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Der erste Stillmoment & die unglaublichen Kompetenzen des Babys

Dieser erste Moment nach der Geburt, wenn Mutter und Kind sich ansehen, ineinander versinken und die Zeit fast einen Moment stehen bleibt. Bei manchen gibt es diesen Zeitpunkt früher, bei anderen später – je nachdem, wie die Geburt verlaufen ist. Diesen Moment genießen, ganz ineinander eintauchen und sich kennen lernen: So siehst Du aus, so riechst Du, so fühlst Du Dich an – auf Seiten des Kindes und Seiten der Eltern. Ein magischer Moment.

Gerade jetzt haben wir eigentlich alle Zeit der Welt – oder sollten sie haben. Aber oft wird in Filmen, Büchern oder auch durch Fachpersonal vor Ort vermittelt: Nun musst Du Dich beeilen und das Kind anziehen und stillen. Aber das Baby kommt – wenn es reif und gesund zur Welt kommt ohne Gründe, die schnelles Eingreifen notwendig machen – auch mit dem Wunsch zu uns, von Anfang an die Welt mit allen Sinnen kennen zu lernen. Und die Welt beginnt genau jetzt mit dem Menschen, auf dem es liegt und dessen warme Haut es spürt.

Dein Baby lernt Dich jetzt kennen

Da liegt es nun und nimmt zum ersten Mal den Herzschlag nicht aus dem inneren des Körpers wahr, sondern über die Brust im Hautkontakt. Es hört die bekannten Stimmen, aber ganz anders als zuvor. Es fühlt Körperwärme dort, wo es im Körperkontakt steht und spürt zum ersten Mal Kälte an den Stellen, die nackt sind. Es spürt Stoff auf der Haut zum ersten Mal dort, wo es von einer Decke bedeckt ist. Es spürt Haut, aber ganz anders als zuvor im Mutterleib, denn sie fühlt sich anders an.

Instinktiv weiß das Baby, wohin es nun möchte und folgt dem eigenen Geruchssinn, verbunden mit den anderen Sinnen. Wenn es ausreichend geruht hat, beginnt es, sich zu bewegen. Liegt das Baby nun nackt bäuchlings auf nackter Brust oder Oberbauch der Mutter, beginnt es vielleicht, mit dem Kopf und Mund die Brust zu suchen und die Haut um sich mit dem Mund zu ertasten. Es leckt oder saugt an der Haut, die es umgibt, um zu erkennen, ob es sich um die Haut der Brust handeln könnte. Es weiß instinktiv, dass sich die Haut der Brustwarze anders anfühlt als andere Haut und nimmt die unterschiedlichen Empfindungen wahr. Vielleicht beruhigt es sich durch das Saugen zunächst noch einmal, bevor es wieder mit der Suche beginnt. Es kann sich mit den Füßen abstoßen, den Kopf bewegen oder gar ruckartig zu einer Seite schnellen lassen. Auf diese Weise bewegt es sich selbst zu seinem Zielort.

Auch wenn wir versucht sind, an dieser Stelle einzugreifen und das Baby selbst aufzunehmen und an die Brust zu legen, müssen wir es nicht tun. Denn unser Kind ist von Anfang an kompetent und strebt nach Autonomie – nicht erst im Alter von 2 oder 3 Jahren, sondern von Beginn an. Wir können uns zurück lehnen (im wahrsten Sinne des Wortes) und warten – eine Tätigkeit, die wir in den folgenden Jahren immer wieder tun werden: abwarten, das Kind machen lassen. Gerade jetzt und hier, in den ersten Momenten des Familienlebens, lernen wir einen der wichtigsten Eckpfeiler der Elternschaft: Vertrauen in das Kind und dessen Fähigkeiten.

Selbstwirksamkeit: Das Baby findet die Brust

Irgendwann wird das Baby die Brust gefunden haben durch das Riechen, Tasten, Fühlen. Manchmal muss es durch den Arm der Mutter ein wenig gestützt werden, damit es nicht vom Körper rutscht. Aber den Großteil des Weges schafft es ganz allein. Vielleicht befühlt es die Brust mit dem Mund, vielleicht nimmt es die kleinen Hände oder Fäuste zu Hilfe, um die Brust zurecht zu schieben. Vielleicht ruht es sich noch einmal aus und legt den Kopf ab. Irgendwann wird es jedoch den Mund öffnen und mit dem Stillen beginnen – selbstbestimmt und aus eigener Kraft.

Der Vorteil dieses babygeleiteten Anlegens ist, dass das Baby selbst wirksam ist, dass es uns bereits nun, ganz am Anfang, etwas Wesentliches lehrt über den Blick auf das Kind und das Stillen so meist gut und komplikationslos starten kann, da durch die Eigenaktivität des Kindes Anlegeprobleme vermieden werden können, die den Stillstart erschweren. Nicht nur unmittelbar nach der Geburt können daher die Reflexe und Intuition des Babys genutzt werden, um zu stillen, sondern in den ersten Wochen. Gut ist es, wenn Mutter und Kind im direkten  Haut-zu-Haut-Kontakt sein können hierfür.

Eure

 

Susanne Mierau ist u.a. Diplom-Pädagogin (Schwerpunkt Kleinkindpädagogik), Geburtsvorbereiterin, Familienbegleiterin und Mutter von 3 Kindern. 2012 hat sie „Geborgen Wachsen“ ins Leben gerufen, das seither zu einem der größten deutschsprachigen Elternblogs über bindungsorientierte Elternschaft gewachsen ist. Sie ist Autorin diverser Elternratgeber, spricht auf Konferenzen und Tagungen, arbeitet in der Elternberatung und bildet Fachpersonal in Hinblick auf bindungsorientierte Elternberatung mit verschiedenen Schwerpunkten weiter.  

Weg und wieder zurück – Über den sicheren Hafen, den (Klein)kinder brauchen

Die Neugierde treibt dich voran: „Ich da hoch, ja, Mama?!“ Lustig jauchzend springen Kinder auf der Hüpfburg vor Dir auf und ab. „Ich da auch hoch, ja?!“ Ich mag keine Hüpfburgen, denke ich mir und denke zugleich, dass ich Dir keine Angst vor dem Leben mit auf den Weg geben möchte. „Ja, geh da auch rauf. Ich warte hier.“ sage ich. Zwei unbeholfene Beine, die doch selbst noch gar nicht so lange laufen können, klettern empor. Ein kleines Stück, dann bleibst Du stehen und kommst zurück gerannt in meine Arme. Wieder zurück in die Hüpfburg, ein Stück weiter jetzt, wieder zurück in meine Arme. Wieder ein Stück tiefer in die Hüpfburg, wieder in meine Arme. Ein wenig wie im Leerbuch, denke ich, bevor Du wieder voll Abenteuerlust davon rennst. Ein Stück weiter jetzt, denn Du fühlst Dich sicher.

Mut entwickelt sich

„Jetzt geh endlich hüpfen!“ hätte ich auch sagen können, ungeduldig. Ob mein Kind dann ausdauernd springen gegangen wäre? Manchmal braucht es es ein wenig Zeit, um Mut zu fassen. Das kennen wir Erwachsene auch: Erst einmal vorsichtig den Weg ausprobieren, der gefährlich aussieht. Vorsichtig den Fuß aufsetzen: trägt mich die Brücke? Vielleicht noch einmal zögern, vielleicht doch einen Schritt zurück gehen. Nachdenken: alles ist in Ordnung. Mein Kleinkind ist noch nicht erwachsen, analysiert nicht die Situation und zieht Schlüsse. Mein Kleinkind trifft Entscheidungen noch auf einer sehr begrenzten Auswahl an Erfahrungen – manchmal sind die Entscheidungen falsch. Worauf es sich oft beruft, neben der Neugierde, die es antreibt, bin ich: Vertraue ich ihm hier? Erscheine ich entspannt? Und bin ich da, um aufzufangen, zu trösten, Hilfe zu leisten? Gibt es einen sicheren Hafen für eine Rückkehr?

