Der Blick von Erwachsenen auf Kinder ist oft defizitär: Kinder können noch nicht so viel, Kinder wissen noch nicht so viel, Kinder gehen nicht „erwachsen“ mit Herausforderungen und Problemen um. Schnell passiert es, dass Erwachsene sich deswegen in einer beständigen Deutungshoheit über das Erleben und Empfinden des Kindes fühlen: „Das kann nicht wehgetan haben!“, „Jetzt stell dich mal nicht so an!“, „Das ist doch nicht schlimm!“. Dabei ist es nicht nur so, dass Kinder durchaus eine andere Wahrnehmung haben können, ein anderes Temperatur- oder Schmerzempfinden, sondern dass sie auch Grenzen haben, die von Erwachsenen respektiert werden sollten und nicht aufgrund des Denkens, dass „Kinder ja nur Kinder sind“ beständig übergangen werden sollten.
Die Grenzen um uns
Wir können uns persönliche Grenzen wie eine Hülle um uns herum vorstellen, eine Art unsichtbare Seifenblase, die sowohl unseren Körper umhüllt und körperliche Grenzen aufzeigt, als auch unser Innerstes umhüllt und schützt, also unsere psychischen Grenzen. Persönliche Grenzen schützen unsere Autonomie, unsere Selbstbestimmung, unsere körperliche Unversehrtheit. Dabei sind unsere Grenzen durchaus auch individuell unterschiedlich und ergeben sich aus persönlichen Erfahrungen, dem Temperament, der Kultur, in der wir eingebettet sind: Was für eine Person grenzüberschreitend ist, ist für eine andere Person vielleicht in Ordnung. Die Deutungshoheit darüber, was als Grenzüberschreitung wahrgenommen wird, liegt bei jeder Person selbst und sollte von anderen respektiert werden.
Werden unsere Grenzen überschritten, fühlen wir uns unwohl und reagieren mit Abwehr – je nach Situation in unterschiedlicher Weise. Kinder zeigen beispielsweise oft mit körperlichen Signalen und ihrem Verhalten, dass eine Grenze überschritten wurde: sie weichen zurück oder rennen sogar weg, signalisieren ein Nein mit vorgestreckten Händen oder Kopfschütteln, ziehen sich innerlich zurück durch Verstummen oder Erstarren, vielleicht zeigen sie auch Aggression und schubsen, beißen oder schlagen. All diese Signale zeigen: Hier ist eine Grenze von mir erreicht – sowohl bei körperlichem Grenzübertritt, als auch be psychischem können diese (oder andere) Signale eingesetzt werden.
Körperliche Grenzen von Kindern achten
Auf die körperlichen Grenzen von Kindern treffen wir jeden Tag in vielen Situationen: in allen Bereichen der Pflege wie dem Zähneputzen, Windeln wechseln, Toilettengang, Anziehen, Haare bürsten, Waschen, aber auch beim Essen, wenn wir das Kind füttern, wie wir Nahrung anbieten und welche Regeln am Tisch gelten (gerade auch dann, wenn sich ein Kind beispielsweise ekelt, was ein deutliches Zeichen für eine Grenze ist). Es gibt aber auch Situationen, in denen uns oft nicht bewusst ist, dass es hier um eine körperliche Grenze des Kindes geht wie beispielsweise bei Begrüßungen und Verabschiedungen, wenn das Kind aufgefordert wird, die Hand zu geben oder sogar einen Kuss oder im Spiel, wenn einige Kinder nicht das Geschwisterkind/Besuchskind/andere Erwachsene anfassen wollen oder körperliche Spiele als unangenehm empfunden werden. Auch Geräusche im Familienalltag können Grenzen berühren oder überschreiten, besonders, wenn das Kind besonders geräuschempfindsam ist.
