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Getrennte Weihnachtsfeiern – Ideen für ein Miteinander auf Distanz

In diesem Jahr ist vieles anders als in anderen Jahren. Ganz besonders trifft das auch auf unsere Kinder zu und das Familienleben allgemein: den Umgang, Alltagsrituale, Feiertage. Kindergeburtstage mussten anders gefeiert werden, Einschulungen und Abschiede im Kindergarten. Und unsere Kinder waren vor große Herausforderungen gestellt in Hinblick auf ihre Kooperationsfähigkeiten – und damit auch wir Eltern, die das begleiten und auffangen mussten und müssen.

Mit Familien über das andere Weihnachtsfest sprechen

Nun steht in vielen Familien das Weihnachtsfest bevor und auch dieses wird in diesem Jahr in vielen Familien anders aussehen müssen als zuvor. Vielleicht ist es noch schwierig, alle Familienmitglieder zu überzeugen und zu erklären, warum in diesem Jahr in so kleinen Gruppen wie möglich gefeiert werden sollte. Vielleicht gibt es Familienmitglieder mit anderen Ansichten, mit anderen Wünschen. Natürlich wollen wir gerade jetzt niemanden verärgern oder enttäuschen, aber gerade jetzt müssen wir gleichzeitig auch Verantwortung übernehmen gegenüber unserer Gesundheit, der körperlichen Gesundheit der Kinder, ihrer psychischen Gesundheit im Falle von Erkrankungen von nahestehenden Personen und gegenüber der Gesundheit aller anderen Personen.

So schwer es deswegen auch fallen mag und so sehr wir auch bedauern, die in anderen Haushalten lebenden Familienmitglieder nicht alle sehen zu können (gerade bei älteren Familienmitgliedern), müssen wir nun richtige, sinnvolle und verantwortungsvolle Entscheidungen treffen. Vielleicht werden wir Menschen, die anderer Meinung sind, nicht überzeugen können von den Tatsachen. Aber wir können auch sie durch unser Handeln innerhalb unserer Möglichkeiten mit schützen und Verantwortung tragen. Und wir können Alternativen anbieten für ein etwas anderes Fest:

Ein Feier-Paket versenden

Wir sind räumlich voneinander getrennt, aber wir können das Gefühl von Gemeinsamkeit herstellen durch etwas, das uns verbindet. Wie wäre es, sich dazu zu verabreden, ganz ähnliche Dinge auf den Tisch zu bringen, zu essen, anzusehen? In kleinen Feier-Paketen für die Lieben um uns können wir Dinge versenden, sie wir alle zusammen auf den Tisch bringen: Jeder Haushalt, der sonst zur Feier gekommen wäre, bekommt ein kleines Paket von jedem anderen Haushalt: Eine Familie versendet Kekse für alle, die andere hat vielleicht schöne Serviettenhalter gebastelt, die nächste verschickt Kerzen. So sitzen wir an verschiedenen Orten und es gibt dennoch verbindende Elemente – und wir haben zugleich vielleicht etwas weniger selbst zu organisieren.

Gemeinsame Bescherung aus der Ferne

Glücklicherweise verfügen viele Familien über Medien, mit denen Videotelefonate möglich sind und auch viele Großeltern besitzen bereits Smartphones. Auch wenn wir nicht gemeinsam an einem Tisch sitzen können, können wir andere Familienmitglieder über entsprechende Geräte an den Tisch setzen: Nicht zu einem klar umgrenzten Telefonat, sondern vielleicht sogar direkt dazu über das ganze Essen hinweg, so dass die ganze Atmosphäre des Abends übertragen wird.

Ein Weihnachts-Fotoalbum

Ist eine Zusammenkunft per Videotelefonat nicht möglich oder gewollt, können wir mit Fotos die Stimmung am Festtag einfangen und später kleine Fotohefte erstellen, die wir versenden, so dass zumindest später ein wenig Erinnerung und Gefühl in Bildern geteilt werden kann. Und die Verwandten, die vielleicht nicht bei der Vergabe der eigenen Geschenke dabei sein konnten, sehen, wie die Kinder sie empfangen haben.

