„Nein, nein, das ist schon okay, dass die so raufen. Jungs sind eben so!“ Diese und ähnliche Sätze begegnen uns immer wieder. Zweifellos ist das Raufen und Balgen für Kinder ein wichtige Bestandteile des Spiels: hier wird Grobmotorik ausgebildet, es geht um Absprachen, um das Erkennen von Grenzen – für alle Kinder jeden Geschlechts. Und zweifellos gibt es zwischen Geschlechtern auch statistisch belegbare Unterschiede. Die Neurobiologin Lise Eliot führt in ihrem Buch „Wie verschieden sind sie wirklich?“ dazu aus: „Selbst im Erwachsenenalter sind die meisten Geschlechterdifferenzen bei kognitiven Fähigkeiten und Persönlichkeitsmerkmalen kleiner, als gemeinhin angenommen. Bei Kindern sind sie noch kleiner, wie ihre Körper erst alle Unterschiede entwickeln müssen, so brauchen auch ihre geistigen Funktionen Zeit, um die männliche und weibliche Denkweise auszubilden. Wie sich bei kognitiven Fähigkeiten, Schulleistungen, Motivation, Emotionen und Beziehungsstilen zeigte, weisen Jungen und Mädchen leichte Unterschiede auf, sind aber keineswegs durch Welten getrennt.“
Jungen und Mädchen sind verschieden – aber nicht so sehr, wie wir denken
Kinder zeigen also geringfügige Unterschiede, aber keine enormen. Dennoch unterbinden wir bei Mädchen Streit eher, gehen stärker gegen Wut vor, während Jungen fast zügellos im Namen des freien Spiels ihre Wut austragen dürfen. Manchmal sehen wir den teilweise fließenden Unterschied zwischen Balgen und Raufen aus Wut nicht, manchmal ignorieren wir ihn auch bewusst aufgrund bestimmter Rollenbilder in unseren Köpfen. Während das Unterbinden von Ärger und Wut bei Mädchen negative Folgen hat, hat auch die fehlende Co-Regulation der Wut von Jungen negative Folgen für sie selbst und andere.
Trauer begleiten wir, bei Wut haben wir Probleme
Viele Eltern sind mit der Begleitung und Co-Regulation von Gefühlen wie Trauer und Hilflosigkeit von Kindern mittlerweile vertraut: Wir nehmen in den Arm, sagen liebe Worte. Je nach Kind unterscheidet sich die Art, wie Trost gegeben werden sollte und auch die Dauer, die Kinder für ihre Beruhigung benötigen. In Hinblick auf den Umgang mit der Wut sind viele Eltern hingegen noch immer hilflos: Wie begleite ich hier richtig? Gerade dann, wenn mich diese Wut des Kindes selber wütend macht, wenn ich mich persönlich angegriffen fühle? Auch Glaubenssätze spielen in die Begleitung von Wut hinein, wie beispielsweise „Mädchen dürfen nicht wütend sein“ oder „Jungen müssen lernen, sich durchzusetzen, nur starke Kinder haben im Leben Vorteile“. Gerade bei als Jungen gelesenen Kindern sind Erwachsene oft geneigt, die Wut „einfach laufen“ zu lassen im Namen von Spiel oder Wettbewerbsfähigkeit.
Wut will begleitet werden
Doch auch Wut will begleitet werden – bei Mädchen wie Jungen. Und auch hier gibt es Unterschiede im Bedarf der Art der Begleitung, wie es auch schon Unterschiede gibt in der Aggression: einige Kinder sind aggressiver als andere. Gerade Kinder, die aggressiver sind als der Durchschnitt brauchen Co-Regualtion und Begleitung, anstatt „Laufenlassen“ oder Strafen. Wird die Co-Regulation von Wut verwehrt, lernt das Kind keinen gesunden Umgang damit. Während sie bei Mädchen eher generell unterdrückt wird, dürfen Jungen der Wut freien Lauf lassen. Was sie dadurch aber nicht lernen: Rücksichtnahme, Empathie, Diskursfähigkeit, Konfliktstrategien jenseits von Gewalt.
