterin im Kita- und Grundschulbereich weiß sie, welche Sorgen und Fragen Eltern während der Kleinkindzeit haben. Barbara ist auf Twitter und Instagram zu finden.
Lisa Wurzbach unterstützt als Fachberaterin Kindertageseinrichtungen bei pädagogischen Fragen zur kindlichen Entwicklung. Lisa ist ebenfalls auf Twitter und Instagram zu finden.
Gemeinsam haben Barbara und Lisa das Buch “Liebevoll durch die Trotzphase” geschrieben.

Foto: Ronja Jung für geborgen-wachsen.de

Buchvorstellung: „Miteinander durch die Babyzeit“ – Ankommen im Familienleben

„Jetzt seid Ihr Eltern!“ wird gerne gesagt, sobald ein Baby geboren wurde. Aber ich erinnere mich noch gut daran, wie ich in den ersten Wochen nach der Geburt unsers ersten Sohnes 2005 das Gefühl hatte, irgendjemand müsse doch jetzt wirklich endlich mal klingeln und mir sagen, wie das alles funktioniert mit diesem kleinen Menschen. Irgendwann war endlich das Gefühl da „Okay, das ist mein Kind. Ich bin die Mama!“, aber so richtig sattelfest und sicher habe ich mich weiterhin nicht gefühlt. Nur die Verbindung war endlich richtig da. Ich hatte die Aufgabe angenommen – aber wie man „eltert“ musste ich noch lernen!  

So geht es den meisten Eltern mit ihrem Baby. Das Kind muss sich entwickeln – aber wir Großen auch. Und das in einer Zeit, die unglaublich fordernd sein kann (Kein Schlaf! Dinge laufen anders als erwartet! Langeweile! Was ist eigentlich mit der Partnerschaft? Und wie geht es uns finanziell?). Selbst für mich war das schwierig, obwohl ich als Pädagogin viel theoretisches Wissen hatte und auch insgesamt ein ganz gutes Bauchgefühl. Aber das fällt alles immer mal wieder hinten runter, wenn du mit einem eigenen Kind emotional so stark verbunden bist. So klopften auch bei mir Glaubenssätze, innere und äußere Kritiker:innen sowie Überforderung und Druck an. Zum Glück hatte ich gute Begleitung. Und die wünsche ich dir auch.

Ein Beispiel zu den inneren Glaubenssätzen aus meinem Buch “Miteinander durch die Babyzeit“:

Schreien kannst du durchaus als etwas Positives sehen – versuche es mal.
Denn dein Baby kommuniziert mit dir, es sucht dich, es will mit dir in Verbindung gehen. Und es lässt raus, was sich an Stress angesammelt hat. Dein Baby ist nämlich gar kein so „hilfloses kleines Würmchen“, wie es den Anschein hat. Allerdings braucht es dich als Gegenpart, um richtig stark sein zu können.

Bindungs- und beziehungsorientierte Begleitung für dich

Dein Baby ist noch ganz neu in dieser Welt und doch ist ihm nicht alles fremd, denn es bringt bereits einige Fähigkeiten mit ins Leben und hat auch im Bauch schon viel mitbekommen. Nicht alles, was dein Säugling zeigt, ist tatsächlich angeboren, sondern hat sich vielleicht erst in der Schwangerschaft entwickelt. Diese neun Monate haben bereits eine große Bedeutung. Mit diesen Startbedingungen geht es in den ersten sechs bis acht Wochen für dein Neugeborenes vor allem um Anpassung: Töne, Temperatur und Bildeindrücke sind anders als im Bauch, das Fruchtwasser, in dem es sich so leicht gefühlt hat, ist weg und so vieles mehr.

Unsere Babys sind, anders als viele Tiere, keine „Nestflüchter*innen“, die rasch ohne Eltern auskommen, aber auch keine „Nesthocker*innen“, die viel allein sein können, wenn die Eltern Nahrung organisieren. Sie sind auf eine enge Verbindung angewiesen und wahre Traglinge: „Nimm mich überall mit hin!“ Erst einmal ins Wochenbett, aber dann wirklich an jeden anderen Ort. Am liebsten auch aufs Klo!

Sie fordern Sicherheit, Nähe und Beziehung ein, notfalls mit Lautstärke. Denn nur so gestärkt können sie sich optimal an alles anpassen, was die Welt von ihnen erwartet. Du darfst diese Welt anfangs für dein Baby gestalten.

Komplexe Gedanken kann dein Baby natürlich noch nicht fassen, aber dennoch spielt sich schon sehr viel in seinem Kopf ab. Es nimmt seine Umwelt wahr und lernt von Anfang an – das begann schon im Bauch der Mutter. Die Eindrücke sammelt es wie auch wir Großen über seine Sinne, die aber anfangs noch beschränktere Möglichkeiten haben als unsere und sich über einen längeren Zeitraum erst entfalten müssen. Anfangs nimmt dein Baby alle Eindrücke noch vorwiegend getrennt auf, doch auf seinem Entwicklungsweg werden die Wahrnehmungen rasch zusammengeführt: Dann schaut es beispielsweise danach, was es gefühlt oder gehört hat, weil alle Sinnesorgane und das Gehirn sich verknüpfen. Das kannst du unterstützen, indem du alle Sinne spielerisch ansprichst und zu viele Eindrücke auf einmal vermeidest.

Auch Gefühle spielen ins Denken hinein – je jünger ein Mensch ist, desto stärker. Ihnen widmen wir uns im nächsten Abschnitt.

Was kann dein Baby schon? – Das erfährst du beispielsweise im Buch:

Babys kann man nicht befragen. Aber durch das Beobachten ihrer Reaktionen auf Temperatur, Schmerzen, Druck, Berührungen und weitere Reize, sowohl im Bauch der Mutter als auch im ersten Lebensjahr, ist viel über ihre angeborenen und seit der Frühschwangerschaft erworbenen Fähigkeiten bekannt. Wie gut sie wahrnehmen und diese Wahrnehmungen verarbeiten, ist schon von Geburt an individuell verschieden: Einige Babys sind besonders aufmerksam und feinfühlig, andere eher zerstreut bis unempfindsam. Letztere brauchen etwas mehr Zeit und über die Jahre vermutlich mehr Unterstützung beim Wahrnehmen, bei der Reizverarbeitung und in Bezug auf ihre Reaktionen.

Fühlen

Dein Baby fühlt mit jedem Millimeter seiner Haut und besonders stark mit den Lippen. Durch Daumennuckeln und Fruchtwassertrinken hat es diese im Bauch schon gut genutzt. Weitere sensible Bereiche sind die Handinnenflächen, die Fußsohlen und auch die Genitalien, weil die Haut dort über viele Rezeptoren, also Reizaufnehmer, verfügt. Sei also besonders behutsam, wenn du dein Kind dort berührst. Es wird die Gefühle mögen, aber eventuell auch rasch überreizt sein und benötigt dann die Chance, sich abwenden zu dürfen. Solange es das noch nicht aus eigener Muskelkraft kann, musst du vorsichtig darauf achten, ob ihm etwas zu viel wird. Meist kannst du es seinem Blick und seiner Kopfhaltung entnehmen, die signalisieren: „Ich habe genug!“Dein Baby fühlt mit seinem ganzen Körper, beispielsweise wenn du es trägst, und kennt schnell die typischen Tragehaltungen von euch Eltern. Nimmt jemand anderes es auf ungewohnte Weise hoch, kann es dadurch – oft auch in Kombination mit zum Beispiel einem fremden Geruch – erschrecken. Dieser Person, die dann oft traurig ist, kannst du sagen: „Es lehnt lehnt nicht dich ab, sondern ist einfach vorsichtig Neuem gegenüber. Denn das bedeutet Unsicherheit.“ (…)

Sicher Eltern werden

Die Erfahrung aus den Kursjahren und mein Wissen habe ich in mein neues Buch „Miteinander durch die Babyzeit“ gesteckt. Du lernst Entwicklungsmeilensteine kennen, ohne dich unter Druck zu fühlen, weil dein Baby vielleicht später dran ist als andere – mein Buch verzichtet auf zu enge Zeitvorgaben und arbeitet mit Illustrationen, die dich entdecken lassen, wo im Buch du gerade lesen solltest. Du bekommst ganz alltagspraktische Tipps, wie du eure Tage sinnvoll gestalten kannst, ohne dein Kind zu überfordern, ohne dich fürchterlich zu langweilen, ohne dauernde Gedanken an den liegengebliebenen Haushalt zu haben und auch ohne hunderte Euro in Spielzeug investieren zu müssen.

Du bist wichtig

Außerdem erinnere ich dich daran, auch an dich selbst zu denken, denn Beziehungsorientierung heißt nicht nur „Baby, Baby, Baby“. Als deutsche Eltern intensiver damit begannen, sich mit Beziehungsorientierung zu befassen, gingen ihre Blicke erst einmal auf die Kleinen. Das war wichtig: Wir dürfen unsere Kinder heute gut verwöhnen, wir wissen viel über sie. Aber all zu leicht stecken wir all‘ unsere Kraft in diesen Weg und übersehen uns selbst.

Du brauchst Wissen, Verständnis und Mitgefühl – ganz sicher keinen Druck, lebensfremde Prinzipien und Schuldgefühle. Es ist in Ordnung, wenn du auch negative Gefühle bezüglich deiner Elternschaft hast. Das Mitgefühl ist an dieser Stelle angebracht, denn Mama oder Papa zu sein ist oft auch einfach hart. Daran will keiner so gerne denken, denn ein Leben mit Baby soll doch bitte rosarotwattebauschig sein. Viele klammern die Schattenseiten daher aus, wenn sie von ihrem Leben als Neueltern berichten. Doch es ist sehr viel sinnvoller, sich auch diese bewusst zu machen. Sie müssen nicht auftauchen, können aber. Elternteil eines Babys zu sein, ist anstrengend, ist herausfordernd, kann wehtun. Und darf auch mal nerven. Wahrscheinlich wirst du immer mal wieder an dir zweifeln. Doch wenn du im Hinterkopf hast, dass das normal ist, kannst du viel selbstbewusster durch dieses Jahr gehen. Elternsein ist nie ein gerader, asphaltierter Weg. Die Umwege und Stolpersteine, der leere Tank und die Panik vor dem aufziehenden Gewitter gehören dazu! Das ist Elternsein. Miteinander lernen, aneinander wachsen. Fern von Bilderbuchperfektion.

Wenn dein Baby leidet, ist es zum Beispiel zwar wichtig, nach den Ursachen zu fragen. Aber es ist nicht notwendig, dass du diese immer erkennst und seine Bedürfnisse zu hundert Prozent erfüllst. Klar, du möchtest gerne die Gründe dafür verstehen, warum dein Kind gerade so und nicht anders ist. Doch für dein Baby ist das nicht immer entscheidend. Ob es unter Zahnungsschmerzen leidet, überreizt ist vom Verwandtschaftsbesuch oder sich im Halbschlaf vor einem Klingeln erschreckt hat – Dein Baby braucht ganz oft die gleiche Lösung: Nähe, Ruhe und vor allem dich!

Ich möchte, dass das erste Babyjahr trotz aller Herausforderungen eine Entdeckungsreise für euch wird: Dein Baby entdeckt sich, dich und die Welt; du entdeckst dein Kind, mit allem was es mitbringt, und dich selbst als Mama oder Papa. Im Spiel und im Alltag kommt ihr euch näher, findet Rituale, könnt gemeinsam wachsen. So kannst du dein Baby in seiner Entwicklung passend begleiten, ihm Urvertrauen schenken, eure Bindung sichern und wirst auch für die Momente gestärkt, in denen es keine richtige Lösung zu geben scheint. Denn auf die Haltung kommt es an.

Ein Jahr wie kein zweites

Machst du dich mit mir auf den Weg durch die Babyzeit? In den Kapiteln „Abreise“, „Aussicht genießen“, „Expedition wagen“ und „Ankunft“ erfährst du jede Menge über Denken und Wahrnehmung, Gefühle und Miteinander, Bewegen und Entdecken sowie Alltagspraktisches, Wissen rund um Selbstfürsorge und den Anstoß dazu, Erinnerungen festzuhalten. Denn die Zeit geht schnell vorbei. Auch die Fragen, wie du im echten Leben sinnvollen Austausch mit anderen Eltern findest, wie dein Baby Spaß an Lebensmitteln bekommt, ob es irgendwann Gleichaltrige benötigt und wie das mit der Außer-Haus-Betreuung gehen kann, habe ich bedacht.

