Der Gender-Sleep-Gap – Jede Mutter kann schlafen lernen

Babys, Kinder und Teenager schlafen anders als Erwachsene. Glücklicherweise hat sich in den vergangenen Jahren immer mehr das Wissen durchgesetzt, dass dieser andere Schlaf von jungen Menschen kein Fehler ist, sondern aus Sicht der Entwicklung durchaus sinnvoll. Gleichzeitig stellt sich aber noch immer die Frage: Wenn mein Kind richtig schläft, so wie es schläft, wie soll ich dann ausreichend Schlaf finden? Gerade dann, wenn das Baby oder Kleinkind nachts noch Nahrung benötigt oder Schwierigkeiten hat, nach dem (normalen) Aufwachen zwischen den Schlafphasen schnell wieder in den Schlaf zu finden? Bedeutet das nicht zwangsweise, dass Eltern anders schlafen müssen? Tatsächlich benötigen viele Kinder ihre Bezugspersonen nachts zur Regulation und Begleitung. Allerdings sprechen und denken wir in Bezug auf das nächtliche Begleiten eben nicht von Eltern, sondern von Müttern.

Die Schlaflücke – Wie groß der Gender-Sleep-Gap wirklich ist

Mütter begleiten insbesondere in den Schlaf und rund um den Schlaf – wie sie auch sonst mehr Care-Arbeit übernehmen. Laut einer Studie des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung ist der Schlaf von Eltern innerhalb der ersten sechs Jahre nach der Geburt des ersten Kindes in seiner Qualität und Dauer beeinträchtigt – Mütter schlafen hierzulande in den ersten drei Monaten nach der Geburt durchschnittlich eine Stunde weniger, Väter 15 Minuten weniger. Dieser Differenz im Umsorgen des Schlafes passt sich ein den bestehenden Gender-Care-Gap:

Die Sorgelücke betrug im Jahr 2019 (trotz allgemeiner Verringerung seit dem Jahr 1992) noch immer 52,4 Prozent: Frauen wenden täglich 52,4 Prozent mehr Zeit für unbezahlte Sorgearbeit als Männer auf. Hierbei muss aber noch einmal genauer nach Alter und Lebenssituation differenziert werden: In der Altersgruppe der 34jährigen beträgt der Gender-Care-Gap sogar 110,6 Prozent. Frauen dieser Altersgruppe verbringen pro Tag durchschnittlich 5 Stunden und 18 Minuten mit Care-Arbeit, während Männer 2 Stunden und 31 Minuten damit verbringen. Besonders viel Care-Arbeit fällt in Haushalten mit Kindern an. Hier verrichten Mütter 2 Stunden und 30 Minuten mehr Care-Arbeit als Väter.

Susanne Mierau „Füreinander sorgen“ (2023, S.59)

Sind Mütter bessere Versorgerinnen nachts?

Kinder brauchen nächtliche Fürsorge und sie muss von ihren nahen Bezugspersonen geleistet werden. Doch das nächtliche Umsorgen muss keinesfalls ausschließlich durch ein Elternteil erfolgen und ist nicht an ein Geschlecht gebunden.

Die israelische Psychologin und Hirnforscherin Ruth Feldman hat festgestellt, dass Mütter in der Regel mit einer geöffneten Amygdala schlafen (die Region im Gehirn, die u.a. für Gefühle verantwortlich ist und potenzielle Gefahren analysiert): Hierdurch sind sie für die Signale des Babys auch während des Schlafs zugänglich ist. Diese Aktivierung bleibt auch nach der Babyzeit bestehen. Väter hingegen können mit einem geschlossenen Mandelkern schlafen, weil sie wissen, dass die Mutter sich kümmern wird. Ist allerdings ein Vater eine Hauptbezugsperson, wird bei diesem der Mandelkern aktiviert. Es ist also – wie generell bei der Care-Arbeit – keine Frage des Geschlechts, sondern der Zuständigkeit und der Verantwortlichkeit. Das Umsorgen von Babys und Kindern wird gelernt und braucht aktives Tun.

Folgen des Schlafmangels für Mütter

Dass nun Mütter besonders für die nächtliche Care-Arbeit zuständig sind, bleibt nicht folgenlos. Wir haben bereits gesehen, dass die Zeitmenge des Schlafdefizits durchaus beträchtlich ist. In der Regel können wir kurzfristig mit weniger oder keinem Schlaf ohne große Schäden davonkommen und der in der Elternschaft erlebte Schlafmangel muss nicht zwangsweise zu Problemen führen, aber langfristig oder in Kombination mit vorher oder nachher (wenn sich Schlafstörungen durch diese Zeit und nächtliche Begleitung entwickeln) bestehenden Schlafstörungen kann er sich auf unser körperliches und psychisches Wohlergehen auswirken: das Immunsystem, unser Gehirn, psychische Erkrankungen und unsere Emotionen.