Türklinkengeschenke

Auch wenn wir uns nicht direkt treffen können, denken wir aneinander. Und dieses Aneinanderdenken ist gerade jetzt für viele Menschen sehr wichtig. Nicht nur die Verwandten, sondern vielleicht auch die älteren Menschen, die mit im Haus wohnen oder in der Straße und von denen man weiß, dass sie vielleicht allein feiern müssen. Denken wir auch an diese Menschen und hängen wir ihnen gerade in diesem Jahr eine kleine Freude an die Tür: einen lieben Gruß, ein paar Kekse, eine Bastelei der Kinder. Gerade in diesem Jahr ist es wichtig, niemandem aus dem Herzen zu verlieren, wenn wir uns schon nicht unter mehreren Augen sehen können.
Auch Stadtmission, Notunterkünfte und andere Vereine freuen sich oft besonders auch in diesem Jahr über (finanzielle) Unterstützung und/oder andere Spenden (jeweils vorher nachfragen, was gebraucht wird), denn auch dort trifft die aktuelle Situation Menschen besonders schwer.

Einen Weihnachtsstern ans Fenster hängen

Wer erinnert sich noch an die Regenbögen aus dem Frühjahr, die die Fensterscheiben zierten? Zu Weihnachten können wir auch kleine Grußbotschaften mit Kreidestiften an die Fensterscheiben schreiben oder anderweitig hübsch dekorieren und zeigen: Wir sind zwar an verschiedenen Orten, aber wir denken an die anderen Menschen da draußen.

Habt Ihr noch mehr Ideen für ein Fest auf Distanz? Dann teilt sie gerne hier.
Eure

Zur Autorin:
Susanne Mierau ist Diplom-Pädagogin (Schwerpunkt Kleinkindpädagogik) und Familienbegleiterin. Sie arbeitete an der FU Berlin in Forschung und Lehre, bevor sie sich 2011 im Bereich bedürfnisorientierte Elternberatung selbständig machte. Ihr 2012 gegründetes Blog geborgen-wachsen.de und ihre Social Media Kanäle sind wichtige und viel genutzte freie Informationsportale für bedürfnisorientierte Elternschaft und kindliche Entwicklung. Susanne Mierau gibt Workshops für Eltern und Fachpersonal und spricht auf Konferenzen und Tagungen über kindliche Entwicklung, Elternschaft und Familienrollen.

Foto: Ronja Jung für geborgen-wachsen.de

Foto: Ronja Jung für geborgenwachsen.de

Wenn Kinder nach dem Tod fragen

„Und wenn du stirbst, was passiert dann, Papa?“, „Und dann sterben Oma und Opa und dann sind sie nicht mehr da.“, „Wenn du stirbst, Mama, sterbe ich dann auch?“ – Mit Kindern über den Tod zu sprechen, fällt vielen Eltern nicht leicht. Manchmal fehlen schlicht die Worte, manchmal kommt erst durch die Frage des Kindes die eigene Unsicherheit zum Vorschein, manchmal steigen eigene schmerzhafte Gefühle und Erinnerungen auf und manchmal möchte man vielleicht auch selbst nicht über die Fragen nachdenken. Doch so sehr wir auch die Antworten hinauszögern oder von uns weg schieben, sind Kinder in ihrem Wunsch nach Wissen und Verständnis oft unnachgiebig.

Am Anfang noch ein unvollständiges Bild vom Tod

Oft fangen Kinder rund um den 4. Geburtstag damit an, selbst mehr mit dem Thema Tod umzugehen: Er wird in das Spiel eingebunden und auf einmal sterben die Spielfiguren oder werden sogar absichtlich getötet. Die offenen und neugierigen Fragen des Kindes stehen im Raum: Was passiert da eigentlich, warum und wie – und sterben eigentlich nur alte Menschen? Auch wenn das Kind in diesem Alter noch nicht die gesamte Tragweite des Todes versteht und wirklich einschätzen kann, wie unwiederbringlich der Tod ist, hat es jetzt oft ein grobes Wissen vom Tod (in dem Sinne, dass der Körper seine Funktionsfähigkeit verliert), das sich in den folgenden Jahren weiter ausbaut. Nach und nach verinnerlicht es, was der Tod wirklich bedeutet: dass alle Lebewesen sterben und dieses Sterben nicht umgangen oder rückgängig gemacht werden kann.