Das Vorwort zum Buch stammt von Dr. Natalie Grams-Nobmann, Ärztin, selbst dreifache Mutter und Autorin von „Was wirklich wirkt – Kompass durch die Welt der sanften Medizin“. Sie schreibt darin unter anderem: „Verunsicherung und Stress können dazu beitragen, dass man nach Antworten und leichten Lösungen sucht, wo es letztlich keine gibt.“ Und genau hier nehme ich dich an die Hand: Ich helfe dir, Sicherheit zu finden, ohne auf falsche Versprechungen hereinzufallen. Mit ganz vielen Tipps aus jahrelanger Arbeit mit Familien.

Deine
Inke Hummel

Zur Autorin:
Inke Hummel ist Autorin, Pädagogin und Inhaberin der Familienbegleitung „sAchtsam Hummel“. Als pädagogischer Coach unterstützt sie Familien im ersten Babyjahr, in der Kindergarten- und Grundschulzeit und in der Pubertät. Besonders häufig begleitet sie Eltern mit gefühlsstarken oder schüchternen Kindern und verhilft ihnen zu einer gelingenden Eltern-Kind-Bindung. Im Netzwerk „Bindungs(t)räume“ setzt sie sich dafür ein, dass Eltern und Pädagogen die Bedürfnisse von Kindern besser verstehen. Sie ist Mutter von drei Kindern.

Foto: Inke Hummel

«Bauch frei!» – Ein Plädoyer für eine selbstbestimmte Schwangerschaft von Marlene Hellene

Schwangerschaft und Geburt sind eine besondere Zeit für Gebärende. Nicht “nur” aufgrund der vielen (neuen) Erfahrungen, sondern auch durch die gesellschaftlichen Rahmenbedingungen, Erwartungen und Zuschreibungen. Die Autorin Marlene Hellene hat sich in ihrem neuesten Buch «Bauchfrei!» dieser Zeit gewidmet und zeichnet ein Bild jener Einflüsse nach, über die viel zu wenig gesprochen wird: Sie schreibt über Zweifel, Ängste, Schmerzen, Anstrengungen, Hebammenmangel, Übergriffigkeit, Erwartungsdruck und Gewalt. Ein aufklärendes, aufregendes Buch. In das Kapitel “Geburt” könnt ihr hier hineinlesen:

Die Hand auf dem Bauch, der Rücken gekrümmt. Schmerzverzerrtes Gesicht. Taxi. Gib Gas, Mann! Fruchtwasser auf den Ledersitzen. Kreissaal eins ist gleich da hinten. Sie schaffen das! Pressen! Herzlichen Glückwunsch!
Freudentränen, Glück und ganz viel Liebe. Ein wenig verschmierte Wimperntusche. Ein stolzer Vater mit aufgerollten Hemdsärmeln. Ein rosafarbenes, propperes Neugeborenes. Luftballons und Konfetti.

Wäre dieses Buch ein Kinofilm, dann wäre dieses Kapitel jetzt abgeschlossen. Berührende Klaviermusik. Abspann. Ende. Bitte werfen Sie Ihre leeren Popcornverpackungen in die dafür vorgesehenen Mülleimer am Ausgang. Beehren Sie uns bald wieder.

Das Leben, das wahre, das echte schreibt andere Geschichten. Und die wenigsten Geburten, sind für ein amüsierwilliges Kinopublikum geeignet.
Wenn es um Geburten geht hat, jeder eine Meinung. Da weiß jeder etwas. Immerhin ist jeder selbst mal geboren worden. Von Mutti. Und die hat gesagt, dass es gar nicht schlimm und voll unkompliziert war. Und Rüdiger hat gehört, dass Wehen sich ähnlich anfühlen, wie starke Periodenschmerzen. Und Rüdiger muss es ja wissen. Er ist schließlich ein Mann.

Ich habe zweimal spontan, das heißt ohne einleitende Maßnahmen oder technischen Hilfsmittel, geboren. Mein erstes Kind kam sechs Wochen zu früh auf die Welt, was die meisten Leute annehmen ließ, dass die Geburt bei diesem Leichtgewicht einfach gewesen sein müsste. Mein zweites Kind kam innerhalt von neunzig Minuten zur Welt, was wiederum zu der Annahme führte, dass die kurze Dauer die Geburt praktisch zu einem Spaziergang gemacht habe. Ich werde hier nicht genauer ins Detail gehen. Ich kann nur so viel sagen: Nein! Aufgrund der Dauer der Geburt oder des Gewichts des Kindes auf den Verlauf der Geburt zu schließen, ist schon sehr kurzsichtig. Es empfiehlt sich, das sein zu lassen, wenn man niemanden verärgern oder verletzen möchte.

Aber bevor wir uns mit den Danach beschäftigen, sollten wir uns das Davor anschauen. Den Moment vor der Geburt. Wenn es losgeht. Tja, und da fangen die Fragen auch schon an. Wann geht es denn los? Woher weiß ich, dass es wirklich losgeht? Und wie unterscheide ich mögliche Vor- oder Senkwehen von Geburtswehen? Ich weiß nicht, ob Hebammen oder Ärzt:innen dazu eine allgemeingültige Antwort geben können. Eher nicht. Ich jedenfalls kann es definitiv nicht. Als es bei mir richtig losging, als die Geburtswehen einsetzten und das Kind sich auf den Weg machte, wusste ich es einfach. Ich wusste es, weil der Schmerz mich mit einer Wucht und Brachialität packte, dass alles vollkommen klar war. Die Reise hatte begonnen. Und jetzt? Was tun? Wohin gehen?

Ich habe beide Male in einer Klinik mit angeschlossener Neonatologie (Bereich der Kinderklinik, in der sich insbesondere mit Neugeborenen und Frühgeborenen befasst wird) geboren. Bei ersten Mal hatte ich keine andere Wahl. Wer in Deutschland vor der 36. Schwangerschaftswoche entbindet, wird von Kliniken ohne Neonatologie nicht aufgenommen, da davon ausgegangen wird, dass das Neugeborene nach der Geburt die spezielle Betreuung von Fachärzt:innen bedarf. Die Entbindung zuhause oder in einem Geburtshaus kommt bei einer Frühgeburt (vor Vollendung der 37. Schwangerschaftswoche oder mit einem Gewicht von unter 2500 Gramm bei der Geburt) grundsätzlich nicht infrage. Bei meinem zweiten Kind hätte ich theoretisch überall entbinden können. Doch es zog mich an den mir vertrauten Ort zurück.

In Deutschland gilt die freie Wahl des Geburtsortes, das heißt, Schwangere können sowohl in einer Klinik als auch außerklinisch in einem Geburtshaus oder zu Hause gebären (§ 24 f des fünften Sozialgesetzbuches).
Also theoretisch. Praktisch hatte ich die bei meinem ersten Kind nicht. Aus medizinischen Gründen. Die ich respektiere. Mein Neugeborenes war auf sofortige medizinische Hilfe angewiesen. Ein anderer Geburtsort stand nie zur Debatte. Als ich Wochen vor der Geburt in die Klinik kam, hatte ich noch keine Überlegungen über den Ort der Geburt angestellt. Ich hatte keine Vorlieben, ich hatte keine Wünsche. Und ich hatte keine Ahnung. Ich kannte mich nicht aus mit den verschiedenen Möglichkeiten, wo man sein Kind auf die Welt bringen kann. Das Krankenhaus schien mir der gewöhnliche Ort dafür zu sein.
Tatsächlich ist das aber nur eine unter mehreren Möglichkeiten. Wer eine Geburt im Krankenhaus plant, hat schon hier die Wahl. Soll es ein Krankenhaus mit Kinderklinik sein oder ohne? Oder soll das Krankenhaus ein besonderes Konzept für den Kreissaal haben, wie zum Beispiel den hebammenbegleiteten Kreissaal? Darin versteht man die Geburt unter hausgeburtsähnlicher Atmosphäre, nur begleitet durch die Hebamme. Dadurch soll die Geburt natürlicher, intimer und selbstbestimmter sein.


Andere wünschen sich eine Geburt im Geburtshaus. Das ist eine von Hebammen geführte außerklinische Einrichtung. Die Geburt wird ausschließlich von der Hebamme begleitet. Ärztliches Personal steht vor Ort nicht zur Verfügung. Auch hier steht der Wunsch nach Intimität und Selbstbestimmung für viele Frauen im Vordergrund.
Häufig wird die Atmosphäre einer Klinik mit negativen Assoziationen verknüpft. Krankheit. Tod. Schmerz. Angst. Assoziationen, die für viele nicht zur Geburt ihres Kindes passen. Sie möchten eine private Umgebung. Ein freundliches, lebensbejahendes Umfeld. Aus diesen Gründen wünschen sich Schwangere häufig auch eine Geburt zuhause. In ihrem vertrauten Umfeld. In ihren privaten Räumen. Wo sie sich geschützt fühlen.


In Deutschland kommen 98% der Kinder im Krankenhaus zur Welt. Bei einer komplikationslosen Schwangerschaft, die bis zum Ende ausgetragen wurde, käme eine Geburt im Geburtshaus oder zuhause jedoch in Frage. Dass aber dennoch die meisten Geburten im Krankenhaus stattfinden, liegt nicht unbedingt daran, dass Schwangere kein Interesse an anderen Geburtsorten haben. Häufig liegt auch keine medizinische Notwendigkeit zugrunde. Nein, der Grund, warum die überwiegende Mehrheit im Krankenhaus entbindet, heißt Geld. Wieder einmal. Geld, dass Hebammen verdammt noch mal nicht ausreichend verdienen. Geld, das Hebammen fehlt, um die horrende Haftpflichtversicherung zu bezahlen, die sie für die Begleitung außerklinischer Geburten benötigen. Geld, dass junge Menschen davon abhält, den Beruf überhaupt zu wählen. Geld, dass dafür sorgt, dass Hebammenmangel herrscht, dass die Bedingungen für praktizierende Hebammen immer schlechter werden, sodass viele sich schweren Herzens aus dem Beruf zurückziehen. Wir erinnern uns. Über dieses traurige Resultat habe ich bereits berichtet.


Schwangere, die sich einen anderen Ort, als die Klinik für ihre Entbindung wünschen, scheitern oft kläglich bei der Suche. Hebammen, die eine Hausgeburt, eine Geburt im Geburtshaus oder eine Hebammengeburt im Kreissaal anbieten, sind entweder heillos ausgebucht oder im Umkreis der Schwangeren gar nicht erst zu finden.
Einige Schwangere finden nicht mal mehr eine Klinik, in näherer Umgebung. Immer mehr Kliniken schließen ihre Geburtsstationen wegen mangelnder Rentabilität. Sie sind zu teuer. Sie bringen zu wenig ein. Und so ist die freie Wahl des Geburtsortes für viele nur noch eine hohle Phrase.
Und das wird sich auch nicht ändern. Die Bedingungen werden eher schlechter. Jetzt schon werden Schwangere mit Wehen an der Kreisssaaltür abgewiesen. Teilweise müssen Schwangere mit Fahrtzeiten von bis zu sechzig Minuten zum nächsten Kreissaal rechnen. Wenn man bedenkt, dass die schwangere Person Angst und Schmerzen hat, ist das absolut skandalös und indiskutabel.
Dabei – und das möchte ich immer wieder betonen – geht es hier um die Geburt eines neuen Menschen. Es geht um den Erhalt der Menschheit. Eine Geburt ist ein Ereignis im Leben eines Menschen, das mit nichts zu vergleichen ist. Ein Erlebnis voller Kraft und Schmerz. Ein Erlebnis, auf das einen nichts vorbereiten kann, das man nicht zu lernen vermag. Ein Mensch bringt einen Menschen auf die Welt. Sollte eine gebärende Person dabei nicht alle Unterstützung der Welt erhalten? Sollte nicht ihr Wille, ihr Wunsch oberste Priorität haben? Sollten wir als Gesellschaft nicht dankbar sein und alles dafür geben, dass es die gebärende Person so angenehm wie möglich hat? Die Geburt eines Menschen ist mit Geld nicht zu bemessen. Geld darf beim Thema Geburt doch wirklich keine Rolle spielen. Ah, ich will schon wieder schreien, so wütend macht mich dieses Thema. Weil es wieder einmal zeigt, dass Frauen, dass Familien keine Lobby haben.
Die freie Wahl des Geburtsortes. Ein theoretisches Konstrukt, dass viele Gebärende nur noch bitter auflachen lässt.

