Wie Kinder lernen, respektvoll eigene Grenzen zu benennen

Zunächst vorab, damit deine Erwartungen nicht zu hoch sind: Es dauert JAHRE den Umgang mit Gefühlen zu erlernen und gesellschaftsverträgliche Umgangsformen damit zu entwickeln. Gerade deswegen ist es aber wichtig, dass wir unsere Kinder Schritt für Schritt darin begleiten – angepasst an ihren Entwicklungsstand. Je jünger Kinder sind, desto schwerer fällt es ihnen, ihre Grenzen sprachlich aufzuzeigen statt körperlich, frühzeitig zu erkennen, dass eine andere Person dabei ist, die Grenzen zu überschreiten (und dementsprechend früh einzugreifen) und dann überlegt, statt impulsiv zu handeln. Dies hängt auch damit zusammen, dass das Gehirn in der Kleinkindzeit diese Aufgaben noch gar nicht bewältigen kann. Die Reifung dauert viele Jahre. Wichtig ist es, dass nahe Bezugspersonen diese Reifung begleiten und Impulse geben, wie gut mit schwierigen Situationen umgegangen werden kann. Denn: Wie wir bestimmte Dinge ausdrücken, wird zu großen Teilen erlernt.

Wertschätzen, dass Grenzen erkannt werden

Wenn Kinder eigene Grenzen aufzeigen, dann tun sie das oft unmittelbar „Lass mich!“, „Ich will das nicht!“, „Fass mich nicht an!“, „Lass mich in Ruhe!“, „Du bist so kacke!“, „Ich hasse dich!“ – Es ist gut, dass Kinder ihre Grenzen kennen und aufzeigen, dass hier eine Grenze in Gefahr ist. Das Wissen um ihre eigenen Grenzen hilft ihnen, ein Bild von sich auszubilden und stärkt das sich entwickelnde Selbstbild, weil sie lernen, dass sie als Mensch wichtig sind und ihre Integrität schützenswert ist. Dies ist für unser gesamtes weiteres Leben bedeutsam: Wir sollten verinnerlicht haben, dass andere Menschen unsere Grenzen nicht überschreiten dürfen und wie wir dann selbst vorgehen können und wo wir uns Hilfe suchen sollten. Deswegen ist es gut, Kindern das Feedback zu geben: „Hier ist deine Grenze erreicht. Gut, dass Du sie kennst und das mitteilst!“

Ursache verstehen

Wichtig ist auch, dass wir verstehen, worum es eigentlich geht. Gerade wenn das Kind nur aufschreit oder schimpft, müssen wir versuchen, die Ursache zu verstehen, um dem Kind andere Strategien aufzuzeigen. Deswegen ist es gut, nachzufragen oder (wenn man sicher ist) es auszusprechen: „Oh, hier ist deine körperliche Grenze erreicht, du möchtest nicht, dass dich das Kind anfasst!“ Oder „Findest du das gerade doof von mir, weil du das eigentlich selber machen wolltest und dich jetzt eingeschränkt fühlst?“ – Wir versuchen, als Bezugspersonen zu verstehen, was der Anlass für die Reaktion des Kindes ist und geben dem Kind gleichzeitig durch das Benennen Worte und stärken die Selbstwahrnehmung.

Anderes Beispiel nennen

Kinder lernen die Umgangsformen ihrer Umgebung nach und nach. Dazu brauchen sie uns als Vorbilder. Natürlich sehen sie, wie ihre Bezugspersonen mit ihren eigenen Grenzen umgehen: Wie wir sie benennen, wie wir darauf achten, dass sie gewahrt werden. Unter anderem deswegen ist es auch so wichtig, dass wir unsere persönlichen Grenzen auch gegenüber unseren Kindern klar formulieren und darauf achten, dass sie eingehalten werden – emotionale wie körperliche Grenzen. In den den Situationen, in denen das Kind nun eine Grenze von sich wahren möchte, aber dies noch wenig respektvoll und feinfühlig tut, können wir Beispiele für alternatives Verhalten benennen: „Ich habe verstanden, dass du das hier selber machen wolltest. Du kannst das auch genau so sagen: ‚Ich möchte das lieber alleine machen, Papa!“, „Das war zu nah für dich. Statt das Kind wegzuschubsen, kannst du sagen: ‚Stopp, das will ich nicht!“

Gemeinsam ausprobieren

In manchen Situationen kann diese Alternative dann gleich noch einmal ausprobiert und damit eingeübt werden. Wir können das Kind dazu anregen, noch die eigene Grenze nocheinmal anders zu formulieren und klar zu machen, worum es gerade ging: „Jetzt habt ihr euch beide beruhigt, du kannst dem anderen Kind nochmal sagen, dass du das nicht möchtest, dass es deine Haarspangen anfasst.“

Geduld haben

Es muss noch einmal betont werden: Es dauert viele Jahre, bis das Gehirn nicht mehr impulsiv reagiert, sondern wir bedacht mit Situationen umgehen können. Auch dauert es, bis das Kind Handlungen anderer schon früh einschätzen und vorausschauend Grenzen aufzeigen kann. Viele Eltern erwarten tatsächlich zu viel von ihren Kindern im Kleinkind-, Vorschul- und Schulalter, wenn sie denken, dass das Kind souverän mit Konfliktsituationen umgehen können sollte. Auch ein „Aber ich habe Dir doch schon tausendmal gesagt, du sollst vorher bescheid sagen, wenn…“ können wir uns sparen, denn wir müssen tausendmal und mehr immer wieder Beispiel sein, wiederholen, unterstützen. Hilfreich kann zudem sein, gut gelöste Situationen noch einmal wertschätzend zu benennen: „Ich hab gesehen, dass ihr das Problem gut zusammen gelöst habt!“ So lernen Kinder nach und nach, Sprache wertschätzend und respektvoll einzusetzen.

Eure

Zur Autorin:
Susanne Mierau ist Diplom-Pädagogin (Schwerpunkt Kleinkindpädagogik) und Familienbegleiterin. Sie arbeitete an der FU Berlin in Forschung und Lehre, bevor sie sich 2011 im Bereich bedürfnisorientierte Elternberatung selbständig machte. Ihr 2012 gegründetes Blog geborgen-wachsen.de und ihre Social Media Kanäle sind wichtige und viel genutzte freie Informationsportale für bedürfnisorientierte Elternschaft und kindliche Entwicklung. Susanne Mierau gibt Workshops für Eltern und Fachpersonal und spricht auf Konferenzen und Tagungen über kindliche Entwicklung, Elternschaft und Familienrollen.

Foto: Ronja Jung für geborgen-wachsen.de

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