Jeden Tag erleben wir mit einem Kleinkind viele Male die Situation, dass es sich von uns entfernt, um etwas zu erkunden, neugierig die Welt zu entdecken, um dann zu uns zurück zu kommen, um in der Nähe zu sein und schließlich wieder aufzubrechen. Ein Kreislauf aus Nähe und Distanz. Aus der Sicherheit, uns als sichere Basis zu wissen, bricht das Kind immer wieder zu Abenteuern auf.

Auch Eltern brauchen Mut

Für uns Eltern bedeutet diese Phase des Kindes, dass auch wir Mut aufbringen müssen: Mut und Vertrauen in das Kind und seine Fähigkeiten. Es los lassen, damit es selbst erkunden kann und darauf vertrauen, dass es uns signalisiert, wenn es unsere Unterstützung braucht. Mut, nicht vorher einzugreifen*, um das Kind nicht einzuschränken. Da sein, aber als Beobachter*in. Mut, auszuhalten, an einem Ort zu sein, nur um für den Notfall da zu sein. Die Ruhe und eventuell Stille aushalten, die es mit sich bringt, wenn man nur dafür da ist, damit jemand zu einem zurück kommen kann. Mut, sich nicht von anderen Dingen ablenken zu lassen, sondern auf genau dieses Hier und Jetzt einzulassen. Mut, unsere eigenen Ängste nicht auf das Kind zu übertragen und toll zu finden, wie das Kind die Welt erkundet – auch wenn es das anders macht, als wir es uns vielleicht wünschen würden. Mut, genau dieses Bedürfnis des Kindes jetzt zu zu lassen und es zu begleiten, wenn nötig. Und auch den Mut, dann notwendige Entscheidungen zu treffen, wenn sie von einem erwachsenen Menschen getroffen werden müssen.

Was Abenteurer*innen brauchen

Kinder, gerade Kleinkinder, brauchen den sicheren Hafen. Als sicherer Hafen sind wir der Ort, an den sie zurück kehren können. Manchmal reicht aber auch nur der Blick über die Schulter, um sich zu vergewissern, dass der Hafen nicht weit weg ist. Manchmal braucht es die Sicherheit, dass er noch in Rufweite ist. Es tut gut, zu erfahren, dass das, was man gerade tut, von einer anderen Person wertgeschätzt wird. Dafür brauchen wir keine großen Worte, keine langen Ausschweifungen. Es kann ein Blick sein, eine Geste: Ich sehe Dir zu, weil ich Dir gerne zusehe. Ich habe gesehen, dass Du gerade etwas gemacht hast, dass Du noch nie zuvor geschafft hast. Wichtig ist vor allem: Es überhaupt wahrnehmen zu können. Wir müssen nicht die ganze Zeit auf das spielende Kind fokussiert sein, aber wir können es im Blick haben, in der Nähe sein und aufmerksam bleiben für das, was nun gerade kommt: Nähe oder Erkundung. – Und sie dann wieder abwechselt.

Eure

* gefährliche Situationen (wie Straßenverkehr u.a.) sind hiervon ausgeschlossen

Susanne Mierau ist u.a. Diplom-Pädagogin (Schwerpunkt Kleinkindpädagogik), Geburtsvorbereiterin, Familienbegleiterin und Mutter von 3 Kindern. 2012 hat sie „Geborgen Wachsen“ ins Leben gerufen, das seither zu einem der größten deutschsprachigen Elternblogs über bindungsorientierte Elternschaft gewachsen ist. Sie ist Autorin diverser Elternratgeber, spricht auf Konferenzen und Tagungen, arbeitet in der Elternberatung und bildet Fachpersonal in Hinblick auf bindungsorientierte Elternberatung mit verschiedenen Schwerpunkten weiter.  

Die Weisheit der Kinder

Wenn wir von „Weisheit“ reden, denken wir meist an alte, erfahrene Menschen. Doch auch Kinder sind weise. Sie zeigen uns zum Beispiel, was sie fühlen, auch wenn sie dafür keine Worte haben. Und sie zeigen uns, was sie brauchen, auch wenn sie das nicht benennen können. Betrachten wir zwei Beispiele:

Warum Kinder gerne „verstecken“ spielen

Linas Oma muss sich verstecken und Lina findet sie mit einem lauten Jauchzen. Doch am wichtigsten ist es ihr, selbst gefunden zu werden. Schon als kleineres Kind hat sie öfters die Hände vor die Augen gehalten und gerufen: „Bin weg. Bin weg!“ Und wenn man ihr dann auf die Nase stupste, nahm sie die Hände weg, öffnete die Augen, strahlte und rief: „Daaaaaaaa!“.

Kinder möchten gesehen werden, Kinder müssen gesehen werden. Das Sehen und Gesehen werden gehört zu den spürenden Begegnungen, , zu den grundlegenden Interaktionen, mit denen sich Kinder in die Welt öffnen und mit ihr verbinden. Wenn Kinder sich nicht gesehen fühlen, dann schwächt das ihr Selbstwertgefühl, dann gehen sie verloren und fühlen sich verloren. Gesehen zu werden ist viel mehr, als dass jemand die Information erhält, dass Lina existiert oder Lina dies und jenes macht. Gesehen zu werden bedeutet, dass Lisa als Mensch wahrgenommen wird, dass jemand in Beziehung zu ihr tritt und sie wertschätzt. Wenn Lina gesehen wird, bedeutet das immer auch, dass Lina es wert ist, gesehen zu werden.

Der Sinn des Versteckens besteht vor allem darin, gefunden zu werden. Der Schriftsteller Friedrich Ani erzählt in einem Roman* von einem Kind, das aus einem Kinderheim wegläuft und sich mehrere Tage versteckt. Süden, der Held des Romans, findet den Jungen und versucht ihm danach zu erklären, warum er weggelaufen ist: „Du kamst dir vor, als wärst du unsichtbar, und da dachtest du: wenn mich eh niemand sieht, kann ich genauso gut ganz abhauen.“** Und er sagt an anderer Stelle: „Manche Menschen werden erst durch ihr Verschwinden sichtbar.“*** Wenn Kinder sich verstecken, wollen sie gefunden werden. Immer und immer wieder. Linas Oma spielt gern Verstecken. Sie weiß nicht, warum Lina so viel Spaß daran hat, aber das ist ihr egal. Lina freut sich und deshalb freut sie sich auch.

Warum manche Kinder beim Spielen nicht „verlieren“ können

Angela, ihr Bruder und deren Eltern spielen Karten. Angela und die Mutter spielen zusammen, der Bruder und der Vater sind ein anderes Paar. Der Kartenhaufen in der Mitte wird immer größer. Es wird immer spannender. Man muss sich merken, welche Karte schon gefallen ist, um selbst die richtige Karte abzulegen. Dann ist es geschehen. Die Mutter patzt. Angela hätte genau gewusst, dass man die Zehn nicht ausspielen darf, sie hat sich die früher im Spiel abgeworfenen Karten gemerkt. Der Bruder und der Vater bekommen den großen Haufen und gewinnen das Spiel mit großem Vorsprung. Der Bruder triumphiert lachend. Angela kommen die Tränen. Sie kämpft gegen ihre Tränen an, sie will nicht, dass die anderen denken, sie könne nicht verlieren. Sie läuft hinaus …

Alle Kinder gewinnen gerne. Es ist selbstverständlich. Zu gewinnen ist ein Erfolgserlebnis. Es zeigt, dass man etwas gut und richtiggemacht hat, etwas „kann“. Und es ist eine Bestätigung der eigenen Wirksamkeit. Ganz gleich, ob im Sport oder im Spiel.

Nicht verlieren zu können, ist etwas anderes als das Gewinnen. Hier geht es nicht so sehr um den spielerischen Gewinn, sondern um den Selbstwert, die Selbstbehauptung und die Selbstachtung. Die Selbstachtung eines Kindes entsteht immer auch im Vergleich mit anderen Kindern, im Vergleich mit Erwachsenen. Ist diese Selbstachtung gefährdet oder wird sie verletzt, dann kann aus dem Bedürfnis, gerne zu gewinnen, die Anstrengung werden, nicht verlieren zu dürfen.