Aber es ist nicht nur der Ort der Geburt, der Schwangeren durch rigide Sparmaßnahmen in der Geburtshilfe häufig nicht mehr frei zur Verfügung steht. Auch die Betreuung unter der Geburt wird immer schlechter. Weil das Personal fehlt. Weil das Geld nicht mehr ausreicht. Infolgedessen wird die Geburt oft unzureichend betreut. Es fehlt die Zeit, die Schwangere achtsam und behutsam unter der Geburt zu begleiten. Und damit kommen wir zu einem weiteren großen Thema, dass in den letzten Jahren immer mehr an Bedeutung gewinnt. Der Gewalt in der Geburtshilfe.
„Jetzt beeilen Sie sich mal, Ihrem Kind geht es langsam schlechter.“
„Stellen Sie sich nicht so an!“
„Das müssen Sie schon aushalten können.“
„Halten Sie gefälligst still.“
„Hilfe schreien bringt Ihnen jetzt auch nichts mehr. Da hätten Sie vor neun Monaten drüber nachdenken müssen.“
„Die Fruchtblase sollte jetzt endlich mal aufgehen. Lassen Sie mich mal ran. Was? Das tat weh? Dafür geht es jetzt schneller.“
„Kinderkriegen ist nichts für zarte Seelen.“
„Wenn Sie sich jetzt schon so anstellen, wird das nichts mehr.“

Sie haben einige dieser Sätze selbst gehört? Ich auch. Und ich habe sie nicht vergessen. Und auch den körperlichen Schmerz nicht, der an manchen Stellen vermeidbar gewesen wäre. Durch Geduld, durch Feinfühligkeit. Unter der Geburt erleben viele Gebärende das Gefühl des Ausgeliefertseins. Das Gefühl, alleine zu sein. Das Gefühl: Die gegen mich. Du musst schneller sein. Du musst stärker sein. Du musst besser sein.
In der Geburtshilfe ist der Fokus sehr stark auf das Wohl des Kindes ausgerichtet. Das Befinden der Mutter scheint zweitrangig. Dabei ist gute Geburtsthilfe in erster Linie Frauenrecht.

Während der Geburt meiner Tochter wurde ich ohnmächtig. Der Schmerz hat mich überwältigt, der Körper hat die Stopptaste gedrückt. Die sich immer wieder eng zuziehende Blutdruckmanschette an meinem Oberarm holte mich zurück in die Wirklichkeit. Sofort fragte ich, wie es meinem Kind ginge. Die Antwort lautete: „Ihrem Kind geht es gut, nur Ihnen nicht.“ Und sie machte mich glücklich. Diese Antwort. Weil auch mir mein eigenes Befinden völlig gleichgültig geworden war. Es galt, mein Kind unbeschadet zu gebären. Zu jedem Preis. Koste es, was es wolle.
Die gesamte Schwangerschaft über hatte ich gelernt, dass es nicht um mich geht. Ich war nur die Hülle für einen kostbaren Schatz.
Als ich in der 31. Schwangerschaftswoche mit Wehen in die Klinik kam, wurde schnell alles getan, um zu verhindern, dass mein Kind jetzt schon zu Welt kommt. Bettruhe. Wehen hemmendes Medikament intravenös. Engmaschige CTG-Kontrollen. Was jedoch nicht geschah, war, dass sich jemand um mich kümmerte. Um meine Ängste. Um meine Fragen. Ich lag tagelang in meinem Krankenhausbett und wusste nicht, was mit mir geschah. Ich wusste nicht, wie es weitergehen sollte, wie lange ich noch bleiben müsste, was der Plan vorsah. Irgendwann machte der Chefarzt seine große Aufwartung. Älterer Herr. Professor. Doktor. Stethoskop und Gottgefühl. So stand er vor meinem Bett. Sein Anhang bestand aus einer Menge weiß bekittelter Menschen. Ärzte und Studenten. Krankenschwestern. Ich würde die Ärzte, die Studenten und die Krankenschwestern ja gerne gendern. Aber leider war die Geschlechterverteilung so wie geschrieben. Classic. Dennoch. Ich war froh über diesen Besuch. Endlich könnte ich Fragen stellen, Ängste äußern. Endlich kümmerte sich jemand um mich. Und so fragte ich frohen Mutes, wann ich nach Hause dürfe.
„Sie dürfen jederzeit nach Hause. Wenn Sie wollen, dass Ihr Kind stirbt.“ BÄÄÄÄM! Sagte er und verschwand. Eine der Krankenschwestern streichelte beim Rausgehen mit verschämtem Blick mein Bein. Das Geschehene war ihr merklich unangenehm. Aber Widerspruch stand ihr nicht zu.
Sprache kann Waffe sein. Sprache kann aber auch Trost sein. Es liegt einzig an uns, was wir zu geben bereit sind.

Die Soziologin Christina Mundlos hat ein Buch geschrieben „Gewalt unter der Geburt“. Darin spricht sie von fast jeder zweiten Frau, die Gewalt unter der Geburt erlebt hat. Dass überhaupt darüber gesprochen wird, ist neu. Und gut. Denn auch hier befinden wir uns wieder einmal in der Tabuzone. Zum Glück gibt es ein Mittel gegen Tabus. Das Darüber- Sprechen. Tabus hassen das. Dann brechen sie.
Es muss unbedingt darüber aufgeklärt werden, dass derartige Sätze, derartiges Verhalten des medizinischen Personals eben nicht zur Geburt dazu gehören. Es muss so nicht sein. Ganz im Gegenteil. Nur, weil Gewalt (Und lassen Sie uns es endlich so benennen. Nicht unfreundlicher Ton. Nicht ruppiges Benehmen. Nicht schlechte Manieren. Gewalt!) in der Geburtshilfe eine lange schreckliche Tradition hat, ist sie dennoch nicht zu tolerieren, ist sie dennoch kein zwingender Bestandteil. Egal, ob „wir da alle durchmussten“ oder ob „das Kind uns am Schluss für alles entschädigt“ (Was es übrigens nicht tut. Das ist auch nicht seine Aufgabe). Zum Glück schleicht sich so langsam ein Wandel in das Bewusstsein unserer Gesellschaft. Weil Gebärende nicht mehr stumm bleiben. Nicht mehr tolerieren. Das zeigt unter anderem der Rose Revolution Day am 25. November. Betroffene Frauen legen Rosen vor Geburtskliniken, vor Kreissaaltüren nieder. Als sichtbares Zeichen. „Ich habe hier etwas Schlimmes erlebt, und das nehme ich nicht länger hin.“ Und die Vielzahl der Rosen zeigt: Ihr seid nicht länger allein mit euren Erlebnissen. Wir sind viele.

Vordergründig ist es das fehlende Geld, dass dafür sorgt, dass Geburtsstationen schließen müssen, dass eine eins-zu-eins Betreuung durch eine Hebamme unter der Geburt nicht möglich ist, dass weniger Zeit bleibt für einen natürlichen Geburtsvorgang und schneller interveniert wird, dass das medizinische Personal gestresst und desillusioniert ist. Dass es zu Gewalt und Verletzungen kommt. Nun, aber warum fehlt das Geld? Warum wird eine Fluggesellschaft mit Milliarden unterstützt, während in ländlichen Gebieten kaum noch Geburtshilfe angeboten wird? Der Ursprung kennt nur einen Grund: Misogynie. Und damit muss Schluss sein! Gute Geburtshilfe ist Frauenrecht, ist Menschenrecht. Jede einzelne Person auf diesem Planeten hat ein Interesse daran, dafür einzustehen. Wir müssen darüber sprechen. Wir müssen laut werden. Wir müssen aufbegehren.

*

Man denkt, man kann nicht mehr. Man sagt, man kann nicht mehr. Und. Man kann nicht mehr. Keine Sekunde. Keinen Millimeter. Und trotzdem. Trotzdem macht man weiter. Denn es gibt kein Zurück. Es gibt keine Alternative.

Es sind diese Sätze, die mein Denken, mein Fühlen unter den Geburten am besten beschreiben. Es ist keine Kraft mehr übrig. Der Schmerz ist nicht auszuhalten. Lasst mich hier zurück. Doch der Körper übernimmt. Die Wehen kommen, egal wie sehr du flehst, und das Kind bahnt sich seinen Weg aus dir heraus.
Eine Geburt ist eine Extremsituation. Für den Körper. Für die Seele. Man wird mit Schmerzen konfrontiert, von denen man nicht dachte, dass man sie ertragen könnte. Man entwickelt eine Stärke, die man seinem Körper nie zugetraut hätte. Und man lernt seine eigenen Grenzen völlig neu kennen. Nämlich, in der Form, dass es sie nicht gibt. Man ist praktisch grenzenlos in seiner Kraft, in seiner Stärke, im Ertragen. Weil es sein muss. Muss. Muss. Muss.

Doch jede gebärende Person erlebt die Geburt anders.
Grob gesagt, gibt es zwei Arten, ein Kind auf die Welt zu bringen. Vaginal oder per Kaiserschnitt.
Die Kaiserschnittrate lag in Deutschland im Jahr 2018 bei knapp 30 Prozent. Das heißt jede dritte Person hat per Kaiserschnitt entbunden. Im Jahr 1991 lag die Rate noch bei rund 15 Prozent. Selbst mathematisch weniger begabte Menschen wie ich erkennen: Die Rate hat sich in den letzten dreißig Jahren verdoppelt. Was ist da los?
Erstmal vorweg: Die Möglichkeit des Kaiserschnitts ist eine großartige medizinische Errungenschaft. Der Kaiserschnitt hat viele, viele Leben gerettet. Frauenleben. Kinderleben.
Dennoch hat der Kaiserschnitt einen schlechten Ruf. Aus Gründen. Guten Gründen. Schlechten Gründen.

Schauen wir mal hin. Warum ist der Kaiserschnitt kritisch zu betrachten?
Ein Kaiserschnitt ist gut und wichtig, wenn er notwendig ist. Aus medizinischen Gründen, aus psychologischen Gründen, aufgrund der Entscheidung der Gebärenden. Ein Kaiserschnitt, der vorgenommen wird, ohne dass eine dieser Notwendigkeiten dezidiert vorliegt, kann jedoch zum Problem werden. Häh? Aber warum sollte ein Kaiserschnitt vorgenommen werden, wenn er nicht zwingend nötig ist? Tja. Ich wiederhole mich wirklich ungern, und ich will auch niemanden langweilen, aber wieder steckt dahinter eins: Geld. Eine komplikationslose vaginale Geburt wird gegenüber dem Krankenhaus schlechter vergütet als ein Kaiserschnitt. Ein Kaiserschnitt hat einen Zeitaufwand von zwanzig bis dreißig Minuten. Eine vaginale Geburt kann hingegen Stunden bis Tage dauern. Nachts, an Wochenenden und Feiertagen. Das heißt: Viel mehr Aufwand und weniger Planbarkeit für geringe Vergütung. Superschlecht. Für das Krankenhaus gibt es nämlich wirtschaftlich keinen Anreiz eine vaginale Geburt zu fördern. Der sowieso schon bestehende Personalmangel und die Angst bei einer vaginalen Geburt, bei der auch nur das minimalste Risiko zu befürchten ist, möglicherweise Schadensersatzzahlungen zu riskieren, tut sein Übriges.
Ein Kaiserschnitt ist eine Intervention in den Geburtsverlauf, und er kann Folgen haben. Frauen sind bei einem Kaiserschnitt einer dreimal höheren Gefahr ausgesetzt zu sterben, als bei einer vaginalen Geburt. Es kann zu Thrombosen kommen, übermäßigem Blutverlust, Wundheilungsstörungen, Infektionen, Verwachsungen etc. Und auch für das Neugeborene sind möglicherweise Folgen zu erwarten. Zum Beispiel leiden per Kaiserschnitt geborene Kinder häufiger unter Atemproblemen und Anpassungsstörungen. Außerdem erhöht sich bei diesen Kindern geringfügig das Risiko für Allergien, Asthma und Zuckererkrankungen, was möglicherweise mit dem fehlenden Kontakt des Kindes mit der Keimflora im Geburtskanal zu erklären ist.
Absolut aber nicht außer Acht zu lassen sind die psychischen Folgen, die ein Kaiserschnitt als Geburtsintervention, als Vorgabe durch ärztliches Personal, für die gebärende Person haben kann.
„Ich habe es nicht geschafft.“ Das waren die Worte, die eine Freundin nach der Geburt ihres Kindes durch Kaiserschnitt zu mir sagte. Nicht geschafft. Versagt. Und da ist sie wieder. Die Scham. Die Scham, die besonders in der Schwangerschaft ein so großes Thema ist. Ich habe bewusst bisher den Begriff der natürlichen Geburt vermieden. Dabei wird dieser mit vaginaler Geburt gleichgesetzt. Ist überall zu lesen. Synonym. Doch was ist dann der Kaiserschnitt? Eine unnatürliche Geburt? Nicht normal? Und somit auch gleich nicht richtig. Schlechter? Eine Geburt zweiter Klasse? Da zeigt sich mal wieder die Macht der Sprache. Würde gar nicht mehr von einer natürlichen Geburt im Gegensatz zur vaginalen gesprochen, wäre das schon ein erster Schritt. Manche haben schon damit begonnen. Bauchgeburt nennen sie den Kaiserschnitt. Und das finde ich perfekt. Weil es nämlich das wichtige Wort Geburt beinhaltet. Ein Kaiserschnitt ist eine Geburt. Nicht mehr und nicht weniger. Eine Geburt aus dem Bauch heraus.
Wenn diese Art der Geburt aber Frauen wie ein Unfall zustößt, ohne, dass sie ein Mitspracherecht haben, ohne, dass sie die Gründe verstehen, ohne absolute Notwendigkeit und vor allem gegen den Willen der Gebärenden, dann ist es nicht die richtige Art der Geburt für diese Person. Dann kann sie psychische Folgen haben. Depressionen. Störung der Bindung zum Kind. Trauer. Posttraumatische Belastungsstörung. Stillprobleme. Das Gefühl des Betrogenwerdens um das Erlebnis der vaginalen Geburt.