Angepasst Gespräche führen

An den jeweiligen Stand des Kindes angepasst sollten wir auch mit unserem Kind über Tod und Sterben sprechen. Das bedeutet, dass dieses Thema in den Jahren der Kindheit immer wieder aufkommen und unterschiedlich behandelt werden kann je nach fortschreitender Entwicklung des Kindes. Das Wichtige dabei ist, dass das Kind den Rahmen vorgibt, in dem das Thema Tod behandelt wird und die Bezugspersonen gehen auf die konkreten Fragen des Kindes ein, ohne darüber hinaus zu sehr abzuschweifen. Je näher wir dabei an der Frage des Kindes bleiben, desto besser. Sollte es darüber hinaus etwas wissen wollen, wird es eine weitere Frage stellen. Wichtig ist, nicht unsere eigenen Ängste und Sorgen auf das Kind zu übertragen in den Gesprächen – das Kind gibt den Weg vor.

Natürlich gibt es viele Fragen, die auch wir nicht konkret beantworten können, die Kinder aber dennoch stellen: „Wann stirbst du?“, „Wann sterbe ich?“ Auch hier lohnt es sich, möglich ehrlich und nicht zu weitschweifend zu antworten. Wir können sagen, dass man nicht genau weiß, wann man stirbt, aber die Wahrscheinlichkeit geringer ist, in jungen Jahren zu sterben. Wir können auch erklären, dass wir natürlich aufpassen auf uns – vielleicht reicht das bereits als Antwort. Wichtig ist, dass wir auf unsere Wortwahl achten, wenn wir über den Tod sprechen – gerade bei Kindern. Denn ein als Ausflucht und Verharmlosung gedachtes „Und dann schläft man für immer ein“ oder „Sich auf die letzte Reise begeben“ kann Kinder verunsichern oder ängstigen.

Wenn Kinder mehr Informationen einfordern, können wir passende Kinderbücher zum Thema auswählen und darüber sprechen. Je nach Alter der Kinder und Entwicklungsstand kann auch hier unterschiedlich vorgegangen werden – Schulkinder finden vielleicht einen Besuch in einem ägyptischen Museum spannend, um sich dort Mumien anzusehen.

Im Trauerfall

Anders als die alltägliche Frage nach dem Tod verhält es sich, wenn eine konkrete Situation mit einem Trauerfall vorliegt. Wie Kinder damit umgehen, kann sehr unterschiedlich aussehen. Wichtig ist auch hier, offen zu sein und Fragen zuzulassen. Alle Gefühle dürfen ihren Raum haben und Erwachsene sollten das Bedürfnis des Kindes nach Austausch so annehmen, wie es kommt: Manchmal möchte das Kind eine konkrete Frage beantwortet wissen, spielt dann wieder, um etwas später mit einer anderen Frage oder einem Gedanken zurückzukommen.

Wie sich die Trauer konkret äußert, ist verschieden. Kleine Kinder leiden beispielsweise öfter unter Störungen des Schlafverhalten, Unruhe oder auch Änderungen im Ess- und Trinkverhalten. Aber auch bei älteren Kindern kann der Schlaf betroffen sein. Manche Kinder werden ruhiger, andere wilder. Wichtig ist, dass das Kind so angenommen und gesehen wird, wie es sich gerade fühlt – auch der Kindergarten oder die Schule sollten hier einbezogen und informiert werden, um das Verhalten des Kindes einordnen zu können. Schwierig ist das Annehmen der kindlichen Bedürfnisse und des kindlichen Verhaltens dann, wenn die Eltern selbst sehr von der Trauer betroffen sind. Wenn unsere Gefühle uns nicht zu sehr mitreißen, dürfen Kinder aber auch an der Trauer der Eltern Teil haben und sie erleben. Mit ihnen kuscheln und trauern und gleichzeitig auch Erinnerungen wachrufen. Hilfreich ist es, wenn es Unterstützung um die Familie herum gibt, die sich um die Alltagsaufgaben kümmert, damit die Familie den Raum für die Trauer hat.