Noah muss immer gewinnen. Er spielt nur mit anderen, wenn er auch gewinnen kann. Wenn er keine Chance hat zu gewinnen, weigert er sich zu spielen. Die anderen sagen ihm dann, dass er „doof“ sei. Sie wollen nicht klein gemacht werden. Sie wollen auch einmal groß werden. Noah findet sich selbst auch „doof“. Immer eckt er an. Nie bekommt er Wertschätzung, nur dann, wenn er gewinnen kann. Aber auch da ist die Wertschätzung halbherzig. Mit seinem krampfhaften Bemühen, immer gewinnen zu müssen, macht er sich keine Freunde. Noah fühlt sich klein und kleingemacht.

Ein Kind, das nicht verlieren kann, hat vielleicht schon einiges verloren. Noah hat seine selbstverständliche Selbstwertschätzung verloren – aufgrund welcher Erfahrungen auch immer. Je sicherer Kinder sich fühlen, desto leichter gehen sie damit um, ob sie gewinnen oder verlieren. Gewinnen oder verlieren ist dann eine Frage spielerischen Wettbewerbs und nicht der existentiellen Selbstbehauptung. Wenn Kinder nicht verlieren können, haben sie etwas verloren und daran muss die Hilfe ansetzen. Mit ihnen über das Gewinnen und Verlieren zu reden oder zu streiten, ist sinnlos. Der Sinn, nicht verlieren zu können besteht darin, dass sie uns zeigen, dass sie mehr Beachtung und mehr Wertschätzung brauchen.

Der verborgene Sinn kindlichen Verhaltens

Wenn Jonas im Kinderstuhl den Löffel auf den Boden wirft, steht meist ein Elternteil auf und gibt ihm den Löffel zurück. Jonas strahlt und lässt den Löffel wieder fallen … Und so geht es weiter. Das scheint für uns Erwachsene unsinnig zu sein. Da sich Jonas freut, spielen wir mit. Doch was „das soll“, ist unverständlich. Dabei liegt der Sinn auf der Hand: Kinder brauchen die Erfahrung, wirksam zu sein. Jonas ist wirksam. Er bewirkt, dass Mama oder Papa immer wieder aufstehen und ihm den Löffel aufheben und zurückgeben. Oft sind die „Großen“ wirksam und Jonas muss tun, was sie wollen. Hier ist es umgekehrt. Das ist der Sinn seines Verhaltens.

Das Wort „Sinn“ stammt aus dem mittelhochdeutschen „sin“ und bedeutet ursprünglich „Richtung“. Im Wort „Uhrzeigersinn“ ist diese Bedeutung noch enthalten. Der Sinn kindlichen Verhaltens bleibt manchmal verborgen, weil die Kinder keine Worte haben und ihre Absichten nicht erklären können. Dich sie zeigen uns in ihrem Verhalten die „Richtung“, in die sie gehen wollen, ihre Absichten, ihren Sinn. Auch wenn Angela im Kartenspiel nicht verlieren kann, zeigt uns das etwas: dass sie vielleicht schon etwas verloren hat, womit sie nicht umgehen kann, dass ihr etwas fehlt, dass sie Selbstwertschätzung und Würdigung braucht.

Auch der Sinn des Verstecken-Spielens ist klar: Kinder wollen gesucht werden, wollen gefunden werden, wollen Beachtung.

Die Weisheit der Kinder

Doch die Weisheit der Kinder geht noch darüber hinaus, dass sie uns den Sinn zeigen: Sie rufen in uns Gefühle und Befindlichkeiten hervor, die sie selbst spüren, für die sie aber keine Worte haben. Wenn Noah immer „gewinnen“ muss, dann ruft das bei den Eltern Unverständnis hervor: Was soll das, es ist doch nur ein Kartenspiel. Auch Noah versteht das nicht und ist verwirrt über sich selbst. Wenn Sie das Gefühl haben, bei Ihrem Kind „vor eine Wand“ zu laufen, können Sie ziemlich sicher sein, dass das Kind das gleiche Gefühl hat – vielleicht nicht Ihnen gegenüber, sondern gegenüber der Lehrerin, der Freundin oder einer anderen Person. Wenn Sie sich hilflos fühlen, liegt die Vermutung nahe, dass das Kind sich auch hilflos fühlt …

Solche Zusammenhänge zu erkennen, erhöht das Verständnis für Ihr Kind. Damit soll nicht gesagt sein, dass Sie alles akzeptieren oder verzeihen sollten. Verstehen ist nicht Akzeptieren. Aber Verstehen hilft, einen Zugang zum Kind zu finden. Wenn Sie sich hilflos fühlen, äußern Sie, dass Sie hilflos sind. Fragen Sie, ob Ihr Kind sich auch hilflos fühlt, ob es Hilfe braucht.

Den verborgenen Sinn kindlichen Verhaltens zu erkennen und die eigenen Reaktionen als möglichen Spiegel des kindlichen Empfindens zu beachten, ist nützlich, eine verständnisvolle Verbindung mit Ihrem Kind, mit Ihren Kindern aufzubauen oder zu behalten.

Sinn
Weisheit
Für alles Verständnis, aber nicht alles akzeptieren

Dr. Udo Baer ist Diplom-Pädagoge, Kreativer Leibtherapeut AKL und u.a. Vorsitzender der Stiftung Würde. Auf Geborgen Wachsen schreibt er über die (Gefühls-)Welt der Kinder, ihre Gedanken und die sich ergebenden Herausforderungen. Mehr über dieses Thema findet sich in seinem neuen Buch „Die Weisheit der Kinder

 

 

*Ani, F. (2011): Süden und die Schlüsselkinder. München
** a.a.O. Seite 166
*** 
Ani, F. (2011) Süden. München

Was tun bei Reiseübelkeit von Kindern?

Reisen mit Kindern ist toll, kann aber in einigen Fällen dann schwierig werden, wenn einzelne Familienmitglieder Schwierigkeiten haben mit den Fahrten: Ob im Auto, Bus oder der Bahn, Reiseübelkeit kann verschiedene Familienmitglieder betreffen, tritt aber besonders ab dem 2. Lebensjahr bis zur Teenagerzeit auf. Während Erwachsene meist schon ihre Umgangsmöglichkeiten damit gefunden haben und diese Übelkeit auch besser verstehen, ist es bei Kindern oft wesentlich schwieriger.

Woher kommt die Übelkeit?

Eigentlich sind wir auf die Fortbewegung zu Fuß ausgerichtet. Dabei bekommen wir über unsere Sinnesorgane die passenden Nachrichten über unsere Fortbewegung und das Gehirn kann alle Informationen sinnvoll kombinieren. Bewegen wir uns aber mit dem Auto, Bus oder Schiff, werden also gefahren, stimmen die Informationen nicht mehr überein: Unser Auge sieht, dass wir uns bewegen, unser Körper gibt aber keine passenden Signale dazu von sich, denn er bewegt sich nicht. Besondere Bedeutung hat dabei das Gleichgewichtssystem im Innenohr: Kurven, eine holprige Strecke und ein Auf und Ab wirken auf das Gleichgewichtssystem. Werden die Bewegungen nicht mit den Augen verfolgt, führt das zu Irritationen in der Verarbeitung und es kommt zu Übelkeit und Erbrechen. Gerade bei größeren Kindern kann aber auch die Aufregung einen Teil zur Reiseübelkeit beitragen. Hier ist es dann besonders wichtig, über Ängste und Sorgen zu sprechen und die Gefühle des Kindes vor der Reise aufzufangen. Kennt das Kind Reiseübelkeit bereits, kann es auch Angst vor der Übelkeit oder dem Erbrechen entwickeln.

Was tun gegen Reiseübelkeit bei Kindern?

Reiseübelkeit ist meist ein Problem der Wahrnehmung und Verarbeitung. Ein „Reiß Dich zusammen“ ist nicht hilfreich, denn Kindern fehlt die Möglichkeit, mit diesem Gefühl selbständig umzugehen. Als Eltern können wir sie daher nur begleiten und ihnen einige Erleichterungen verschaffen oder Hilfen anbieten gegen die Übelkeit. Sie brauchen uns aber dafür, um damit richtig umzugehen zu lernen.