Es gibt aber auch viele Gründe, den Kaiserschnitt, die Bauchgeburt zu feiern.
Wie gesagt, er rettet Menschenleben. Allein dafür verdient er schon richtig viel Applaus. Was er aber noch tut ist, Schwangeren eine Wahl zu geben. Es gibt medizinische Gründe für einen Kaiserschnitt, es gibt psychologische Gründe, es gibt diverse andere Gründe. Und alle sind sie relevant. Und alle gehen sie Dritte nichts an. Und vor allem ist keiner dieser Gründe zu verurteilen.
„Too posh to push.“ Dieser Satz, der mit „zu fein zum Pressen“ übersetzt werden kann, grassierte irgendwann durch die (insbesondere englische und amerikanische) Medienlandschaft. Er wurde immer wieder in großen Lettern auf Klatschblättertitelseiten gedruckt, wenn bekannt wurde, dass irgendeine prominente Person per Kaiserschnitt entbunden hatte. Menschen tippten diesen Satz mit gierigen Fingern und sensationslustig geweiteten Augen in ihre Tastaturen. Menschen, die keine Ahnung hatten, aus welchen Gründen die betreffende Frau auf diesen Weg entband. Sie wussten nicht, ob dies ihrem Wunsch entsprach, welche medizinischen Hintergründe dahintersteckten. Sie wussten nicht, wie es der Frau mit dieser Geburt ging. Sie wussten nicht, ob sie traurig war oder froh. Sie wussten nicht, wer über den Geburtsverlauf entschieden hatte. Sie wussten nichts. Nichts. Nichts. Nichts. Und doch schrieben sie. Weil sie Arschlöcher waren. Halt, für dieses Ausdrucksweise möchte ich mich entschuldigen. Sie waren respektlose, geldgeile Arschlöcher.
Es gibt schwerwiegende körperliche Gründe für einen Kaiserschnitt. Es gibt schwerwiegende psychische Gründe für einen Kaiserschnitt. Wer aber glaubt, Schwangere entscheiden sich für einen Kaiserschnitt, weil dies der „einfachere Weg“ ist, hat mal wieder keine Ahnung. Bei einem Kaiserschnitt wird die Frau lokal oder per Vollnarkose narkotisiert. Danach wird ein zehn bis fünfzehn Zentimeter langer Querschnitt am Unterbauch angesetzt. Dieser Schnitt durchtrennt Haut, Fettgewebe, Körperhülle und die Vorderwand der Gebärmutter. Die Fruchtblase wird geöffnet und das Kind durch die Öffnung herausgezogen, während oberhalb des Schnittes eine weitere Person auf den Bauch drückt. Das Vernähen der Wunde dauert zwanzig bis dreißig Minuten. Am Ende hat man eine Narbe von acht bis zehn Zentimetern. Das erste Mal aufstehen können Frauen nach einem Kaiserschnitt in der Regel am nächsten Tag. Und dieses Aufstehen ist schmerzhaft. Sehr schmerzhaft. Und dieser Schmerz wird die ersten Tage zum ständigen Begleiter. Schließlich handelt es sich bei einem Kaiserschnitt um eine Bauch-OP. Einer großen Bauch-OP. Jeder Person, die per Kaiserschnitt entbunden hat, bleibt zu hoffen, dass ihr Schmerzmittel in rauen Mengen angeboten wird. Die Narbe ist nach ungefähr drei Wochen verheilt. Die durchtrennten Musekelfasern und Nerven brauchen bis zur kompletten Regeneration bis zu einem Jahr.
Klingt das wie ein leichter Weg? Ein Prozedere für Faule? Eben!

Eine Geburt ist kein Wettbewerb. Kein Wettrennen um Ruhm und Ehre. Kein Anlass, um Punkte zu sammeln. Eine Geburt ist eine Geburt. Aus dem Bauch heraus. Vaginal. Ob kurz oder lang, mit großem oder kleinem Kind, mit Interventionen oder ohne, zuhause oder in der Klinik, schwer oder einfach, zum ersten oder achten Mal, laut oder leise. Eine Geburt ist eine Geburt ist eine Geburt ist eine Geburt.

Unvergessen. Ich erinnere mich. An jeden Satz an jedes Wort. An die Schmerzen. Die Kraft. Die Anstrengung. Wie meine Grenzen verschwammen, ich die Kontrolle verlor. Ich rieche das Desinfektionsmittel, sehe die Gesundheitsschuhe der Hebamme, das harte Laken auf dem Kreissaalbett. Höre ihre Stimmen. Spüre die Nadel im Arm, die Hände der Ärztin. Schmecke den lauwarmen Krankenhaustee und mein eigenes Erbrochenes. Und ich fühle. Die Erschöpfung, die Verzweiflung. Die Angst. Die Brachialität und Wucht. Die Wehen, wie Wellen. Nicht zu stoppen. Unbeeindruckt von meinem Flehen.
Und dann. Der Moment, als ich Dir zum ersten Mal in die Augen sah. Ganz dunkel waren sie. Du schautest mich an. Ganz ruhig. Irgendwie wissend. Und dieser Blick überfuhr mich. Knipste ein Licht in mir an. Weckte mich auf. Glück durchflutete mich und Stolz. Ich wollte schreien. „SEHT HER. SEHT ALLE HER. DAS IST MEIN KIND. IN MIR GEWACHSEN. DAS HABE ICH GEMACHT. DAS HABE ICH GEBOREN!“
Adrenalin durchflutete mich wie eine Droge, und ich war vollkommen high. Wie angekommen. Endlich, nach einer langen beschwerlichen Reise. Am Ziel. Du warst da, als hätte ich schon immer auf dich gewartet. Als hätten wir uns schon immer gekannt. Als sollte es schon immer so sein. Und ich konnte nicht fassen, dass die Erde sich einfach so weiterdreht, die Vögel zwitschern, die Sonne scheint, Autos hupend im Stau stehen, Kinder in der Schule sitzen, Menschen Wäsche waschen. Dass sie schlafen, essen, träumen, streiten, arbeiten, sich küssen. Dass sie Gurken und Brot einkaufen, und den Hund ausführen. Ins Handy starren oder ihre Steuererklärung machen. Konnte nicht verstehen, dass die Welt nicht stillt steht. Nur kurz. Um sich zu verbeugen. Vor Dir. Und vor mir.

aus:
Marlene Hellene, Bauch frei
Copyright © 2022 Rowohlt Verlag GmbH, Hamburg

Zur Autorin:
Marlene Hellene, geboren 1979, begeistert auf Twitter und Instagram mit ihren Texten und Tweets. Texte der Autorin erscheinen u. a. in der SZ und regelmäßig in der Brigitte Mom. Ihre Bücher „Man bekommt ja so viel zurück“ und „Zu groß für die Babyklappe“ waren Bestseller. Sie lebt mit ihrer Familie in Karlsruhe.

Glück ist, wenn man so geliebt wird, wie man ist

Dürfen wir dich zu Beginn dieses Artikels zu einer kleinen Reflexion einladen?

Gehe in Gedanken in deine Kindheit und Jugendzeit zurück. Denke an deine engsten Bezugspersonen: deine Eltern, Großeltern oder andere Menschen, die wichtig waren. Welche Erwartungen an dich hast du von wem gespürt? Welche davon konntest du erfüllen, welche nicht? Welchen versuchst du heute noch zu entsprechen? Wie musstest du sein, was musstest du tun, um Liebe und Anerkennung zu erhalten? Und wie hat dich das geprägt?

Wenn du dich mit diesen Erfahrungen beschäftigst, wirst du vielleicht merken, dass sie einen großen Einfluss auf dein Selbstwertgefühl hatten und haben.

Was ist das “Selbstwertgefühl”?

Der Sozialpsychologe Morris Rosenberg definierte 1965 Selbstwertgefühl als eine Haltung oder Einstellung, die wir uns selbst gegenüber einnehmen. Seiner Definition zufolge empfindet sich eine Person mit hohem Selbstwertgefühl als «gut genug»; er glaubt, dass er als Mensch wertvoll ist und kann sich mit seinen positiven und negativen Facetten annehmen – ohne sich deswegen als etwas Besonderes zu sehen oder zu erwarten, dass andere ihn bewundern.

Für die Entwicklung unseres Selbstwertgefühls ist es entscheidend, welche Beziehungserfahrungen wir mit anderen machen. Wenn wir uns geliebt, geborgen, gesehen und angenommen fühlen, wächst unser Selbstwertgefühl. Fühlen wir uns zurückgewiesen, abgelehnt oder kritisiert, macht sich jemand lustig über uns oder zeigt sich verächtlich, dann leidet unser Selbstwertgefühl.

Unser Selbstwertgefühl kann aber nicht nur mehr oder weniger hoch sein, es kann auch mehr oder weniger stark an Bedingungen geknüpft sein.

Wenn Kinder und Jugendliche die Erfahrung machen, dass sie auf eine bestimmte Art und Weise sein oder sich verhalten müssen, um Wertschätzung und Zuneigung zu erfahren, bildet sich ein an Bedingungen geknüpftes Selbstwertgefühl aus. Ein Kind kann beispielsweise erleben:

  • Ich werde geliebt, wenn ich Leistung zeige, gute Noten und sportliche Erfolge erziele.
  • Ich bin nur dann liebenswert, wenn ich brav bin und meinen Eltern gehorche.
  • Damit mich meine Eltern annehmen können, muss ich mich den religiösen Überzeugungen meiner Familie anschließen.
  • Um Liebe und Anerkennung nicht zu verlieren, muss ich darauf achten, immer schlank, gutaussehend und vorzeigbar zu sein.
  • Liebe muss man sich verdienen, indem man besonders hilfsbereit ist und sich für andere aufopfert.

Natürlich finden wir es alle schön, wenn wir Erfolge erzielen, gut aussehen oder anderen Menschen helfen können und reagieren verunsichert, wenn dem nicht so ist. Problematisch wird es, wenn das Selbstwertgefühl so stark an bestimmte Bedingungen geknüpft ist, dass Kinder, Jugendliche und Erwachsene in eine regelrechte Krise stürzen, wenn sie diese für einmal nicht erfüllen können. Wenn sie sich bei einer schlechten Note gleich als Versager abstempeln und sich jede Prüfung anfühlt, als ginge es um Leben und Tod. Wenn sie sich schuldig fühlen, sobald sie eine Bitte ausschlagen oder für ihre Bedürfnisse einstehen. Wenn sie sich als bösen Sünder sehen, weil sie sich „schmutzigen Gedanken“ hingegeben oder unchristlich verhalten haben. Wenn sie sich nicht mehr um einen anderen Menschen kümmern können und sich deswegen als Nichtsnutz oder wertlos empfinden. Wenn sie befürchten, dass ihre Freunde sie nicht mehr mögen oder sie nie eine/n Partner/in finden werden, wenn sie ein, zwei Kilo zunehmen.