Abschiedsrituale können Kindern helfen, mit dem Tod umzugehen. Auch hier müssen wir aber sehen, wie es zum Kind passt. Vielleicht ist die Teilnahme an einer Beerdigung zu viel für das Kind und wird von Anfang an ausgeschlossen, vielleicht muss die Beerdigung auch ungeplant verlassen werden, weil das Kind überfordert ist. Vielleicht passt es dann besser, ein gemeinsames Abschiedsritual im kleinen Kreis zu zelebrieren auf dem Friedhof nach der Beerdigung oder abseits, beispielsweise indem ein Papierschiffchen zu Wasser gelassen wird oder ähnliches. Wir dürfen kreativ umgehen mit solchen Ritualen und auch mit der Trauer des Kindes.

Sie wird vielleicht in den folgenden Jahren wieder ab und zu auftauchen, wenn nach der verstorbenen Person wieder gefragt wird. Dann kann gemeinsam ein Fotoalbum angesehen werden und es kann darüber gesprochen werden, welche schönen Erinnerungen man an die verstorbene Person hat. Auch hier gilt: Eltern können den Fragen des Kindes nachgehen und diese begleiten im Wachsen.

Eure

Zur Autorin:
Susanne Mierau ist Diplom-Pädagogin (Schwerpunkt Kleinkindpädagogik) und Familienbegleiterin. Sie arbeitete an der FU Berlin in Forschung und Lehre, bevor sie sich 2011 im Bereich bedürfnisorientierte Elternberatung selbständig machte. Ihr 2012 gegründetes Blog geborgen-wachsen.de und ihre Social Media Kanäle sind wichtige und viel genutzte freie Informationsportale für bedürfnisorientierte Elternschaft und kindliche Entwicklung. Susanne Mierau gibt Workshops für Eltern und Fachpersonal und spricht auf Konferenzen und Tagungen über kindliche Entwicklung, Elternschaft und Familienrollen.

Foto: Ronja Jung für geborgen-wachsen.de

Lieber Nikolaus…

Dieses Jahr war für alle herausfordernder und anders als viele andere Jahre. Kinder brauchen weder in diesem, noch in einem anderen Jahr Bestrafung oder Fantasiefiguren, die mit ihnen schimpfen. Sie haben in diesem Jahr viel kooperiert, viel Neues gelernt, viel mitgetragen. Sie brauchen verlässliche Bezugspersonen, die sie wertschätzen, die sehen, wie sie sind und welche Stärken sie haben. Jedes Kind ist einzigartig mit seinem ganz persönlichen Wesen und möchte als genau dieses gesehen werden. Wenn in einer Familie ein Nikolaus oder Weihnachtsmann zu Besuch kommt, sollte er genau dem Rechnung tragen und die Individualität des Kindes beschreiben: was es tut, was es gerne mag, was es in diesem Jahr Neues gelernt hat, welchen Herausforderungen es begegnet ist und auch, wie dieses Kind von den Eltern geliebt wird und dass es zu der sozialen Gruppe seiner Familie gehört.

Und auch wir Erwachsenen haben in diesem Jahr bisher viel schultern müssen, gelernt, Pläne geändert. Auch wir haben ein Lob verdient und vor allem auch die „Erlaubnis“, in diesem Jahr alles wirklich ganz entspannt zu gestalten – so, wie es dieser Familie eben gerade jetzt gut tut. Ohne Erwartungsdruck. Deswegen:

Lieber Nikolaus, ich mag Dir sagen,
ich danke Dir für Deine Gaben.
Leider sind die Schuh‘ voll Schmutz,
denn wir haben nicht geputzt.
Der Mental Load war dieses Jahr,
ach, einfach unberechenbar.

Die Kinder waren wie sie sind,
mal wild, mal still – halt einfach „Kind“.
Hier muss niemand brav Kind sein,
denn das wäre ja gemein.
Wir lieben sie mit allen Seiten,
am Tag, des Nachts, zu allen Zeiten.

Nun freu ich mich auf diesen Tag,
der uns viel Freude bringen mag.
Die Pädagogik liegt beiseite,
damit niemand hier mehr streite:
Zucker, Spielzeug, Fernsehabend,
lieber Freude statt hochtrabend.
Denn grad‘ in diesem Jahr
ist Entspannung doch ganz wunderbar.