Schlafmangel macht uns launischer, gereizter und nervöser. Damit einher geht, dass sich unser Blick auf die Welt verändert, da sich Menschen mit Schlafstörungen besser an negative Erlebnisse erinnern als an positive. Gerade in der Elternschaft ist das eine sehr ungünstige Auswirkung von Schlafmangel, wenn sich der Blick auf das Erleben, aber auch auf das Kind, negativ eintrübt und nur noch die schlechten Seiten betrachtet werden und kein ressourcenorientierter, wohlwollender Blick mehr möglich ist. Hinzu kommt vielleicht noch das abendliche oder nächtliche Grübeln, wenn ein Ein- oder Durchschlafproblem vorliegt.

Susanne Mierau (2024): Das Schlafbuch für die ganze Familie, S.58

Gerade Menschen, die in der Verantwortung stehen, sich mit Feinfühligkeit um andere kümmern zu müssen, brauchen Schlaf, um Signale zu bemerken und angemessen darauf reagieren zu können, brauchen Kraft für die vielen Handgriffe des Tages und die Begleitung von Emotionen des Kindes und Regulation der eigenen.

Starke Gefühle wie Zorn, Wut, Kampf-oder-Flucht wurden bei den Personen mit Schlafmangel um über 60 Prozent verstärkt, während die ausgeschlafenen Personen kontrollierter und gemäßigter reagierten. Vielleicht kommt es in Bezug auf das gewaltfreie Begleiten von Kindern also viel mehr darauf an, dass wir ausgeschlafen sein können, als uns bisher bewusst war.

Susanne Mierau (2024): Das Schlafbuch für die ganze Familie, S.65

Doch nicht nur in Bezug auf die Begleitung der Kinder und das psychische und physische Wohlergehen ist der Schlafmangel der Mütter problematisch. Schließlich wird neben all dem Umsorgen, der täglichen und nächtlichen Care-Arbeit auch Leistung in der Erwerbsarbeit erwartet.

Frauen verdienen weniger, erhalten weniger Rente, kümmern sich mehr unbezahlt um andere. Dass sie all dies auch noch trotz Schlafmangels tun, dass sich dieser Schlafmangel auch noch negativ auf ihre Karrierechancen und Erwerbsarbeit auswirkt, wird nicht bedacht. Der Gender-Sleep-Gap ist hierzulande noch recht unbekannt. Dass wir uns müde weniger politisch engagieren können und damit weniger Kraft haben, um etwas an unserer Situation zu verändern, setzt all dem noch die Krone auf.

Susanne Mierau (2024): Das Schlafbuch für die ganze Familie, S.265

Wie kann jede Mutter schlafen lernen?

Wir brauchen also zweifellos politische Lösungen und gesamtgesellschaftliche Lösungen, um das Problem der schlaflosen Mütter anzugehen. Wir müssen darüber reden, wie es uns geht, warum wir müde sind und aufhören, diese Müdigkeit als Selbstverständlichkeit für Mütter hinzustellen. Nur weil es der Norm entspricht, ist es nicht richtig oder gesund.

Innerhalb von Familien brauchen wir mehr Schlafgerechtigkeit. Nicht nur die erwerbsarbeitende Person braucht ausreichend Schlaf, sondern auch carearbeitende brauchen Schlaf. „Du bist ja nur zu Hause, dann kannst du dich nachts ja um das Kind kümmern!“ sollte wirklich kein Argument sein, um einer Person den Schlafmangel zuzuschieben. Und ja: Es ist möglich, sich den Schlaf aufzuteilen und Care-Arbeiten umzuschichten, damit sich der nachts betreuende Elternteil wenigstens tagsüber mehr ausruhen kann. Gerade auch für Alleinerziehende braucht es mehr Unterstützung und Ressourcen, um Schlafmangel aufzufangen. Das wichtigste ist aber zuerst: Dass wir auch hier benennen, dass es einen ungerechten Unterschied gibt und dass dieser behoben werden muss.

Zur Autorin:
Susanne Mierau ist Diplom-Pädagogin (Schwerpunkt Kleinkindpädagogik) und Familienbegleiterin. Sie arbeitete an der FU Berlin in Forschung und Lehre, bevor sie sich 2011 im Bereich bedürfnisorientierte Elternberatung selbständig machte. Ihr 2012 gegründetes Blog geborgen-wachsen.de und ihre Social Media Kanäle sind wichtige und viel genutzte freie Informationsportale für bedürfnisorientierte Elternschaft und kindliche Entwicklung. Susanne Mierau gibt Workshops für Eltern und Fachpersonal und spricht auf Konferenzen und Tagungen über kindliche Entwicklung, Elternschaft und Familienrollen.

Foto: Ronja Jung für geborgen-wachsen.de

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