Wie Erwartungen uns den Blick auf unsere Kinder verstellen

Hand aufs Herz: Wir alle haben bestimmte Bilder und Erwartungen im Kopf, wünschen uns, dass unsere Kinder bestimmte Eigenschaften, Interessen oder Werte zeigen und reagieren vielleicht auch enttäuscht, wenn unsere Kinder nicht so sind. Vielleicht möchten wir, dass unser Kind besonders sozial und einfühlsam ist und sind irritiert, wenn es sich als dominanter Rowdy zeigt und gerne mit Waffen spielt. Manchmal verstellen uns unsere Wünsche auch den Blick auf das Kind. Sehr treffend drückt das Familylab-Leiter Matthias Volchert aus: „Kann ich dich noch sehen wie du bist, oder bestimmen meine Erwartungen schon mein Bild von dir?“

Ein Kinderbuch greift dieses Thema auf

So geht es auch Jaron, dem jungen Fuchs in unserem Buch „Jaron auf den Spuren des Glücks“. Dieser könnte sich sehr viel Schöneres vorstellen, als am Sonntagmorgen bei einem Fußballspiel auf dem Platz zu stehen. Nur leider hat sein Vater das Gefühl, dass ihm der Sport guttun und ihm dabei helfen wird, mehr Biss und Durchhaltevermögen zu entwickeln:

«Dieses blöde Fußball! Warum muss ich da hin? Vielleicht könnte ich sagen, dass ich krank bin…», denkt Jaron. Aber da schallt ihm bereits ein aufgeregtes «Morgen, Sportsfreund!» entgegen. Papa Fuchs steht am Herd und wendet Pfannkuchen – etwas, das er nur zu besonderen Anlässen tut.

Jaron lässt sich auf seinen Stuhl plumpsen, hängt sich über die Tischplatte und legt den Kopf auf die Arme. 

Ein Turm aus Pfannkuchen schiebt sich in sein Blickfeld. Der Ahornsirup läuft an den Rändern herunter und bedeckt die Himbeeren und die Sahne auf dem Teller. Jarons Lieblingsgericht! Doch heute starrt er mit einem Kloß im Hals auf den süßen Turm, der ihm unendlich groß erscheint. «Ich schaff das nicht», murmelt er.

«Du musst ja nicht alle essen», antwortet Papa Fuchs. «Zwei oder drei Pfannkuchen reichen sicher.» Der Vater klopft ihm auf die Schulter und setzt sich mit einer Tasse Kaffee zu Jaron an den Tisch. «Ist vielleicht sowieso besser. Mit vollem Magen rennt es sich nicht gut. Und wir wollen ja, dass du fit bist heute.»

Leider kann Jaron auch in seiner Mannschaft nicht auf Rückhalt zählen. Nachdem er im Finale den entscheidenden Elfmeter verschossen hat, schließen ihn seine Kameraden vom gemeinsamen Eisessen aus und machen sich über ihn lustig.

“Nicht gut genug” zu sein begleitet uns oft lebenslang

In Seminaren und Beratungen mit Eltern und Fachpersonen merken wir immer wieder, dass das Gefühl, nicht zu genügen, erstaunlich viele Menschen seit der Kindheit begleitet.

Sie haben deutlich gespürt, dass sie für ihre Eltern, Lehrkräfte, aber auch Gleichaltrige zu laut, zu schüchtern, zu anstrengend, zu empfindlich, zu faul, zu ehrgeizig, zu unsportlich, zu dick oder zu uncool waren. Einige haben erlebt, dass sie für ihre Eltern etwas Besonderes sein müssen: Die Beste Schülerin, ein Spitzensportler – und man die Aufmerksamkeit der Eltern vor allem dann bekommt, wenn man aus der Masse herausragt. Manche fühlten sich nicht angenommen, weil sie nicht das ersehnte Geschlecht hatten, dem gängigen Rollenbild eines „richtigen Jungen“ oder eines „richtigen Mädchens“ nicht entsprachen oder vom Charakter her dem Expartner schmerzlich ähnelten, den die Mutter oder der Vater verteufelte. Einige hatten erlebt, dass ihre Eltern immer wieder davon sprachen, wieviel sie für die Kinder geopfert hatten, wie anstrengend die Vater- oder Mutterschaft für sie ist – und man als Kind dieses Opfer nur durch ganz viel Dankbarkeit und Angepasstheit aufwiegen kann.

Warum fällt uns bedingungslose Liebe manchmal so schwer?

Ein unabhängiges Selbstwertgefühl nimmt uns den Druck, immer etwas tun oder uns den Erwartungen anderer anpassen zu müssen, um geliebt zu werden.

Es entsteht, wenn Kinder und Jugendliche von verschiedenen Bezugspersonen immer wieder erfahren dürfen, dass sie auch dann geliebt und angenommen werden, wenn sie nicht deren Vorstellungen entsprechen.

Vielleicht geht es dir wie uns und es fällt dir auch nicht immer leicht, dein Kind im Alltag so anzunehmen, wie es ist? Vielleicht ertappst du dich auch manchmal dabei, wie dich dein Kind nervt, wie du deine Enttäuschung nicht verbergen kannst oder dein Mutter- oder Vaterherz vor lauter Stolz anschwillt, wenn dein Kind deine (unbewussten) Erwartungen erfüllt oder sogar übertrifft?

Auch wenn sich die Forderung, sein Kind bedingungslos zu lieben, in vielen modernen Elternratgebern wiederfindet, so ist sie doch relativ neu.

Es ist hilfreich, wenn wir uns vergegenwärtigen, dass dieses Konzept aus der Psychotherapie stammt. Beschrieben hat es als erster der humanistische Therapeut Carl Rogers, der Begründer der Gesprächspsychotherapie. Er ging davon aus, dass Menschen lernen können, sich selbst anzunehmen und schwierige Erfahrungen zu integrieren, wenn sie dabei von einem empathischen, authentischen und wertschätzenden Gegenüber begleitet werden. Dabei macht es sich der Therapeut zur Aufgabe, vorurteilsfrei zuzuhören.

Das ist natürlich in einem professionellen therapeutischen Setting deutlich einfacher als in engen, persönlichen Beziehungen. Um es mit einem plakativen Beispiel auszudrücken: Die Aussage „ich bin fremdgegangen“ ist für den Therapeuten einfacher zu ertragen als für die Partnerin.

Je enger die Beziehung zu unserem Gegenüber ist, je mehr sein Verhalten unser eigenes Leben beeinflusst und je stärker wir uns emotional mit jemandem verbunden fühlen, desto anspruchsvoller wird es, unbedingte Liebe zu zeigen.

Im Gegensatz zu einem neutralen Therapeuten haben wir Hoffnungen und Wünsche für unsere Kinder. Wir wollen das Beste für sie und ihnen ein glückliches Leben ermöglichen. Abhängig davon, wie wir aufgewachsen sind, haben wir sehr fixe Überzeugungen, was dazu nötig ist und welche Eigenschaften uns das ermöglichen. Entsprechend schnell läuten unsere Alarmglocken, wenn die Kinder vom vermeintlich „richtigen“ Weg abkommen: Manche Eltern sind so stark mit dem Schulerfolg ihrer Kinder identifiziert, dass sie vor Prüfungen schlaflose Nächte haben; andere geraten in Panik, wenn sich das Kind phasenweise „asozial“ verhält oder fürchten gleich um das Seelenheil des Kindes, wenn es sich von bestimmten Werten und religiösen oder politischen Überzeugungen ablöst.

Bedingungslose Liebe ist ein Geschenk

Wenn Eltern erkennen, dass bedingungslose Liebe wichtig ist, machen sie daraus zum Teil eine absolute Forderung: Du musst dein Kind stets annehmen und bedingungslos lieben!

Daraus leiten sie ab, dass sie nie wütend oder enttäuscht reagieren dürfen, schimpfen verboten ist und man sich sogar schuldig fühlen muss, wenn man sein Kind gelobt hat – schließlich ist doch auch das eine Form der Manipulation?

Bedingungslose Liebe wird plötzlich zu einem komplexen Regelwerk, an das man sich mit aller Verbissenheit halten muss, um keine schlechte Mutter, kein schlechter Vater zu sein.

Ohne es zu merken, tappt man erneut in die Falle der bedingten Wertschätzung: „Ich bin als Mutter oder Vater nur dann liebenswert, wenn ich alles richtig mache, meinem Kind gegenüber keine „negativen“ Gefühle zeige und es auf keine Art und Weise „manipuliere“.“

Wenn wir unseren Kindern bedingungslose Liebe schenken möchten, ist es hilfreich, wenn wir bei uns selbst beginnen und uns mit einer annehmenden und akzeptierenden Haltung begegnen.

Dazu dürfen wir uns bewusst machen: „Auch ich darf Fehler machen, ab und zu unangemessen reagieren, Gefühle haben, die mir nicht immer pädagogisch korrekt erscheinen – und kann trotzdem eine liebevolle Mama, ein liebevoller Vater sein.“

Anstatt uns selbst abzuwerten oder in Schuldgefühlen zu versinken, können wir uns annehmen und gleichzeitig Verantwortung für unsere Gefühle übernehmen. Das gelingt uns besser, wenn wir ehrlich mit uns sind und hinterfragen, welche Bilder, Wünsche und Bedürfnisse hinter unseren Reaktionen stehen:

  • „Jetzt habe ich meine Kinder wieder angeschrien. Es bringt mich so auf die Palme, wenn sie sich zoffen! Ich habe gedacht, mit einem zweiten Kind sei unser Familienglück perfekt. Ich habe mir das so schön vorgestellt, wenn sie immer einen Spielgefährten zu Hause haben – aber jetzt streiten die beiden pausenlos und sind eifersüchtig aufeinander. Ich merke gerade, dass mich das enttäuscht und ziemlich traurig macht.“
  • „Wenn ich sehe, dass mein Sohn so wenig für die Schule tut und ihn schlechte Note überhaupt nicht jucken, versetzt mich das in Rage! Wenn ich ehrlich bin, kriege ich es mit der Angst zu tun, dass er sich seine Zukunft verbaut und ich schuld daran sein werde, wenn ich das zulasse.“
  • „Mein Kind ist schon wieder so dominant und kommandiert die anderen rum. Am liebsten würde ich es von seinem hohen Ross herunterholen oder ihm die kalte Schulter zeigen! Es ärgert mich so, wenn sich Menschen über andere stellen, das weckt ganz viele schlechte Erinnerungen in mir. Ich habe immer darunter gelitten, wenn andere so bossy mit mir umgegangen sind.“

Zu dem Autor und der Autorin:
Fabian Grolimund ist Psychologe und Autor. Stefanie Rietzler ist Psychologin und Autorin. Ihr neues Kinderbuch Jaron auf den Spuren des Glücks” geht der großen Frage nach dem Glück nach, das manchmal in kleinen Dingen steckt. Zudem schreiben beide regelmäßig für das Schweizer Elternmagazin Fritz+Fränzi. Mehr erfahren Sie unter mit-kindern-lernen-ch  

Foto: Ronja Jung für geborgenwachsen.de

5 hilfreiche Schritte, um als Elternteil mit der eigenen Wut umzugehen

Jetzt reicht es! Ich ertrage das nicht mehr! Wutentbrannt wird aus dem Zimmer gestürmt und die Tür geknallt, dass die Wände beben. Doch schon 3 Atemzüge später ist die Wut vorbei. Wie konnte ich nur so reagieren? Ich bin keine gute Mutter/kein guter Vater. Die brennende Wut, die sich zuerst gegen das Kind gerichtet hat, wird zu zermürbenden Schuldgefühlen gemischt mit Scham. Hast du das auch schonmal erlebt? Dein Kind treibt dich in den Wahnsinn, es kommt zum Streit und dann bereust du, was du gesagt und getan hast. Wie du es schaffst, diesen zerstörerischen Kreislauf zu durchbrechen? Das möchte ich dir in diesem Artikel erklären:

Die Ursache der Wut

Marshall Rosenberg, der Begründer der Gewaltfreien Kommunikation geht davon aus, dass unsere Gedanken verantwortlich sind für unsere Wut. Wut entsteht also aufgrund von Bewertungen und Urteilen. Sie entsteht auch, weil wir Verhalten interpretieren:

„Er macht das doch mit Absicht.“
„Sie will mich provozieren.“
„Er will doch nur Aufmerksamkeit.“

Marshall Rosenberg nennt das lebensfremdes Denken. Wenn wir so denken, gehen wir davon aus, dass unser Gegenüber Schuld ist an unseren Gefühlen und unerfüllten Bedürfnissen. Damit werden wir nicht nur wütend, sondern wir geben auch die Verantwortung für unsere Bedürfnisse ab. An Partner*in oder die Kinder. Wir erwarten, dass unser Gegenüber sich ändert, damit wir uns besser fühlen. All das macht uns wütend. Natürlich könnten wir uns jetzt darüber streiten, ob das wirklich stimmt. Daher möchte ich dich einladen, deine eigenen Erfahrungen zu machen.