Es ist hilfreich, einmal in Ruhe zu reflektieren, welche Grenzen das eigene Kind in welchen Bereichen aufzeigt und wie es auf Grenzüberschreitungen reagiert. Manchmal erleben wir nur ein Verhalten des Kindes im Alltag, das uns vielleicht sogar ärgert, nehmen aber nicht wahr, dass hinter diesem Verhalten die Verletzung einer Grenze des Kindes stehen könnte. Wir reagieren dann auf das Handeln statt auf die Ursache, was oft weitere Streitigkeiten und Probleme mit sich bringt.
Psychische Grenzen achten
Auch auf die Verletzung psychischer Grenzen reagieren Kinder und auch hier sehen wir manchmal den Zusammenhang zwischen Verhalten und Ursache nicht. Psychische Grenzen schützen das Selbstbild und das Selbstwertgefühl – jede Form psychischer Gewalt wie Beleidigung, Beschämung, Herabwürdigung ist eine Grenzverletzung. Auch hier liegt die Deutungshoheit bei der betroffenen Person: Jeder Mensch entscheidet selbst, was verletzend ist und innerlich schmerzt.
Über Grenzen sprechen
Da Grenzen auch einen individuellen Anteil haben, ist es besonders wichtig, über die Grenzen zu sprechen. Mit kleinen Kindern können wir in Alltagssituationen wie der Pflege nachfragen, was sie mögen und was nicht. Wir können beim Essen darüber reden, was lecker ist und was weniger und beachten, wenn ein Kind etwas als eklig empfindet. Vor allem sollten wir die Signale des Kindes beachten und auch in Worte fassen „Du ziehst dich zurück, magst du das nicht mehr?“, „Du bist wütend, weil xy an deinen Haaren gezogen hat.“ Indem wir über die Grenzen des Kindes sprechen, können wir es dafür sensibilisieren, die eigenen Grenzen zu erkennen und zunehmend auch zu versprachlichen. So kann das Kind im Vertrauen zu den Bezugspersonen kommen und sagen: „Ich möchte auf der Familienfeier Onkel xy keinen Kuss geben!“ Gemeinsam kann dann nach einer Alternative gesucht werden.
Die Aufgabe der nahen Bezugspersonen ist es, die Grenzen des Kindes da zu schützen, wo es dies noch nicht selbst kann: Das betrifft sowohl das eigene auf das Kind ausgerichtete Handeln, als auch den Schutz gegenüber anderen Personen. Das Kind sollte verinnerlichen, dass es schützenswerte Grenzen hat, die von anderen Menschen respektiert werden und deren Schutz es einfordern darf, ohne beschämt oder übergangen zu werden.
Eure
Zur Autorin:
Susanne Mierau ist Diplom-Pädagogin (Schwerpunkt Kleinkindpädagogik) und Familienbegleiterin. Sie arbeitete an der FU Berlin in Forschung und Lehre, bevor sie sich 2011 im Bereich bedürfnisorientierte Elternberatung selbständig machte. Ihr 2012 gegründetes Blog geborgen-wachsen.de und ihre Social Media Kanäle sind wichtige und viel genutzte freie Informationsportale für bedürfnisorientierte Elternschaft und kindliche Entwicklung. Susanne Mierau gibt Workshops für Eltern und Fachpersonal und spricht auf Konferenzen und Tagungen über kindliche Entwicklung, Elternschaft und Familienrollen.
Foto: Ronja Jung für geborgen-wachsen.de
Zur Autorin:
Susanne Mierau ist Diplom-Pädagogin (Schwerpunkt Kleinkindpädagogik) und Familienbegleiterin. Sie arbeitete an der FU Berlin in Forschung und Lehre, bevor sie sich 2011 im Bereich bedürfnisorientierte Elternberatung selbständig machte. Ihr 2012 gegründetes Blog geborgen-wachsen.de und ihre Social Media Kanäle sind wichtige und viel genutzte freie Informationsportale für bedürfnisorientierte Elternschaft und kindliche Entwicklung. Susanne Mierau gibt Workshops für Eltern und Fachpersonal und spricht auf Konferenzen und Tagungen über kindliche Entwicklung, Elternschaft und Familienrollen.
Foto: Ronja Jung für geborgen-wachsen.de