Eure

Zur Autorin:
Susanne Mierau ist Diplom-Pädagogin (Schwerpunkt Kleinkindpädagogik) und Familienbegleiterin. Sie arbeitete an der FU Berlin in Forschung und Lehre, bevor sie sich 2011 im Bereich bedürfnisorientierte Elternberatung selbständig machte. Ihr 2012 gegründetes Blog geborgen-wachsen.de und ihre Social Media Kanäle sind wichtige und viel genutzte freie Informationsportale für bedürfnisorientierte Elternschaft und kindliche Entwicklung. Susanne Mierau gibt Workshops für Eltern und Fachpersonal und spricht auf Konferenzen und Tagungen über kindliche Entwicklung, Elternschaft und Familienrollen.

Foto: Ronja Jung für geborgen-wachsen.de


Mein Kind ist ganz anders als andere! – Kinder individuell begleiten

Viele Eltern starten mit einem Bild von „dem Kind“ in die Elternschaft: alle Babys sind süß und schlafen viel, alle Kleinkinder sind „trotzig“, alle Schulkinder machen nicht gern Hausaufgaben… So sind vielleicht die Vorstellungen davon, wie Kinder sich grob entwickeln. Schon im ersten Babyjahr merken aber viele Eltern dann: Irgendwie ist es so doch nicht, mein Kind beginnt früher/später zu krabbeln als andere oder früher/später zu sprechen und während einige Kinder richtige Abenteurer:innen sind, sind andere von Anfang an eher abwartend und beobachtend. Diese Feststellung und Abweichung von der eigentlichen Erwartungshaltung kann verunsichern: „Ist es eigentlich normal, dass…?“

Von Anfang an verschieden

Tatsächlich sind Kinder von Anfang an sehr unterschiedlich und kommen mit unterschiedlichen Temperamenten zu uns, die sich im Laufe der ersten Jahre zu Persönlichkeitseigenschaften ausbauen – auch in Abhängigkeit davon, wie die Umwelt (und ganz besonders die nahen Bezugspersonen) mit dem Kind und seiner jeweiligen Art umgehen. Kinder unterscheiden sich in ihrer Erregbarkeit, Tröstbarkeit, in ihrer Ablenkbarkeit und in ihrem Gefühlsausdruck. Sie unterscheiden sich in dem Ausmaß ihrer Aktivität und anderem Verhalten. All das wird zum Teil schon vor der Geburt wesentlich in unseren Kindern geprägt. Kommen sie auf die Welt, sind sie Menschen mit persönlichen Eigenschaften: beispielsweise manche ruhiger, manche aggressiver.

Probleme durch Pauschalisierungen bei Eltern und Kindern

Wenn wir ein pauschales „Bild vom Kind“ auf das eigene Kind projizieren, führt das nicht selten zu Problemen auf verschiedenen Ebenen: Als Eltern nehmen wir die Abweichung von der scheinbaren Norm kritisch wahr und fragen uns oft, was wir als Eltern falsch gemacht hätten: „Warum nur ist das Kind nicht…?“, „Warum nur macht es…?“, „Aber ich habe doch immer…“ Viele Eltern beziehen die kindliche Abweichung von der Norm zunächst auf ihr eigenes Verhalten, suchen bei sich selbst nach Fehlern. Gerade bei besonders zurückhaltenden oder besonders aggressiven Kindern wird oft „das Problem“ im elterlichen Verhalten gesucht und schnell steht die These im Raum, die Bindungsbeziehung wäre schlecht.

Bei der Fokussierung auf das vermeintliche elterliche Fehlverhalten geraten nicht selten die Kinder mit ihren Eigenschaften aus dem Blick: Der Gedanke kreist darum, was mit den Kindern falsch gemacht wird, anstatt darauf zu blicken, wie das Kind ist und was es braucht, so wie es ist. Natürlich kann es Unstimmigkeiten in der Begleitung des Kindes mit seinem jeweiligen Temperament geben, die sich dann weiter nachteilig auf das Kind und die Interaktion auswirken: Beispielsweise brauchen gerade aggressive Kinder eine liebevolle und zugewandte Begleitung, um zu lernen, mit ihrem Temperament gut umzugehen. Da in unserer Gesellschaft aber weiterhin der Gedanke vorherrscht, dass dieses Verhalten immer durch ein falsches Elternverhalten hervorgebracht wird und mit Strenge behandelt werden muss, kann sich hier ein negativer Kreislauf entwickeln.