Meiner Beobachtung nach lässt meine Wut nach, sobald ich mit den Bedürfnissen verbunden bin. Entweder mit meinen eigenen, oder mit denen meines Gegenübers. Wenn du also deine Wut transformieren möchtest, versuche die folgenden Schritte:Beschreibe die Situation, die dich wütend macht.

Schritt 1: Beschreibe die Situation, die dich wütend macht

Im ersten Schritt wollen wir den Auslöser für deine Wut finden. Denke an eine Situation, in der du richtig wütend warst. Welche Person hat dich wütend gemacht? War es dein Kind?
Deine Partnerin? Vielleicht war es deine Schwiegermutter oder der Kassierer im Supermarkt.

Egal wer es war – wir wollen nun herausfinden, was diese Person genau gesagt und getan hat. Achte darauf, dass du keine Interpretationen oder Bewertungen verwendest, um die Situation zu beschreiben. Was hat die Person konkret gesagt oder getan?

Beispiele:
Er hat die Bausteine gegen die Blumenvase geworfen. Daraufhin ist sie zerbrochen.
Meine Mutter hat zu mir gesagt: „Hättest du mal auf mich gehört.“
Als mein Kind sich auf den Boden warf und zu weinen anfing, schüttelte der Kassierer mit dem Kopf und verdrehte die Augen.

Jetzt du! Schreibe deine Beobachtung von der Situation auf, in der du zuletzt so richtig wütend geworden bist

Schritt 2: Welche Gedanken hast du in dieser Situation?

Im zweiten Schritt wollen wir die Ursache für deine Wut herausfinden. Denn die oben beschriebene Situation ist nur der Auslöser. Die Ursache für deine Wut liegt in deinen Gedanken. Vielmehr in deinen Bewertungen, Urteilen, Interpretationen und Erwartungen über die andere Person. Welche Gedanken hattest du über die andere Person?

„Er respektiert mich nicht.“
„Sie sollte es doch besser wissen.“
„Er treibt mich in den Wahnsinn.“
„Warum kann er nicht ein Mal richtig zuhören?“
„Nie tut sie, was ich sage.“

Wir denken am Tag etwa 70.000 Gedanken. Du kannst dir sicherlich vorstellen, dass eine Gedankensalve durch deinen Kopf schießt, nachdem sich die Situation ereignet hat. Hinzu kommt, dass sich solche Situationen wiederholen. Zum Beispiel der tägliche Kampf ums Zähneputzen oder Zimmer aufräumen. Dann bist du vielleicht schon auf 180, bevor du überhaupt die Tür zum Kinderzimmer aufgemacht hast. Der Grund dafür? Deine Gedanken, die in Form von Erwartungen und Urteilen durch deinen Kopf geistern. Das Problem an der ganzen Sache ist, dass dadurch deine Wut nicht transformiert wird. Denn die Wurzel deiner Wut liegt in deinen unerfüllten Bedürfnissen. Doch dazu kommen wir erst im nächsten Schritt.

Zuerst bist du wieder dran: Schreibe nun auf, welche Gedanken, Bewertungen, Urteile und Erwartungen in dir aufkommen, wenn du diese Situation erlebst: “Wenn [diese Person] [Satz oder Verhalten] sagt/tut, werde ich ärgerlich/wütend, weil…” Was steht hinter dem weil Schreibe ehrlich all das auf, was du von der anderen Person erwartest. Wie sollte sich dein Gegenüber deiner Meinung nach verhalten? Was hätte die Person deiner Ansicht nach tun oder sagen sollen?

Schritt 3: Finde das Gefühl hinter der Wut

Wenn wir wütend werden, dann liegt das an bewertenden Gedanken und Erwartungen.
Allerdings entsteht die Wut erst, nachdem wir diesen Gedanken gefolgt sind. Das primäre Gefühl hinter der Wut ist immer ein anderes. Vielleicht ist es Traurigkeit, Hoffnungslosigkeit oder Ohnmacht. Diese Gefühle entstehen unmittelbar nach dem Ereignis und resultieren aus den unerfüllten Bedürfnissen. Spürst du unangenehme Gefühle, heißt das: mindestens ein Bedürfnis ist unerfüllt. Angenehme Gefühle sind Zeichen für erfüllte Bedürfnisse.

Du bist dran: Denke nun an die Situation, die dich wütend macht. Stell dir vor, du erlebst diese Situation jetzt noch einmal. Welche Gefühle (außer Wut) kannst du noch beobachten Kannst du das Gefühl irgendwo in deinem Körper spüren? Ist es Angst, die deine Kehle zuschnürt? Oder Trauer, die dich ganz schwer macht? Vielleicht fühlst du dich hilflos und ohnmächtig in dieser Situation?

Vervollständige nun diesen Satz: “Wenn [diese Person] [Satz oder Verhalten von gestern] tut/ sagt, fühle ich mich…” Schreibe alle Gefühle auf, die du beobachtest.

Schritt 4: Nutze die Wut als Alarmsignal für unerfüllte Bedürfnisse

Wenn Konflikte entstehen, dann bedeutet das: mindestens ein Bedürfnis von mindestens einer anwesenden Person ist unerfüllt. Unerfüllte Bedürfnisse lösen unangenehme Gefühle aus. Diese Gefühle wollen uns sagen: tu etwas, um das Bedürfnis zu erfüllen! Wut ist allerdings ein Gefühl, welches eher dafür sorgt, dass du dich selbst oder dein Gegenüber bestrafen willst (Weil du davon ausgehst, dass jemand etwas falsch gemacht hat oder sich anders verhalten sollte). Wenn wir also Wut, Schuld oder Scham wahrnehmen, können wir das als Alarmsignal sehen. Die Wut sagt uns: Achtung! Du bist gerade nicht mit den Bedürfnissen verbunden. Unsere Bedürfnisse sind das, was in uns lebendig ist. Investierst du deine Energie in die Wut, werden deine Bedürfnisse mit hoher Wahrscheinlichkeit nicht erfüllt.

Jetzt bist du dran: Kommen wir wieder zu deinem Beispiel. Bevor deine Gedanken die Wut heraufbeschworen haben, hast du etwas anderes gefühlt. Welche Gefühle konntest du beobachten? Anhand dieser Gefühle kannst du dich fragen: Was brauche ich? Welche Bedürfnisse sind unerfüllt? Beispiele: “Ich fühle mich hilflos, weil ich Unterstützung brauche.”, “Ich fühle mich verwirrt, weil ich Klarheit brauche.” Vervollständige nun diesen Satz: “Wenn [diese Person] [Satz oder Verhalten] sagt/tut, fühle ich mich […], weil ich […] brauche.”

Schritt 5: Die Wut auflösen durch Einfühlung

Denke an die Situation, die dich wütend gemacht hat. Was hat die Person gesagt und getan? Deine Aufgabe ist nun, dich nicht davon ablenken zu lassen, was die Person denkt oder sagt. Konzentriere dich stattdessen darauf, was die Person fühlt und braucht. Was könnten die unerfüllten Bedürfnisse dieser Person sein? Schreibe alle Möglichkeiten auf. Formuliere dann eine Vermutung über die Gefühle und Bedürfnisse deines Gegenübers:

Beispiel: Kann es sein, dass du traurig bist, weil du dir Kontakt wünschst?
Bist du frustriert, weil dir Respekt wichtig ist?
Machst du dir Sorgen, weil dir Sicherheit wichtig ist?

Oder in Kindersprache:

Bist du traurig, weil du mitspielen willst?
Du bist bestimmt sauer, weil du gleich behandelt werden willst, oder?
Hattest du gerade Angst, weil du sicher sein willst, dass du gemocht wirst?

Wende die 5 Schritte zur Reflexion von Situationen an, in denen du häufig wütend wirst. Übrigens: Wut zeigt eher eine Verurteilung anderer Menschen. Bei Schuld- und Schamgefühlen handelt es sich um Selbstverurteilung. Dennoch haben diese Gefühle dieselbe destruktive Energie und führen eher zu bestrafenden statt du bedürfniserfüllenden Handlungen. Wenn du also Schuld- und Scham wahrnimmst, kannst du die 5 Schritte auch anwenden.

Notfallstrategien

Wenn sich unser Nervensystem im Alarmzustand befindet, dann geht es ums nackte Überleben. Unser System ist dann auf Flucht oder Kampf ausgerichtet. In solchen Situationen ist es kaum möglich, einen klaren Gedanken zu fassen. Lege dir daher deine persönliche Toolbox mit Strategien für den Notfall an.Zum Beispiel könntest du das Folgende festlegen:

Immer, wenn ich wütend werde:
– atme ich 10 Mal tief in den Bauch
– mache ich das Fenster auf und atme die frische Luft
– trinke ich ein eiskaltes Glas Wasser
– schnuppere ich an meinem Lavendel Duftöl

Solche Strategien können helfen, aus dem Alarmzustand herauszukommen und erinnern dich daran, dass dein Kind nicht dein Feind ist, sondern dass es gerade mindestens ein unerfüllteste Bedürfnis gibt.

Ich wünsche dir viel Freude beim Üben und dass du beim nächsten Wutanfall in Verbindung mit deiner Herzenergie bleibst.

Zur Autorin:
Yvonne George ist Diplom-Sozialpädagogin, Bindungs- und Traumapädagogin, Autorin und Expertin für Gewaltfreie Kommunikation mit Kindern. Auf ihrem Blog www.yvonnegeorge.de findest du praktische Impulse für ein Bindungs- und bedürfnisorientiertes Familienleben.

Foto: Ronja Jung für geborgenwachsen.de

Die Chance als Opa nutzen

Die Bedeutung der Großeltern für die Entwicklung der Kinder wurde erst seit den 1950er Jahren näher untersucht. Alle entsprechenden Studien kommen aber seither zu dem Schluss, dass Großeltern das Leben ihrer Enkel bereichern können. Sie sind Bezugspersonen und Ansprechpartner*in, Unterstützer*in und Mentor*in, hilfreiches Mittel gegen Langeweile und Elternfrust in einem.

Großeltern als wichtige Bezugspersonen

Manche Dinge wollen oder können Kinder ihren Eltern nicht anvertrauen, möchten sich aber dennoch mit einer erwachsenen Person darüber austauschen. Hier können Großeltern eine gute Alternative sein und sich als wichtige Bezugspersonen im Leben ihrer Enkelkinder positionieren. Möglich wird das aber erst, wenn eine ausreichende Nähe und genügend gemeinsame Zeit vorhanden ist. Es kann sich daher für Großeltern lohnen, in der Nähe der Kinder und Enkelkinder zu leben. Das Vertrauen wird größer, je näher Enkelkinder und Großeltern zusammenwohnen. Verständlich, denn wer nur am Wochenende oder gar lediglich in den Schulferien persönlich erreichbar und damit in den Alltag nicht involviert ist, kann eine weniger vertrauensvolle Beziehung zum Enkelkind aufbauen. Wer sich aber darauf einlässt und bei alltäglichen Sorgen und Nöten, aber auch bei schönen und freudigen Anlässen bereitsteht, wird zu einer der wichtigsten Personen im Leben des Kindes.

Kindern Geborgenheit schenken

Wenn möglich, sollte das Enkelkind im Haus der Großeltern einen eigenen Bereich bekommen. Das muss kein ganzes Zimmer sein, denn dies ist aus Platzgründen oft nicht möglich. Doch eine eigene Ecke, in der das Kind zusammen mit den Großeltern spielen kann, wo gelesen und gebastelt wird, sollte möglich sein. Auch wenn die Großeltern besondere Hobbys haben, kann das Enkelkind daran teilhaben, beispielsweise beim Werken, Kochen, Schnitzen, etc. Das Erleben eines gemeinsamen Hobbys kann Anknüpfungspunkt und einfach Beschäftigungsmöglichkeit sein.