Der wichtigste Punkt ist, die Ursache der Übelkeit anzugehen, nämlich die Unvereinbarkeit der Sinneseindrücke: Daher ist es gut, das Kind anzuregen, aus dem Fenster zu sehen und Spiele zu initiieren, die dies unterstützen. Besonders wichtig ist es auch, die Ängste und Sorgen aufzufangen und das Kind zu beruhigen: Übelkeit ist ein unangenehmes Gefühl, gerade für kleinere Kinder, die es schwer einordnen können und nicht wissen, wann und wie es beendet werden kann. Angaben zur Reisedauer und dazu, wie lange dieser unangenehme Zustand noch ausgehalten werden muss, können nicht überblickt werden. Für sie ist es deswegen besonders wichtig, regelmäßige Erholungspausen zu machen.

Allgemeine Tipps bei Reiseübelkeit von Kindern

  1. Ruhe & Entspannung am Abend zuvor.
  2. Bus, Bahn, Auto: Aus dem Fenster sehen, damit Gefühl + Sehen übereinstimmen (Achtung: ist das im Kindersitz möglich?)
    Schiff: An Deck gehen und den Horizont ansehen, in der Mitte schwankt es meist weniger
  3. In Fahrtrichtung sitzen unterstützt den Gleichgewichtssinn/Vereinbarkeit der Eindrücke.
  4. Regelmäßig Pausen an der frischen Luft machen mit Bewegung.
  5. Nachts reisen.
  6. Nicht mit leerem Magen reisen, aber auch nicht zu voll: Snacks anbieten.
  7. Größeren Kindern das Kauen von Kaugummi helfen.
  8. Spiele spielen, die ablenken oder mit dem Hinaussehen zu tun haben. Nichts, bei dem sich das Kind auf einen Punkt im Auto fokussiert (wie lesen).
  9. Notfallset dabei haben: Spucktüte, feuchter Lappen, eine Flasche Zitronenwasser zum Nachspülen, Wechselkleidung

Manchen Kindern helfen auch Akupressurarmbänder oder das Riechen an einem mit Orangenöl versehenem Tuch (Orangenöl wirkt beruhigend und entspannend). Meist geht die Reiseübelkeit im Teenageralter zurück. Leidet das Kind sehr unter Reiseübelkeit, sollten Reisen vorab immer gut geplant und besprochen werden und unnötige Fahrten nach Möglichkeit vermieden werden.

Eure

Susanne Mierau ist u.a. Diplom-Pädagogin (Schwerpunkt Kleinkindpädagogik), Heilpraktikerin, Familienbegleiterin und Mutter von 3 Kindern. 2012 hat sie „Geborgen Wachsen“ ins Leben gerufen, das seither zu einem der größten deutschsprachigen Elternblogs über bindungsorientierte Elternschaft gewachsen ist. Sie ist Autorin diverser Elternratgeber, spricht auf Konferenzen und Tagungen, arbeitet in der Elternberatung und bildet Fachpersonal in Hinblick auf bindungsorientierte Elternberatung mit verschiedenen Schwerpunkten weiter.  

Die besten Spiele für unterwegs – 40 Tipps vom Kleinkind bis zum Schulalter

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Mit unseren drei Kindern sind wir öfters mal unterwegs: Weil wir die Kinder auf arbeitsbedingte Reisen mitnehmen, weil wir mit dem Zug aufs Land fahren, weil wir Freunde besuchen. Da wir unsere Flugreisen auf ein Minimum begrenzen wollen, sind die Reisezeiten manchmal lang und es ist wichtig, Reisen gut zu planen und nicht nur genügend Essen und Getränke mit zu nehmen, sondern auch an die Beschäftigungen zu denken. Mit drei Kindern in drei unterschiedlichen Altersgruppen gibt es immer einige Dinge, die gut zusammen gespielt werden können und andere, die nur für einzelne passen.

Generell gilt bei längeren Fahrten mit Kindern:

  • Sitzplätze reservieren, um Stress zu vermeiden. Besonders schön: ein Kinderabteil in der Bahn reservieren für ausreichend Platz und um andere Fahrgäste vor der Lautstärke zu schützen/sich vor negativen Blicken zu schützen
  • ungünstige Fahrtzeiten mit vielen Fahrgästen meiden (Berufspendlerzeiten)
  • wenig Gepäck mitnehmen, um nicht in Stress zu geraten und sich auch beim Umsteigen gut um die Kinder kümmern zu können
  • Kleinteilige Spielsachen in eigene Dosen oder Beutel verpacken (siehe LEGO-Box, auch möglich als Pixiebuch-Box oder Malbox mit Stiften)
  • an Essen und Getränke denken: unterwegs einzukaufen ist oft teuer und produziert oft unnötigen Müll
  • Kinder mit einem Notfallarmband/auf den Arm geschriebener Rufnummer versorgen, falls man sich unterwegs doch verliert

Ab Kleinkindalter

  • Spiele: Mein erster Obstgarten, Autoralley, Memory
  • ohne Material: Welche Farbe hat…? (Dinge im Zug oder draußen benennen und nach Farbe fragen)
  • ohne Material: Was fehlt? (Drei bis fünf Dinge aus der Handtasche auf den Tisch legen, Kind schließt die Augen, eins weg nehmen und fragen, was fehlt)
  • Stift und Papier: Gemaltes raten (einer malt, der andere rät was es wird)
  • Perlen auffädeln
  • DIY: Ertaste-Beutel (einen blickdichten Beutel mitnehmen. Einen Alltagsgegenstand/ein Ding aus der Handtasche/ein Spielzeug hinein legen und ertasten lassen, was es ist)
  • Spielzeugautos
  • bei Bahnfahrten: Bordrestaurant besuchen
  • Aufkleberhefte
  • Ausmalhefte
  • Bienenwachsknete
  • Bücher vorlesen
  • einfachvorlesen.de
  • malen mit Stiften/Zaubertafel

Ab Vorschulalter

  • ohne Material: Ich sehe was, was Du nicht siehst
  • ohne Material: Wortkette (Spiel mit zusammengesetzten Nomen: Spieler*in 1: Bananenblatt, Spieler*in 2: Blattsalat, Spieler*in 3: Salatkopf,…)
  • ohne Material: Ich packe meinen Koffer und nehme mit…
  • ohne Material: Was ist es? (Eine*r denkt sich ein Tier/Ding/eine Person aus und die anderen beginnen mit Fragen: Ist es ein Tier?… Geantwortet wird nur mit Ja oder Nein. Wird mit Ja geantwortet, darf die Person noch einmal fragen)
  • zu Hause vorbereitet: selbstgemachte LEGO-Box (siehe DIY Bild)
  • zu Hause vorbereitet: Stationskarten (für jeden Halt eine Karte mit dem Ortsnamen basteln, das Kind bekommt zu Fahrtbeginn alle Karten und gibt bei jeder Station die passende Karte ab. So bekommt es ein Gefühl für die Länge der Fahrt)
  • Spiel: UNO
  • Spiel: Bingo (Reisebingo)
  • Spiel: Reisespiele für unterwegs wie Mensch Ärgere Dich nicht
  • Kritzelkarten für unterwegs
  • Tiptoi (mit Kopfhörern)
  • Hörbücher (mit Kopfhörern)
  • Washitape
  • Stempel + Stempelfarbe
  • Strickliesel
  • Apps
  • ICE-Portal mit Hörspielen, Spielen, Filmen

Ab Schulalter

  • ohne Material: Teekesselchen spielen
  • Spiel: Drecksau
  • Stift und Papier: Stadt, Land, Fluss
  • Stift und Papier: Käsekästchen
  • Stift und Papier: Reisetagebuch schreiben
  • Stift und Papier, zu Hause vorbereiten: Fahrtstrecke auf kopierter Landkarte einzeichnen
  • alte Spiele-Handhaldes wie Gameboy & Co.
  • Armbänder knüpfen
  • Ebookreader/Tablets: In einigen Bibliotheken lassen sich kostenfrei Bücher ausleihen und auch unterwegs ausleihen

 

Susanne Mierau ist u.a. Diplom-Pädagogin (Schwerpunkt Kleinkindpädagogik), Geburtsvorbereiterin, Familienbegleiterin und Mutter von 3 Kindern. 2012 hat sie „Geborgen Wachsen“ ins Leben gerufen, das seither zu einem der größten deutschsprachigen Elternblogs über bindungsorientierte Elternschaft gewachsen ist. Sie ist Autorin diverser Elternratgeber, spricht auf Konferenzen und Tagungen, arbeitet in der Elternberatung und bildet Fachpersonal in Hinblick auf bindungsorientierte Elternberatung mit verschiedenen Schwerpunkten weiter.  

