„Aber dein Geschwisterkind…“ – Warum wir Geschwister nicht ständig bewerten sollten

Manchmal liegt es so nahe, das Vergleichen. Schließlich wachsen sie doch in derselben Familie auf, vielleicht im selben Haushalt mit denselben erwachsenen Bezugspersonen. Warum nur macht das eine Kind die Dinge nicht wie das andere? Und das andere macht immer Sachen, die das erste Kind nicht tut?

Geschwister kommen schon unterschiedlich zu uns

Auch wenn Kinder innerhalb einer Familie mit vielen ähnlichen Rahmenbedingungen aufwachsen, kommen sie dennoch schon mit ihren jeweiligen Temperamenten zu uns – und die können sehr unterschiedlich sein. Vielleicht braucht ein Kind mehr Nähe, das andere weniger. Vielleicht geht ein Kind auf neue Situationen forsch zu, während das andere generell lieber abwartet und etwas zögerlicher ist. – Dass Geschwister verschieden sind, ist normal.

Auch innerhalb der Familie können sich Kinder dann noch einmal unterschiedlich entwickeln. Lange Zeit wurde die Unterschiedlichkeit von Geschwistern über die Nischentheorie erklärt: Nach ihr fokussieren sich Kinder auf unterschiedliche Nischen, da durch Spezialisierung weniger Konkurrenz auftritt und jedes Kind quasi eine eigene Nische ausfüllen kann, wodurch jedes Kind spezielle Aufmerksamkeit der Bezugspersonen erhalten kann. Dem gegenüber steht eine andere Theorie der shared-/non-shareded-environments: Sie besagt, dass der wesentliche Einfluss nicht die gemeinsame Umwelt ist, die Geschwister vorfinden, sondern die nicht-gemeinsame Umwelt den wichtigen Einfluss auf die Unterschiedlichkeit nimmt, d.h. die Aktivitäten der Kinder mit ihren jeweiligen außerfamiliären Bezugspersonen, Freund*innen, besuchten Orten etc. nehmen besonderen Einfluss.

Bevorzugung und Bewertung verstärkt Geschwisterstreit

Wichtig ist, wie wir als Erwachsene mit der Unterschiedlichkeit von Kindern umgehen. Dass Eltern eines der Kinder bevorzugen, ist nicht selten. Für alle Personen im Familiensystem ist allerdings von Bedeutung, wie mit einer emotionalen Bevorzugung umgegangen wird und ob das nicht-bevorzugte Kind Ungerechtigkeit und Ungleichbehandlung erfährt oder nicht. Ein reflektierter Umgang mit den eigenen Gefühlen und ggf. ein Austausch mit anderen Bezugspersonen des Kindes kann hier hilfreich sein.

Die Unterschiedlichkeit in Geschwisterbeziehungen kann die Geschwister selbst positiv beeinflussen, da sie sich gegenseitig mit ihrer Individualität unterstützen und ausgleichen können. Hierfür ist aber bedeutsam, dass ihre Unterschiedlichkeit respektvoll behandelt wird und Eltern die Kinder nicht beständig in (oft auch unbewusste) Konkurrenz zueinander stellen mit Sätzen wie „Deine Schwester konnte in dem Alter schon…“, „Dein Bruder geht damit viel besser um.“, „Deine kleine Schwester macht nicht so viel Unordnung.“ – Diese Art von Beurteilung und Konkurrenz kann die Beziehung zwischen den Geschwistern langfristig negativ beeinflussen.

Auch wenn es nicht immer einfach ist, jedes Kind als Individuum zu betrachten und die Entwicklung nicht detailliert mit anderen Kindern zu vergleichen und zu bewerten, ist es ein Gewinn für unsere Kinder, wenn wir unser Augenmerk auf ihre individuellen Entwicklungsschritte richten, auf ihr persönliches Vorankommen und ihre eigenen Ressourcen.

Eure

Zur Autorin:
Susanne Mierau ist Diplom-Pädagogin (Schwerpunkt Kleinkindpädagogik) und Familienbegleiterin. Sie arbeitete an der FU Berlin in Forschung und Lehre, bevor sie sich 2011 im Bereich bedürfnisorientierte Elternberatung selbständig machte. Ihr 2012 gegründetes Blog geborgen-wachsen.de und ihre Social Media Kanäle sind wichtige und viel genutzte freie Informationsportale für bedürfnisorientierte Elternschaft und kindliche Entwicklung. Susanne Mierau gibt Workshops für Eltern und Fachpersonal und spricht auf Konferenzen und Tagungen über kindliche Entwicklung, Elternschaft und Familienrollen.

Foto: Ronja Jung für geborgen-wachsen.de

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