Zur Geborgenheit gehört natürlich auch Zeit. Wenn das Enkelkind zu Besuch ist, sollte es nicht einfach nebenher laufen und lediglich dabei sein. Es darf ruhig die Hauptperson sein! Gemeinsame Unternehmungen, Gespräche über Gott und die Welt, Erzählungen aus der eigenen Vergangenheit, in Gesprächen und bei Aktivitäten eigene Schwächen und Stärken zeigen: Das verbindet und schafft Nähe. Wobei es nicht nur um Kinder geht, auch Jugendliche freuen sich über einen Ansprechpartner außerhalb des Elternhauses, dem sie vertrauen können und der eine Art Vermittlerposition zwischen ihnen und den Eltern einnimmt. Auch die großen Themen der Zukunft können mit Großeltern besprochen werden.

Gemeinsame Zeit genießen

Experten zufolge genießen Kinder heute eine deutlich längere gemeinsame Zeit mit den Großeltern als früher. Dabei ist nicht nur die Zeit gemeint, die für Unternehmungen oder einfach nur zum Kuscheln bereitsteht, sondern auch die gesamte Lebenszeit. Menschen werden heute älter und sind bis ins Alter hinein aktiver, wobei Fitness und Gesundheit im Umgang mit den Enkelkindern durchaus positiv sind. Ausnahmen bilden Familien, in denen die Kinder erst spät geboren werden und die Großeltern entsprechend deutlich älter sind. Doch auch hier gilt: Die gemeinsame Zeit sollte so lange wie möglich und so intensiv wie möglich genossen werden, denn die Fachwelt ist sich einig: Großeltern prägen die Enkelkinder für ihr ganzes Leben und können ein Baustein der Resilienz (psychischen Widerstandsfähigkeit) sein.

Über den Autor
Jürgen Busch, 75, ist fünffacher Großvater und schreibt auf seinem Blog grossvater.de über die Beziehung zwischen Enkelkindern und Großeltern mit einem Schwerpunkt auf das Opa-Sein mit vielen Ideen, wie dieses ausgestaltet werden kann.

Bild von emailme3 auf Pixabay

5 Naturabenteuer, die ihr heute noch erleben könnt – egal wo ihr wohnt

Als Familie draußen in der Natur unterwegs zu sein, macht nicht nur Freude und bringt Entspannung,  es unterstützt eure Gesundheit ungemein und gibt Kindern die Gelegenheit Kompetenzen aufzubauen, von denen sie ein Leben lang profitieren. Dazu zählen zum Beispiel Kreativität, Empathie – aber auch Resilienz, die Fähigkeit Stress und Krisen aktiv zu bewältigen.

Die Natur muss dafür nicht einmal besonders unberührt und wild sein: wichtig ist lediglich, dass ihr euch in eine Situation begebt, die nicht durch und durch absehbar und kontrollierbar ist. Auch direkt vor eurer Haustür gibt es jede Menge Möglichkeiten Naturabenteuer zu erleben. Hier kommen fünf, die ihr gleich heute noch erleben könnt:

1. Verlegt das Abendessen ins Grüne

Wenn ihr Natur erleben wollt, aber gerade so gar keine Zeit dafür in Aussicht habt, ist dieses Abenteuer perfekt. Denn Essen müsst ihr sowieso. Verlegt heute mal eine Mahlzeit an die frische Luft. Im einfachsten Fall macht ihr es euch im Garten oder einem nahe gelegenen Park gemütlich. Hauptsache ihr seid im Grünen.

Auch das Essen muss nicht aufwendig sein: ein Picknick mit frischem Brot oder eine warme Suppe vom Vortag in einer Thermoskanne tun es allemal. 

Indem ihr die Routine einer gemeinsamen Mahlzeit nach draußen verlegt, erschafft ihr die Möglichkeit, euch von eingefahrenen Rollen zu lösen und euch neu zu erfinden. Vielleicht habt ihr ja auch Lust draußen auf einem Campingkocher richtig zu kochen. Es gibt viele leckere Rezepte, die in Nullkommanix und mit wenigen Zutaten zubereitet sind. Gewürzt mit einer Prise frischer Luft schmeckt draußen einfach alles viel besser!

2. Macht euch auf die Suche nach einem Kletterbaum

Zieht gemeinsam los und haltet ganz bewusst Ausschau nach einem Baum, der euch zum Klettern einlädt. Vielleicht findet ihr einen mit besonders niedrigen Ästen, auf die ihr leicht aufsteigen könnt? Oder aber, ihr gebt euch ein wenig Räuberleiter-Hilfe, damit der Einstieg auf euren auserwählten Kletterbaum gelingt? 

Das Schöne beim Klettern ist, dass deine Kinder ihre persönlichen Grenzen selbst setzen können, indem sie entscheiden wie weit sie sich gen Himmel entfernen. In der Regel kannst du darauf vertrauen, dass sie nur dann die nächste Hürde nehmen, wenn sie sich in der vorherigen sicher fühlen. Achtet bei eurem Kraxelabenteuer aber darauf, dass ihr nur auf gesunde, stabile Bäume klettert und dass immer ein Erwachsener am Boden bleibt. 

Unser Tipp für die Extra-Portion Naturverbindung: Barfußklettern! Der direkte Kontakt mit dem Baum macht euch gleichzeitig achtsamer und sicherer.

3. Findet essbare Wildpflanzen vor eurer Haustür

Um stolz, glücklich und satt von einer Wildkräuterwanderung zurückzukommen musst du längst kein Profi in Pflanzenbestimmung sein!

Aus Gänseblümchen, Brennnesseln und Löwenzahnblüten lässt sich zum Beispiel ein ganz einfacher Wildkräuterquark zaubern: Vom Gänseblümchen könnt ihr die ganze Blüte benutzen und auch junge Blätter schmecken gut. Bei der Brennnessel schmecken die oberen zarten Blätter am besten. Vom Löwenzahn sind auch die jungen, zarten Blätter und die gelben Blüten am besten geeignet.

Wenn ihr dazu noch Spitzwegerich, Schafgarbe, Sauerampfer, Giersch oder Rot-Klee erkennt, findet ihr unweit von eurem Zuhause garantiert genug, um ein Körbchen voller Wildkräuter nach Hause zu bringen. 

Denkt nur daran, nicht in unmittelbarer Nähe von viel befahrenen Straßen, Hundegassiwegen und auch nicht auf gedüngten Wiesen oder Weiden zu sammeln. 

4. Fahrt mit der Bahn an einen unbekannten Ort und erkundet ihn

Wenn wir auf gewohnten und bekannten Wegen unterwegs sind, nehmen wir unsere Umgebung viel selbstverständlicher wahr, als an unbekannten Orten. Das Neue bringt uns dazu, unsere Umgebung aufmerksam wahrzunehmen, spannende kleine Entdeckungen zu machen und wirklich im Hier und Jetzt zu sein. Letzteres hat gleichzeitig wunderbar heilsame Wirkung auf die Beziehungen innerhalb unserer Familie.

Um dieses Abenteuer zu starten, kauft euch ein Tagesticket und entscheidet euch, ohne auf den Fahrplan zu schauen, für ein Gleis und die Anzahl an Haltestellen, die ihr fahren möchtet. Wenn euch das schwerfällt, kann ein Würfel helfen. Steigt am entsprechenden Gleis in die nächste S- oder Regionalbahn und steigt aus, wenn die Zahl eurer Haltestelle erreicht ist. Was dort wartet, ist eine Überraschung. Aber ganz bestimmt gibt es auch an diesem Zufallsort spannende Naturentdeckungen zu machen. Schaut nach Wegweisern, fragt Passanten oder lauft einfach eurer Nase nach. Auf der Heimfahrt werdet ihr euch garantiert viel Abenteuerliches zu erzählen haben.

5. Schlaft auf dem Balkon oder im Garten

Von allen Naturabenteuern ist es das schönste, eine Nacht unter freiem Himmel zu verbringen. Im Wald ist das natürlich besonders eindrucksvoll. Aber wenn ihr euch herantasten wollt oder wenig Zeit habt, dann ist auch eine Nacht auf dem Balkon oder im Garten ein wunderbares und verbindendes Erlebnis. Auch dort weht euch der Wind um die Nase, die Sonne bestimmt, wann es dunkel wird und mit etwas Glück wecken euch am Morgen sanft die Vögel.

Ihr braucht dafür nicht einmal spezielle Ausrüstung: aus Isomatten oder Matratzen und eurer Bettwäsche richtet ihr euch draußen ein kuscheliges Familienlager ein, in das natürlich auch Lieblingskuscheltiere und -bücher einziehen dürfen. Werft vorher dann noch mal einen Blick auf den Wetterbericht um sicherzugehen, dass es nicht nass oder bitterkalt wird und genießt euer gemeinsames Mikroabenteuer. 

Falls ihr es danach kaum erwarten könnt, das nächste Mal euer Bettchen im Wald einzurichten, findet ihr in diesem Artikel ein bisschen Starthilfe dazu: Mit Kindern draußen schlafen – Schritt für Schritt.

Das größte Geschenk

Jeder Ausflug in die Natur ist ein wertvolles Geschenk, dass du deinen Kindern machst. Als Eltern dürfen wir uns dabei von unseren eigenen hohen Ansprüchen frei machen – Ort, Wetter und Inhalt eures Abenteuers müssen nicht perfekt sein. Lieber ein kleines Abenteuer, dass ihr heute noch gemeinsam erlebt als ein spektakuläres Erlebnis, dass nie umgesetzt wird. 

Wenn Kinder die Natur als selbstverständlichen und fest verankerten Teil ihres alltäglichen Lebens erfahren, werden sie über die Zeit eine enge Verbindung zu ihr aufbauen. Sie ist der Grundstein für Erfahrungen, die deine Kinder ihr Leben lang als Kraftquelle in sich tragen und sie in ihren persönlichen Fähigkeiten wachsen lassen. Außerdem ermöglichst du ihnen dadurch, ein tiefes Verständnis von der Welt, die uns umgibt, aufzubauen. Nur solche Menschen, werden in Zukunft die richtigen Entscheidungen treffen können, um unsere Lebensgrundlagen zu bewahren. Was gibt es wertvolleres, was du für die kommende Generation tun kannst?

Über die Autor*innen
Jana und Patrick Heck sind zweifache Eltern und lieben es nicht nur Familien mit Abenteuerideen zu versorgen – sie kennen auch die Gründe warum es oft so schwer ist mit Kindern überhaupt raus zu kommen. In ihrem Buch “Ausgebüxt” geben sie Familien deshalb alles an die Hand, um tatsächlich mehr Natur ins Leben zu bringen. Von alltagstauglichen Organisationstipps über Outdoor-Wissen bis hin zu ganz konkreten Abenteuerideen und Freiluft-Rezepten. 

5 Botschaften, die verträumte Kinder stärken

«Fabian! Hörst du zu?!» Wenn ich an meine Kindergartenzeit denke, hallt noch immer diese Ermahnung der Kindergärtnerin in mir nach. Unzählige Male erwischte sie mich dabei, wie ich vor mich hinträumte. Während die anderen Kinder gespannt der vorgelesenen Geschichte lauschten, hörte ich zwei Minuten zu, um mir dann in Gedanken auszumalen, wie es weitergehen könnte. So war es nicht verwunderlich, dass meine Mutter kurz vor meinem Schuleintritt zu einem Gespräch eingeladen wurde. Das Thema: Fabians Verträumtheit und mangelnde Schulreife.  

Während des Gesprächs sollte ich draußen auf dem Flur warten und mir schon meine Jacke und Schuhe anziehen. Als meine Mutter und die Kindergärtnerin wenig später die Türe öffneten, sass ich in Unterwäsche auf der kleinen Bank, sah die beiden nachdenklich an und fragte: «Im Winter, ziehen da die Könige die Mütze über oder unter der Krone an?“ „Genau so ist er immer!“, rief meine Kindergärtnerin sichtlich entnervt. «Dann ist es doch besser, wenn er noch ein Jahr im Kindergarten bleibt», erwiderte meine Mutter.

Langsam, verträumt, vergesslich und unfähig zuzuhören: Das war der Eindruck, den meine Kindergärtnerin von mir hatte. Wahrscheinlich hatte sie damit recht. Zum Glück waren da noch meine Eltern und später Lehrer/innen, die auch anderes sahen und diese Beschreibung um einige Begriffe erweiterten: Kreativ, fantasievoll – und witzig.