Einmal alles – Wie Kinder die bunte Palette der Gefühle erproben

Drei Kinder in drei unterschiedlichen Altersgruppen, das bringt viele Erfahrungen mit sich, viele Abenteuer, sehr viele Gefühle – und immer wieder auch unterschiedliche Emotionen. Drei Kinder im Alter von 9 Jahren, 5 Jahren, 2 Jahren: Es ist alles dabei von der „Trotz“phase über die Vorschulzeit-Wackelzahnpubertät bis zur „Vorpubertät“. Es gibt Lachen und unglaubliche Freude und es gibt zutiefst verwurzelten Ärger und es gibt laute, unbändige Wut. In unserem Haus gibt es alles, jedes Gefühl, weil sie jedes hier kennen lernen und ausprobieren im Schonraum der Familie bevor es hinaus geht in die Welt.

Diese unglaubliche Freude, die nur Kinder haben können: Eine Freude, die den ganzen Körper ergreift und sie wie einen Flummi durchs Zimmer hüpfen lässt. Eine Freude, die manchmal zu groß zu sein scheint für den kleinen Körper, die in Funken zu explodieren scheint und ansteckt in ihrem wilden Gekicher. Und ebenso wie es diese Freude gibt, gibt es auch die unglaubliche Wut, die wie dicker roter Nebel auf einmal im Raum steht. Eine Wut, die sich in einen Tornado verwandelt, der um das Kind kreist: Komm nicht näher, denn sonst wirst Du eingesaugt. Geh nicht weg, denn Du musst dennoch für Sicherheit sorgen. Und es gibt die schwere Decke der Trauer, die sich über ein Kind legen kann und die Tränen fließen lässt. Die manchmal fast zu schwer erscheint, um sie wegzuziehen, und es nur hilft, sich daneben zu legen und mitzutrauern, bis die Schwere durch die vielen geflossenen Tränen nachgelassen hat.

All diese Gefühle und ihre tausend kleinen Facetten erwarten uns im Leben mit Kindern. Naiv habe ich schon manches Mal gedacht: Nun habe ich aber wirklich alles erlebt und werde dann von meinem größten Kind eines besseren belehrt: Es gibt so viele Farben und Formen von Gefühlen. Und das, was wir mit ihnen erleben, verändert sich – und ist bei jedem Kind ein wenig anders. Die Verarbeitung von Gefühlen verändert sich und auch das, was sie erleben können und wollen. Denn sie setzen sich zuerst mit sich und ihren Gefühlen auseinander und dann mit denen der Umwelt.

https://twitter.com/fraumierau/status/1039244884438405121

Am Anfang des Lebens ist alles noch verwoben und unklar: Ein Bauchschmerz ist kein Bauchschmerz, sondern ein starker, stechender Schmerz im Körper, von dem nicht gewusst wird woher und wohin. Im Laufe der Zeit wird verstanden, was genau passiert, was empfunden wird. Und irgendwann kommt das Bewusstsein dazu, dass auch andere Menschen ganz anders fühlen. Es wird probiert, wie Empfindungen entstehen und wie sich der Mensch gegenüber verhält. Was ist hier und heute wie und wie ist es morgen? Nach und nach wird die Welt in Frage gestellt und damit einher entsteht Freude, aber auch Enttäuschung, Wut, Liebe. Nicht nur da draußen, sondern gerade auch hier drinnen in der Familie. Am ersten Ort, an dem all das ausprobiert wird.

Mein „Trotz“kind weiß manchmal nicht so recht, wogegen oder wofür es gerade ist. Es IST einfach nur und gibt sich dem Gefühl hin. Mein großes Schulkind hingegen ist oft schon ganz bestimmt gegen oder für etwas und erklärt das laut und stark. Manchmal bin ich verletzt von dem: vom kleinsten Kind, vom mittelsten oder auch vom großen. Auch hier wieder ganz unterschiedlich: von einem empörten Biss in den Arm, einem „Kackmama“ oder einem „Du liebst mich gar nicht!“. Aber ich weiß: Da müssen wir jetzt durch. All die Gefühle wollen hier ausprobiert werden und alle Antworten wollen hier zum ersten Mal durchgegangen werden, bevor sie woanders ausprobiert werden. Das hier ist der Schonraum, der Ort, an dem nicht nur das Laufen, sondern auch das Fühlen gelernt wird und die Antworten, die es darauf gibt. Und mit diesem Wissen ist es dann manchmal etwas einfacher, auch wenn es manchmal weh tut.

Eure

 

„Nein, meins!“ – Ich will genau dieses Spielzeug JETZT!

Zwei Kinder sitzen im Sandkasten, eines von ihnen spielt mit einem kleinen Trichter und lässt den Sand hindurch rieseln in eine kleine Wasserschüssel, wo der Sand sich sogleich mit Wasser voll saugt und zu Matsch wird. Wie hypnotisiert sieht das andere Kind einen Moment zu, steht dann auf, geht hinüber, und reißt den Trichter aus der Hand. Es entsteht ein Streit um den Trichter – beide wollen ihn haben. Aber steht wirklich der Besitz hinter diesem Streit? Eine ähnliche Situation, die sich oft in Kinderzimmern von Geschwistern abspielt: Das kleine Kind sieht dem größeren Geschwisterkind beim Spielen zu, rennt zu ihm, reißt das Spielzeug aus der Hand, rennt weg, spielt kurz damit und wirft es dann achtlos in die Ecke. Was passiert hier?

Das belebte Objekt

Wenn sich Kinder um einen Gegenstand streiten, denken wir oft, dass es um den Besitz geht. Wir denken, das andere Kind möchte dieses andere Ding haben, möchte es besitzen und wir regen dazu an, Sachen zu teilen, weil wir denken, es würde darum gehen, sich einen Gegenstand auszuleihen. Wenn der Gegenstand dann den Besitzer oder die Besitzerin gewechselt hat, ist das Interesse an dem Gegenstand auch oft schon verloren. „Aha, es ging nur darum, den eigenen Willen durchzusetzen!“ sind Eltern dann oft verleitet zu denken. Oft aber geht es, gerade bei Babys und kleinen Kindern, nicht um den Besitz und auch nicht darum, den eigenen Willen durchzusetzen, sondern um die Erfahrung, die dahinter steht. Dieses Wissen, das Verstehen des Kindes, kann verändern, wie wir mit einer solchen Situation umgehen und das Kind betrachten. Und selbst dann, wenn es manchmal um das Besitzen geht, lohnt sich ein Blick auf die wirklichen Gründe dahinter, warum Besitz ein wichtiges Thema für Kinder ist.

Entwicklungsressourcen

Das Kind, das den Trichter haben möchte, sieht das andere Kind, sieht wie es Freude hat bei dem Spiel und dass es damit eine spannende Erfahrung macht. Es sieht, dass das Kind etwas lernt, experimentiert. Genau das möchte es auch: lernen und experimentieren, sich weiter entwickeln, einen Entwicklungsvorteil erwerben. Wie so oft geht es auch hier um Ressourcen, dieses Mal um Entwicklungsressourcen. Es ist also keine böse Absicht des Kindes, es ist kein Machtspiel, sondern ein innerer Entwicklungsdrang, der hinter dem Verhalten steht.