Der Kampf wird dann als Spiel angesehen, und diese Art der Auseinandersetzung daher als normal legitimiert und nicht reguliert. Das, was wir bereits als wichtigen Einfluss auf die Weiterentwicklung empathischer Fähigkeiten erfahren haben, wird in der Sozialisation von Jungen oft weniger berücksichtigt. Geschlechtsunterschiede in der Empathie gehen besonders auf die Sozialisation zurück: Nur 10 Prozent unserer Empathiefähigkeit sind insgesamt genetisch festgelegt, der Rest beruht auf nicht-genetischen Faktoren.
Susanne Mierau 2023: Füreinander sorgen, S.145
Diese fehlende Regulation von Wut wirkt sich negativ auf das Kind im Jetzt aus, hat aber auch langfristig negative Folgen, weil der Umgang mit Wut nicht erlernt werden kann und weiteres gewaltvolles Handeln daher als Lösungsstrategie verinnerlicht wird gegenüber anderen, das Kind/der spätere Jugendliche/Erwachsene sich aber auch selbst damit gefährdet, weil andere Konfliktlösungsstrategien nicht erlernt werden konnten.
Sowohl Mädchen als auch Jungen brauchen daher eine Begleitung beim Umgang mit ihren Gefühlen – auch mit der Wut. Es ist weder gesund, Wut zu unterdrücken, noch ihr freien Lauf zu lassen und so ungesunde Verhaltensmuster zu verinnerlichen. Auch bei der Wut ist es wichtig, das Gefühl zu benennen und nach der großen Wut-Gefühlswelle die Ursachen zu ergründen, die hinter dem Gefühl stehen: Welches Bedürfnis ist nicht erfüllt, das zu Wut führt? Fühlt sich das Kind beispielsweise ausgeschlossen, ist es traurig, hat es Schmerzen, fühlt es sich nicht gesehen oder gewertschätzt, war es in seinem Gefühl von Sicherheit verletzt? Auf Basis des Wissens um diese Ursache kann dann besprochen werden, wie mit einer solchen Ursache umgegangen werden kann, statt zu hauen/beißen/schubsen/werfen.
Eure
Zur Autorin:
Susanne Mierau ist Diplom-Pädagogin (Schwerpunkt Kleinkindpädagogik) und Familienbegleiterin. Sie arbeitete an der FU Berlin in Forschung und Lehre, bevor sie sich 2011 im Bereich bedürfnisorientierte Elternberatung selbständig machte. Ihr 2012 gegründetes Blog geborgen-wachsen.de und ihre Social Media Kanäle sind wichtige und viel genutzte freie Informationsportale für bedürfnisorientierte Elternschaft und kindliche Entwicklung. Susanne Mierau gibt Workshops für Eltern und Fachpersonal und spricht auf Konferenzen und Tagungen über kindliche Entwicklung, Elternschaft und Familienrollen.
Foto: Ronja Jung für geborgen-wachsen.de
Zur Autorin:
Susanne Mierau ist Diplom-Pädagogin (Schwerpunkt Kleinkindpädagogik) und Familienbegleiterin. Sie arbeitete an der FU Berlin in Forschung und Lehre, bevor sie sich 2011 im Bereich bedürfnisorientierte Elternberatung selbständig machte. Ihr 2012 gegründetes Blog geborgen-wachsen.de und ihre Social Media Kanäle sind wichtige und viel genutzte freie Informationsportale für bedürfnisorientierte Elternschaft und kindliche Entwicklung. Susanne Mierau gibt Workshops für Eltern und Fachpersonal und spricht auf Konferenzen und Tagungen über kindliche Entwicklung, Elternschaft und Familienrollen.
Foto: Ronja Jung für geborgen-wachsen.de