Vielleicht haben auch Sie ein Kind, das oft mit dem Kopf in den Wolken steckt, andauernd etwas liegen lässt, Abmachungen vergisst, die man eben noch besprochen hat, Aufgaben im Schneckentempo erledigt und beim morgendlichen Anziehen herumtrödelt?

Und vielleicht erwischen Sie sich dabei, wie Sie es ständig antreiben, ermahnen, den Kopf schütteln oder nervös auf die Uhr schauen und irgendwie versuchen, den Rhythmus des Kindes mit dem Tempo der Außenwelt in Einklang zu bringen?

Als Eltern eines verträumten Kindes gerät man rasch unter Druck: Ganz deutlich spürt man die Erwartungen der Gesellschaft, die schon von den Kleinsten verlangt, sich zu fokussieren, rechtzeitig hier oder dort zu sein, keine Zeit zu verlieren, sich zu organisieren und selbständig zu sein. Als Eltern macht man sich Sorgen, ob das eigene Kind «das schafft» und fühlt sich rasch dafür verantwortlich, dass der Nachwuchs «es hinkriegt», damit er auf das Leben vorbereitet ist. 

Dabei vergessen wir häufig, dass «auf das Leben vorbereiten» auch heißt, das Kind mit seinen Besonderheiten wahrzunehmen; Es darin zu bestärken, dass es seinen Kern bewahrt, anstatt sich einfach allen Erwartungen anzupassen. Wie können wir diesem Ziel näherkommen? Sehen wir uns fünf Botschaften an, die uns im Alltag mit verträumten Kindern als Leitplanken dienen können.

«Träumen ist wertvoll»

«Jetzt konzentrier dich!», «Wo bist du schon wieder mit deinen Gedanken?!» – unaufmerksame Kinder hören immer wieder, dass ihre Tagträume stören und dass sie diese unterlassen sollen. Wahrscheinlich ahnen Sie es bereits: solche Ermahnungen helfen den Kindern nicht dabei, sich zu fokussieren – sie können aber Schamgefühle bei ihnen auslösen und zu Hilflosigkeit führen. So erzählen uns verträumte Kinder oft, dass sie sich gerne konzentrieren würden, aber ihr «Gehirn einfach etwas anderes macht» oder «der Kopf so voll mit Gedanken und Bildern ist». 

Wenn wir verträumte Kinder stärken möchten, können wir ihnen vermitteln, dass ihr Tagträumen auch positive Seiten hat und sie sich diese Fähigkeit bewahren sollten. 

Es entlastet die Kinder, wenn sie erfahren, dass sie das Träumen nicht «wegkriegen» müssen, sondern im Laufe der Zeit immer besser lernen können, in welchen Momenten tagträumen hilfreich ist und wann es darauf ankommt, sich bewusst auf etwas zu fokussieren. In unserem Kinderbuch «Lotte, träumst du schon wieder?» trifft das Hasenmädchen Lotte auf eine weise Wölfin, von der sie den Wolfsblick lernen möchte: Die Fähigkeit, sich voll und ganz auf eine Aufgabe zu konzentrieren. Diese bringt Lotte aber auch den Wert des Träumens näher, indem sie sagt:

„Viele Wölfe üben den Wolfsblick solange, bis sie das Träumen verlernen. Sie sind immer auf ihre Aufgabe konzentriert, sehen nur, was vor ihren Augen liegt, hören nur, was der Rudelführer ihnen befiehlt und vergessen, wer sie sind. Tagträume zeigen dir, was sein könnte. Sie sind das Tor zu neuen Ideen, zu deinen Wünschen und Gefühlen, sie führen dich zu Lösungen, auf die noch niemand zuvor gekommen ist.“

Tatsächlich zeigen mehrere Studien, dass das Tagträumen das kreative Denken fördern, uns bei der Lösung komplexer Probleme helfen und teilweise die Stimmung verbessern kann. Das gilt insbesondere, wenn man gelernt hat, seine Gedanken willentlich auf Wanderschaft zu schicken. 

Ein bekanntes Beispiel hierfür ist der milliardenschwere Unternehmer Elon Musk, Begründer der Firmen Paypal, Tesla und SpaceX. In seiner Biographie ist zu lesen:

«Verwirrend war, dass Elon (Musk) manchmal in eine Art Trance zu geraten schien. Jemand sprach mit ihm, aber wenn er einen bestimmten, abwesenden Blick hatte, drang nichts mehr zu ihm durch. Das passierte so oft, dass Elons Eltern und Ärzte dachten, er könne vielleicht taub sein und beschlossen, seine Polypen herauszunehmen. «Nun, es hat sich nichts geändert», sagt Maye (seine Mutter). «Er zieht sich in sein eigenes Gehirn zurück, und dann kann man einfach sehen, dass er in einer anderen Welt ist. Er macht das noch immer. Heute lasse ich ihn einfach in Ruhe, weil ich weiss, dass er dann eine neue Rakete oder so etwas entwirft.»

Es ist spannend, gemeinsam mit Kindern der Frage nachzugehen, wann das Tagträumen hilfreich und schön ist. Vielleicht stoßen auch Sie dabei auf Antworten der folgenden Art. 

Träumen nützt mir, wenn ich:

  • warten muss und mir die Zeit vertreiben will.
  • etwas lerne und mir die Inhalte gut merken will, dann überlege ich mir innere Bilder dazu oder stelle mir alles wie in einem Dokumentarfilm vor.
  • kreativ sein will, beispielsweise beim Zeichnen, Basteln, Geschichtenerfinden oder Malen.
  • bei einem Problem nicht weiterkomme – dann fällt mir die Lösung meist irgendwann ein, wenn ich an etwas ganz anderes denke.

«Wir haben Zeit»

Immer die Uhr im Blick zu haben, sich zu beeilen und ein volles Programm zu durchlaufen, setzt verträumte Kinder massiv unter Druck. Dies wiederum führt meist dazu, dass sie sich noch stärker in ihre Traumwelt zurückziehen.

Ein zehnjähriges, verträumtes Mädchen erzählte uns dazu kürzlich: «Wenn meine Eltern mich in die Schule schicken und Druck machen, weil ich so spät dran bin, dann kann ich gar nichts mehr. Dann werde ich plötzlich ganz langsam.» Und ihr Vater ergänzt: «Heute morgen haben wir alle verschlafen, aber wir sagten unserer Tochter ausnahmsweise nicht, dass wir zu spät dran sind, sondern haben sie einfach begleitet und geführt. Plötzlich hat die knappe Zeit gereicht. Für alles! Und die Kleine war glücklich.“ Die Aussage, dass das Kind umso langsamer wird, je mehr man es hetzt, deckt sich mit der Erfahrung vieler Eltern verträumter Kinder. Natürlich ist es nicht leicht, danebenzustehen und dem Kind beim Trödeln zuzusehen, während die Uhr tickt und der Schulbus naht. Aus diesem Grund finden Sie in diesem Artikel konkrete Tipps, wie Sie durch mehr Struktur und eine liebevolle Führung die Morgensituation entschärfen können.

Manchmal wird die Langsamkeit und Verträumtheit des Kindes aber auch unnötig zum Problem – einfach deshalb, weil man sich zu viel aufhalst. Ein außerschulischer Kurs hier, ein großer Ausflug da, ein zusätzliches Hobby dort, sind nicht immer eine Bereicherung, sondern können eben auch oft versteckte Kosten mit sich bringen: In Form von gehetzten Eltern und gestressten Kindern, die sich danach sehnen, nicht andauernd dem Takt des Kalenders und der Uhr folgen zu müssen. Termine haben die Eigenschaft, sich rasch und unauffällig in die Agenda zu schleichen. Das einzige Gegenmittel: Immer wieder innehalten, sich fragen, was man nicht mehr oder seltener tun möchte und sich freie Tage ohne jegliche Verpflichtung blockieren. 

Du darfst langsam werden und dich vertiefen

Während viele Kinder schnell über Langeweile klagen, wenn ihnen wenig „Action“ geboten wird, können Träumerchen sich meist erstaunlich gut alleine beschäftigen: sie blühen auf, wenn sie sich in ein Buch oder Hörspiel zu ihrem Lieblingsthema vertiefen, eine Playmobilwelt erschaffen, den eigenen Gedanken nachhängen, im Garten werkeln oder Insekten im Wald beobachten dürfen. 

Es liegt an uns, ihnen diese Freiräume so gut wie möglich freizuschaufeln und sie währenddessen nicht andauernd mit Vorschlägen oder Fragen zu unterbrechen und aus ihrem Rhythmus herauszureissen. Denn gerade im Langsam-werden und ungestörten Sich-Vertiefen liegt ein wichtiger Schlüssel zu einem langfristig glücklichen und gesunden Leben, wie der Soziologe Hartmut Rosa betont: Ihm zufolge brauchen wir alle -große und kleine Menschen- Zeit und Raum, um uns von einer Sache oder einer Person bewegen oder berühren zu lassen, uns angesprochen zu fühlen. Hartmut Rosa nennt diese Momente, in denen wir uns emotional mit einem Musikstück, einer Tätigkeit, einer Idee, oder unserem Gegenüber verbinden, „Resonanzerfahrungen“. Und genau dieses lebendige, emotionale Sich-Verbinden mit einer Tätigkeit oder anderen Menschen lässt sich nicht beschleunigen. 

Auch du kannst dich konzentrieren – und wir unterstützen dich dabei

Es ist wichtig, dass wir uns als Erwachsene bewusst sind: «Kinder registrieren es nicht, wenn sie in Tagträume abgleiten. Sogar uns Erwachsenen fällt es schwer, wahrzunehmen, wenn wir gedanklich abschweifen. Meist bemerken wir dies erst, wenn wir wieder «zurückkommen» und feststellen, dass wir die letzten Sätze in der Sitzung nicht mitbekommen haben oder in einem Raum stehen und denken: «Was wollte ich hier schon wieder?»

Wir können unsere Kinder aber dabei begleiten, die Fähigkeit zur Konzentration zu entdecken und spielerisch auszubauen. Zum Beispiel, indem wir sie dabei erwischen, wenn sie gerade konzentriert sind und ihnen das zurückmelden: «Schon fertig? Das ging aber fix.»; «Erstaunlich, was du dir alles merken konntest – du hast genau zugehört.» 

Oder indem wir mit ihnen darüber sprechen, wie sie ihre Aufmerksamkeit im richtigen Moment bündeln können. Zum Beispiel, indem man bei den Hausaufgaben den Wecker auf 10 stellt und dem Kind hilft, sich ein klares Startsignal zu geben: «Augen auf das Ziel, Gehirn auf Empfang. Los!»

Oder indem wir ihnen mittels kurzer Achtsamkeitsübungen dabei helfen, sich zu sammeln und ganz im Hier und Jetzt anzukommen. Zum Beispiel mit der folgenden Übung:

«Setz dich bequem hin, vielleicht stellst du beide Füße auf den Boden. Leg deine Hände gemütlich auf die Oberschenkel. Und jetzt achte einfach darauf, was du siehst… du kannst dir etwas Zeit dafür nehmen.

Jetzt kannst du die Augen schließen oder einfach nach unten schauen – wie es dir lieber ist. Achte darauf, was du hörst… nimm alle Geräusche um dich herum wahr…

Wenn du willst, kannst du deinen Körper wahrnehmen: wie sich deine Füße auf dem Boden anfühlen, … wo du den Stuhl spürst, auf dem du sitzt… Wie fühlen sich deine Hände an?… Deine Schultern? ….

Achte auf deine Atmung… Wo bewegt der Atem deinen Körper? Wie fühlt sich das Einatmen an?… Wie fühlt sich das Ausatmen an?… Wo kannst du den Atem in deinem Körper spüren?

Wenn du merkst, dass du dich in Gedanken verlierst, dann nimm sie wahr… und wende dich wieder deinem Atem zu. 

Nimm dir noch einen kleinen Moment für dich. Wenn du bereit bist, kannst du langsam hierher zurückkommen… Wir reiben die Hände und sind ganz wach.» 

Fabian Grolimund ist Psychologe und Autor. Stefanie Rietzler ist Psychologin und Autorin. Ihr neues Kinderbuch Lotte, träumst du schon wieder? richtet sich an verträumte Grundschulkinder und ihre Eltern. Zudem schreiben beide regelmäßig für das Schweizer Elternmagazin Fritz+Fränzi. Mehr erfahren Sie unter mit-kindern-lernen-ch