Genau das erkennen wir auch dann, wenn das Kind das Spiel auf einmal beendet und das Spielzeug achtlos zur Seite wirft. Oft passiert das dann, wenn es dieses Spiel, das es gesehen hat, nicht nachahmen kann, wenn es nicht die gleiche Erfahrung damit machen kann wie das andere Kind. Vielleicht, weil es dafür noch zu klein ist, wie oft bei Geschwistern zu beobachten ist: Eben sollte es dieses Spielzeug noch unbedingt sein, nun ist es schon nicht mehr interessant, wo es doch endlich in der Hand gehalten wird.

Warum nur „teilen“ oft nicht hilft

Das andere oder größere Kind nur zum Teilen aufzufordern, bringt deswegen meist keinen Erfolg in einer solchen Streitsituation: Denn nur durch den Besitz des Gegenstandes wird der eigentliche Wunsch hinter dem „Habenwollen“ nicht erfüllt. Im schlechtesten Fall sind durch die Aufforderung des Teilens zwei Kinder frustriert: Das Kind, das teilen soll (und seinen Besitz abgeben muss, der für das ältere Kind sehr wichtig ist, siehe unten) und das Kind, das mit dem Gegenstand eigentlich nichts anfangen kann.

Hilfreich ist deswegen, wenn wir das andere Kind begleiten im Experimentieren damit oder von Anfang an Alternativen anbieten können bspw. bei Spielsachen, die doppelt vorhanden sind. Eltern, die sowieso mitspielen und im Sandkasten eine eigene Schaufel haben, können ihre Schaufel als Alternative anbieten. Andere Kinder zum Teilen aufzufordern, ist oft schwierig, denn es ist wichtig, auch sie nicht aus ihrem Spiel und ihrer aktuellen Entwicklung heraus zu reißen. Sie brauchen einen geschützten Raum, in dem sie sich in Ruhe beschäftigen dürfen und gerade unter Geschwistern ist es auch wichtig, eigenen Besitz zu haben, der nicht geteilt werden muss.

Besitz

Besitz ist in der Vorschulzeit etwas, das die eigene Position in der Gruppe stärkt oder auszeichnet. Geht es im Wegnehmstreit nicht um das Ausprobieren, kann auch der reine Besitz eine Rolle spielen. Auch hier geht es aber wieder um eine Entwicklungsressource und nicht um eine böse Absicht: Zu sehen, wohin ich gehöre, wie ich mich in der Gruppe bewege und welche Stellung ich habe. Manchmal nehmen Kinder anderen Kindern Dinge weg, um diese soziale Position zu hinterfragen und auszumachen. Auch dies ist normal und wichtig.

Kreativer Umgang mit Konfliktsituationen

Wie immer in Streitsituationen ist es gut, Kinder auch eigene Möglichkeiten und Lösungen finden zu lassen. Manchmal ist dies nicht möglich, und wir müssen eingreifen, um zu unterstützen. Langfristig ist es hilfreich, den Kindern zu vermitteln, dass nach gewünschten Dingen gefragt werden kann. Auch hier ist das Vorbildverhalten der Eltern wieder wichtig: Nehmen wir Dinge einfach aus der Hand oder fragen oder bitten wir zuvor?

Teilen ist ein wichtiger Meilenstein der Entwicklung, aber das freiwillige Teilen erwerben Kinder erst im Laufe der Zeit – es ist, wie viele andere Dinge, eine Frage der Entwicklung.

Deswegen ist es so wichtig, Kinder gut zu begleiten, sie anzuregen, aber nicht zu bestimmen. Wir können ein „gleich“ anbieten, ein „ausleihen“ oder auch einfach vermitteln: Es ist vollkommen in Ordnung, dass Du dieses Ding nicht teilen möchtest, wenn es so wichtig ist. Wir können erklären, dass beispielsweise nicht teilbare Dinge nicht auf den Spielplatz mitgenommen werden, um Konflikten vorzubeugen. Und wir können selber Vorbild sein im Teilen und dem Umgang mit eigenen Dingen, gerade wenn ein Kind etwas von uns Erwachsenen „einfach“ wegnimmt.

Betrachten wir solche Streitsituationen also wohlwollend einmal durch die Augen der Kinder. Dann wird uns klar, dass hinter solchen Streitsituationen keine böse Absicht steckt, kein Fehlverhalten und keine „schlechte Erziehung“, sondern dass sie vollkommen normal und wichtig sind für die kindliche Entwicklung. Und mit diesem Wissen wird es schon leichter.

Eure

 

Kleine Abenteurer*innen, ab in die Wildnis! – Warum Kinder die Natur nicht nur zum Spielen brauchen

Das Dickicht reicht uns bis zu den Schultern. Die Beine sind zerkratzt, die Haare sind zerzaust und unserer Kleidung sieht man den Kampf durchs Unterholz an. Wir schlagen uns mit Stöcken durch das hohe Gras. Ich voran, mein Bruder hinterher. Wir sind mitten in der Wildnis, auf dem Weg zu unserer selbstgebauten kleinen Hütte.

Die stärksten Erinnerungen an meine Kindheit sind die Abenteuer, die ich draußen erlebt habe. Viele davon auf dem Bauernhof bei meinem Opa oder auf dem großen Gelände der Gärtnerei von Freunden. In beiden Orten haben mein Bruder und ich viele, viele Wochenenden verbracht. Und unter der Woche streiften wir in der Stadt durch die Wildnis. Hier trafen sich die Kinder der Straße, hier wurde gekämpft und gebaut, gespielt und geträumt.

Die Trampelpfade unserer Kindheit sind im Buschwerk nur noch für den zu erahnen, der ihre verschlungenen Wege kannte. Längst ist die nächste Generation Kinder groß genug für neue Abenteuer auf dem 500 Meter langen, schmalen Wildnisstreifen.

Doch von Abenteurern ist weit und breit nichts zu sehen. Kein Hämmern dringt aus dem Buschwerk, das den Bau eines Unterschlupfs verraten würde. Kein Indianer-Heulen deutet auf Clan-Kämpfe der verschiedenen Häuserreihen an. Kein Rascheln und Stapfen im grünen Dschungel. Wo sind die Kinder? Dürfen sie dort nicht spielen? Wollen sie dort nicht spielen? Ich tippe mal auf ersteres: Kinder alleine in der Natur, das würde mir als Mutter heute auch den Schweiß auf die Stirn treiben. Und trotzdem sehe ich meine Tochter, wenn sie etwas älter ist als ihre jetzigen zwei Jahre, dort spielen. Weil Natur der Stoff ist, aus dem Erinnerungen gemacht sind. Weil wir Spaß hatten an den Abenteuern und unglaublich viel gelernt haben. Und vor allem, weil das Spielen in der Natur so viel mehr ist, als nur ein Spiel.

Die flurbereinigte Kindheit behindert die kindliche Entwicklung

Für Kinder ist das Spielen in der Natur nicht einfach eine nette Ergänzung zum Alltag. Nein, für Kinder ist das Sein in der Natur essenziell. Kinder entwickeln sich in der Natur. Hier stoßen sie auf Freiheit und kommen mit Unmittelbarkeit in Berührung. Sie erleben Widerstand und gleichzeitig einen Bezug zu ihrer Umwelt und sich selbst. Und mit diesen Quellen, die in keiner künstlichen Welt nachzustellen sind, bauen Kinder das Fundament, das sie durchs Leben trägt. Die Stunden, die die Kinder in der Natur verbringen, sind reine Entwicklungszeit.

Kinder spielen nicht mit Matsch, sie lernen mit Matsch

Bis die Menschen in Mittel-und Nordeuropa vor 4.000 bis 5.000 Jahren sesshaft wurden, lebten wir Menschen in und mit der Natur. Ein großer Teil der Zeit spielte sich draußen ab. Die Kinder mussten dabei auf ihrem Weg zum Großwerden starke und vielverzweigte Wurzeln ausbilden, die ihr Fundament zum Großwerden darstellen. Wurzeln bilden die Kinder auch heute noch aus. Lernen tun sie täglich.Aber zu 99% passiert das in unserer heutigen Zeit in geschlossenen Räumen. Der Kinderarzt und Autor Herbert Renz-Polster spricht von einem „Flurbereinigten Modell“ der Kindheit.

Den Kindern steckt die Natur aber noch immer im Blut. Im freien Spiel träumen sie sich in uralte Motive. Sie spielen mit Stöcken und imitieren Jagdszenen. Sie bauen Höhlen und Zelte, verstecken sich und suchen Schutz. Sie spielen stundenlang an einem Bach, stauen Wasser auf, vermischen es mit Erde. Sie matschen, kleben und bauen. Und ein Abend am Lagerfeuer, mit Stockbrot, heißen Gesichtern und kalten Rücken ist eine magische Erfahrung für Kinder. All diese Erfahrung sind es, die Kinderaugen abends leuchten lassen: „Heute haben wir ein Abenteuer erlebt“.

Doch Kinder spielen nicht einfach so zum Spaß. Sie lernen, sie arbeiten richtig für ihre Entwicklung, während sie ihre Sinne trainieren. Sie verfeinern ihren Einsatz von Körperkraft und Koordination, während sie auf Bäume klettern und auf rutschigen Steinen balancieren. Und Spielforscher beschreiben, dass Vorschulkinder in der freien Natur die Hälfte ihrer Zeit mit Zählen und dem Erforschen von Formen, Mustern und dem Sortieren verbringen. Sie machen sich mit den Grundkonzepten der Mathematik und Physik vertraut. Natürlich wissen sie das nicht und das ist auch nicht wichtig. Aber für uns Erwachsene mag es wichtig sein, das zu wissen. Kinder spielen nicht ohne Grund. Sie lernen im Spiel. Dabei schöpfen sie den Reichtum aus, den die Natur ihnen für ihre Entwicklung bietet.

Zeit und Raum schenken – unter freiem Himmel

In unserer Erziehung achten wir darauf, dass die Phantasie und Kreativität bei unseren Kindern nicht zu kurz kommt, dass sie empathisch mit anderen Menschen und Lebewesen umgehen, dass sie selbstsicher sind und im Falle eines Risikos richtig handeln. All das lässt sich mit Stofftieren und auf asphaltierten Höfen nicht planbar anerziehen. Aber all das finden Kinder draußen. Wir sollten wieder mehr auf die Fähigkeiten ihrer eigenen Entwicklung vertrauen. Sie sind hungrig nach Abenteuern und suchen sich dabei ihre Nahrung. Sie haben eine Intuition dafür, was sie für ihre Entwicklung benötigen und sind mit Feuereifer dabei, sich das notwendige Handwerkszeug zum Aufwachsen in ihrem Spiel anzueignen.

Doch dafür brauchen Kinder Zeit und Raum. Beides Dinge, die heute Mangelware sind. Statt stundenlang draußen zu spielen, gehen wir mit den Kindern „mal für eine Stunde raus“. Wir blockieren die Räume, in denen Kindern ihre Spiele gestalten wollen. Wir haben einen Ort im Sinn, wenn wir mit den Kindern nach draußen gehen. Und dieser Ort ist nicht die verwilderte Brachfläche, auf der es keine Bank zum sitzen, keine Kommunikation mit anderen Eltern und – für uns Eltern – auch wenig zu sehen gibt. Doch es sind genau diese verwilderten Brachen oder die vergessenen Ecken der Planer auf Spielplätzen oder Parks, die die Kinder so magisch anziehen. Hier suchen und finden sie Nahrung für ihre Entwicklung in ihrem Spiel.

Wir wussten oder ahnten zumindest, dass Natur wichtig ist für Kinder. Jetzt wissen wir auch, dass sie nicht nur wichtig für ihr Spiel, sondern essenziell für ihre Entwicklung ist. Und wir sollten versuchen, für unsere Kinder wieder ein Stück weit Richtung Natur zu gehen.

Ein naturorientiertes Aufwachsen ist auch heute noch möglich, auch als Stadtkind. Wie das geht, welche Hindernisse es geben kann und was „Natur“ in Deutschland alles ausmacht, darüber erzähle ich euch in den nächsten Folgen dieser Kolumne. Damit meine Tochter bald Spielkamerad_innen findet, um mit ihnen durch die Wildnis zu stromern. Immer auf der Suche nach neuen Abenteuern.

Veronika hat Biologie, Naturschutz und Landschaftsplanung studiert und ist Mutter einer Tochter. In ihrer Kolumne „Naturorientiertes Aufwachsen“ berichtet sie von Wegen, auf denen Kindern die Liebe und der Respekt zur Natur als Samenkorn mitgegeben werden können.  Mehr über Veronikas Arbeit und ihre aktuellen Texte zu grünen Themen findet ihr auf ihrer Homepage, Instagram oder Twitter.

 

Der Moment des ersten Kennenlernens

Wer ein Kind in sich trägt, lernt es über die Monate kennen. Kleine Streckbewegungen, Tritte gegen eine Hand, das Streicheln über den Bauch, das beruhigt. Wir gehen schon vor der Geburt in Beziehung mit dem kleinen Menschen, der in uns wächst. Und dennoch gibt es diesen einen Moment, in dem sich Eltern und Kind zum ersten Mal in die Augen blicken, in dem zum ersten Mal die kleinen Gesichtszüge betrachtet oder befühlt werden. Der magische Moment des richtig bewussten Kennenlernens.

Hier sind wir zwei nun…

Zwei Handvoll Mensch liegen im Arm, so warm und leicht und schwer zugleich. So leicht als Mensch und so schwer als Verantwortung. Von nun an ist da dieser Mensch in Deinem Leben und Du bist Mutter oder Vater. Das erste Mal das eigene Kind zu halten, ist besonders. Mit großen Augen blickt es den Menschen gegenüber an, so ruhig und besonnen. Es scheint jede Besonderheit des Gesichts aufzunehmen, es abzugleichen, zu erkennen. Und auch wir auf der anderen Seite blicken in dieses kleine Gesicht und denken: „Ach so siehst Du aus, herzlich willkommen.“ Ein Kennenlernen beginnt, eine Art Blind-Date: Was bringst Du wohl mit in unsere Beziehung, in unser Leben? Was wirst Du lieben, was wirst Du ablehnen? Welches Temperament hast Du und welche wird Deine Lieblingsfarbe werden? In den nächsten Jahren werden wir zusammen wachsen, uns aufeinander abstimmen und auch immer wieder mit verschiedenen Meinungen aufeinander treffen. Es wird so schöne Momente geben wie diesen und harte, schwere Stunden. Großes Glück und große Sorgen. Aber in diesem einen Moment zählt nur, sich anzublicken. Alles andere kommt später.

In all den Jahren habe ich viele Erfahrungen mit meinen Kindern gemacht und doch erinnere ich mich an diesen einen Moment, an dem ich jedes Kind so wirklich bewusst und in Ruhe wahrgenommen habe. In dem die Zeit um uns verschwand und wir ganz bewusst eintauchten in das Kennenlernen. Uns gegenüber waren und anblickten. Jedes Mal wieder war es ein magischer Moment. Ein Blick des Erkennens und gleichzeitig des neu Kennenlernens: „Hier sind also wir beide. Lass uns sehen, wohin die Reise zusammen geht.“

Wenn das Kennenlernen warten muss…

Manchmal ist es nicht möglich, das Baby sofort in die Arme zu nehmen und anzublicken. Manchmal stehen andere Dinge im Vordergrund: das Baby muss versorgt werden oder die Mutter braucht dringend medizinische Versorgung. Manchmal muss dieser erste Moment warten. Oft gibt es andere liebevolle Hände, die das Baby aufnehmen und Augen, die es neugierig und voll Gefühl anblicken. Nicht nur die gebärenden Mütter erleben diesen Augenblick des Kennenlernens. Und auch, wenn es manchmal schwer ist, anzunehmen, dass dieser Augenblick verschoben werden muss, ist ein Verschieben möglich: Der magische Moment des Kennenlernens kann nachgeholt werden.

Es ist gut und schön und kann einige Dinge erleichtern, wenn das frühe Bonding direkt nach der Geburt stattfinden kann, aber Eltern haben auch später Zeit, mit dem Kind zu bonden, an eine Beziehung anzuknüpfen, die ja bereits im Mutterleib begonnen wurde. Wir müssen uns in einer ohnehin schwierigen Situation nicht noch zusätzlich unter Druck setzen (lassen), wenn es wichtige Gründe gibt, die dagegen sprechen. Denn diese Gründe sind auch Teil der Bindungsbeziehung: Wir versorgen uns oder lassen uns versorgen, um dann für das Kind sorgen zu können. Wir lassen das Baby von anderen versorgen und geben es zum Überleben, für seinen Schutz, in die Hände von Fachleuten, die es medizinisch versorgen mit dem, was es genau jetzt braucht. All das hat auch mit Bindung zu tun und mit der Sorge gegenüber dem Kind. All das ist auch kümmern. All das ist wichtig.

Kennenlernen kann später stattfinden. In einem ruhigen Moment zusammen im Bett oder zusammen im Bad. Die Hebamme Brigitte Meisner hat hierfür das Babyheilbad als Anregung zur Aufarbeitung negativer Geburtserfahrungen entwickelt, bei dem eine Geburt noch einmal anders nacherlebt wird. Und auch dann, wenn es noch einige Wochen dauert, weil die Mutter seelisch von der Geburt und den Ereignissen drum herum sehr belastet ist, ist noch Zeit für das Kennenlernen und Verbinden. Bindung passiert im Alltag, in den kleinen Momenten und ist ein langer Prozess.

Eure

 

Susanne Mierau ist u.a. Diplom-Pädagogin (Schwerpunkt Kleinkindpädagogik), Geburtsvorbereiterin, Familienbegleiterin und Mutter von 3 Kindern. 2012 hat sie „Geborgen Wachsen“ ins Leben gerufen, das seither zu einem der größten deutschsprachigen Elternblogs über bindungsorientierte Elternschaft gewachsen ist. Sie ist Autorin diverser Elternratgeber, spricht auf Konferenzen und Tagungen, arbeitet in der Elternberatung und bildet Fachpersonal in Hinblick auf bindungsorientierte Elternberatung mit verschiedenen Schwerpunkten weiter.  

Angstfresserchen – Wie Sie Kindern bei Angstanfällen helfen können

Kinder haben Ängste und Kinderängste sind normal. Wichtig ist, wie Eltern (und andere Bezugspersonen) damit umgehen. Diplom-Pädagoge und Therapeut Dr. Udo Baer beschreibt einen kreativen Umgang mit Kinderängsten:

Es gibt ein sehr schönes Kinderbuch von Michael Ende: „Das Traumfresserchen“.
Hier sorgt sich ein König um seine Tochter. Denn die Tochter wird von bösen
Träumen geplagt. Der König ruft alle Weisen und Heiler seines Landes zusammen,
die seiner Tochter helfen sollen. Sie bemühen sich, aber ihre Bemühungen sind
vergeblich. Niemand kann der Königstochter die furchtbaren Albträume nehmen, die
sie jede Nacht erzittern und aufwachen lassen. Da beginnt der König eine Weltreise.
Er reist in andere Länder und sucht überall jemanden, der seine Tochter von den
Träumen befreien könnte. Doch die Reise bleibt erfolglos.

Überall fragt er vergeblich, bis er schließlich ans Ende der Welt gerät. Dort setzt er
sich auf einen Stein und weint bitterlich, weil er versagt hat, weil er seiner Tochter
nicht helfen kann. Da nähert sich ihm ein fremdes Wesen, wie er es noch nie
gesehen hat. Das Wesen fragt ihn, warum er so betrübt sei und weine. Der König
erzählt die Geschichte von seiner Tochter und seiner vergeblichen Suche. Da sagt
das Wesen: „Oh, das trifft sich ja gut. Ich bin nämlich ein Traumfresserchen. Ich
ernähre mich von Träumen. Und je schlimmer diese Träume sind, desto besser
schmecken sie mir.“ Der König fragte das Traumfresserchen, ob es ihn begleiten
wollte, um seiner Tochter zu helfen. Das Traumfresserchen sagte „Ja“, und die
Tochter wurde schließlich von den bösen Träumen befreit.

Diese Geschichte, die Michael Ende viel schöner erzählt, als ich sie hier
zusammenfasse, war mein Anstoß dafür, mit und für Kinder ein Angstfresserchen zu
malen. Viele Kinder haben Ängste. Und es ist gut, wenn wir Eltern uns um diese
Ängste kümmern. Wir können beruhigen. Wir können helfen, indem wir nachfragen,
wovor das Kind denn konkret Angst hat. Wir können zum Beispiel ein Licht anlassen,
wenn dunkle Schatten drohen. Doch manchmal bleiben Ängste so diffus, und oft
treten sie, wie bei der Königstochter, auch nachts auf.

Hilfe bei Ängsten: Das Angstfresserchen malen

Eine Hilfe kann darin bestehen, dass die Kinder ein Angstfresserchen malen.
Erklären Sie Ihrem Kind, dass es Wesen gibt, die sich von Ängsten ernähren, also
Angstfresserchen. „Jedes Kind weiß nur selbst, wie sein Angstfresserchen aussieht.
Jedes Kind kann es beschreiben oder vielleicht auch malen.“ Bitten Sie Ihr Kind, ihr Angstfresserchen zu malen. Wenn es dazu noch zu klein ist, dann malen Sie das
Angstfresserchen für Ihr Kind – nach dessen genauen Angaben.

Dennis hatte über seinem Bett ein Bild mit seinem Angstfresserchen hängen. Doch
eines Tages kam er zu seiner Mutter und brachte ein großes Blatt Papier und eine
Packung Farbstifte mit. Er sagte: „Mama, das Angstfresserchen über meinem Bett
hilft gegen die kleinen Ängste. Ich brauche aber noch eines gegen die große Angst.
Mal mir das.“ Die Mutter malte nach genauen Angaben große Krokodilzähne, ein
breites Maul, furchterregende Augen und Stacheln auf dem Kopf … . Gemeinsam
hängten sie dieses Bild im Kinderzimmer auf. Nun gab es auch einen Angstfresser
gegen die große Angst.
Er half.

Solche Bilder haben für die Kinder eine hohe symbolische Bedeutung. Vor allem
dann, wenn sie diese selber gestalten oder die Bilder nach ihren Angaben gestaltet
werden, also nicht von der Stange angefertigt werden. Wir nennen diese Methode
„Aktives Symbolisieren“. Die Kinder schaffen selbst Symbole, und das ist viel
hilfreicher, als wenn Symbole gekauft oder vorgefertigte verschenkt werden. Solche
Symbole müssen nicht in Bildern bestehen. Es gibt viele andere Möglichkeiten.
Kinder können aus Knete oder Ton ein Objekt gestalten. Sie können sich einen Stein
oder ein Stück Holz aussuchen und es bemalen oder als Stofffigur gestaltet werden.
Ganz gleich in welcher Form Sie Ihrem Kind Aktives Symbolisieren anbieten, Sie
stärken damit die inneren Kräfte des Kindes und mobilisieren seine Ressourcen.
Dass Sie das Kind trösten, halten, stützen, begleiten, bleibt natürlich notwendig. Das
kann kein Angstfresser ersetzen. Doch Ihr stärkender Halt kann von den
Angstfressern unterstützt werden.

Dr. Udo Baer ist Diplom-Pädagoge, Kreativer Leibtherapeut AKL und u.a. Vorsitzender der Stiftung Würde. Auf Geborgen Wachsen schreibt er über die (Gefühls-)Welt der Kinder, ihre Gedanken und die sich ergebenden Herausforderungen. Mehr über Kinderängste und ihre professionelle Begleitung findet sich in seinem Buch „Wenn Oskar Angst hat. Kinder verstehen und im Kita-Alltag professionell begleiten“