Die eigenen Prägungen und gesellschaftlichen Erwartungen an „das Verhalten von Kindern“ trüben den Blick auf die Vielfalt kindlichen Verhaltens und dem Bedarf an individueller Begleitung. Menschen sind nicht alle gleich, auch nicht am Anfang. Natürlich kann ein ungünstiges Erziehungsverhalten, gerade Erziehung mit Druck und Zwang und Gewalt, sich negativ auf das kindliche Verhalten auswirken und bestimmte Verhaltensweisen befördern. Aber es können ebenso bestimmte Aspekte im Kind angelegt sein. Oft ist es das Verbiegen des Kindes in die ein oder andere Richtung, die es uns schwer machen: Weil Kinder sich nicht verbiegen wollen und dieser Gegenwille zu Stress und Streit führt, sie auch gar nicht verbogen werden sollen, damit sie ein gutes Bild von sich ausbauen können mit psychischer Widerstandskraft – und wir für unsere Gesellschaft Menschen in ihrer Vielfalt brauchen.

Erst das Kind wirklich wahrnehmen

Wenn wir uns fragen, was mit unserem Kind „los ist“, sollte der Blick nicht sofort auf uns gerichtet sein, sondern zunächst einmal auf das Kind: Wir können uns fragen: Wer ist dieses Kind eigentlich? Was sind die Eigenschaften dieses Kindes? Wie war es früher, wie ist es jetzt – und gibt es Veränderungen oder war es schon immer eher so wie heute? Und dann, wenn wir dieses Kind in seinem eigenen Wesen erfasst haben, können wir auf uns, auf die Familie und den Umgang mit diesem Kind blicken.

Eure

Zur Autorin:
Susanne Mierau ist Diplom-Pädagogin (Schwerpunkt Kleinkindpädagogik) und Familienbegleiterin. Sie arbeitete an der FU Berlin in Forschung und Lehre, bevor sie sich 2011 im Bereich bedürfnisorientierte Elternberatung selbständig machte. Ihr 2012 gegründetes Blog geborgen-wachsen.de und ihre Social Media Kanäle sind wichtige und viel genutzte freie Informationsportale für bedürfnisorientierte Elternschaft und kindliche Entwicklung. Susanne Mierau gibt Workshops für Eltern und Fachpersonal und spricht auf Konferenzen und Tagungen über kindliche Entwicklung, Elternschaft und Familienrollen.

Foto: Ronja Jung für geborgen-wachsen.de

Mehr zu diesem Thema könnt ihr ab 10. Februar 2021 in meinem neuen Buch
„Frei und unverbogen:
Kinder ohne Druck begleiten und bedingungslos annehmen“
lesen. Darin erfahrt ihr, wie unterschiedlich Kinder von Anfang an sind, warum es Eltern oft schwer fällt, mit dieser Unterschiedlichkeit umzugehen, wie und warum wir alte Erziehungsmethoden überwinden müssen und können und warum das für die individuelle Entwicklung so wichtig ist, aber auch für die Entwicklung unserer gesamten Gesellschaft.
Das Buch ist bereits jetzt vorbestellbar: am besten in eurer Buchhandlung vor Ort, aber auch bei Buch7*, Amazon* oder direkt beim Beltz Verlag


Foto: Ronja Jung für geborgenwachsen.de

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Dieser Artikel enthält Affiliate-Links zu Amazon und Buch7, durch die Geborgen Wachsen im Falle einer Bestellung eine Provision erhält, ohne dass für Euch Mehrkosten anfallen. Wir empfehlen dennoch, den lokalen Buchhandel durch das Einkaufen vor Ort zu unterstützen. Viele Bücher gibt es darüber hinaus zum Ausleihen in den öffentlichen Bibliotheken. Hier kann beispielsweise nach Büchern in den Bibliotheken in Berlin-Brandenburg gesucht werden.

Zahnfee, Weihnachtsmann, Nikolaus – Gib die Elternverantwortung nicht an Fantasiefiguren ab!

„Wenn du nicht die Zähne putzt, dann kommt nicht die Zahnfee!“, „Wenn du nicht lieb bist, dann notiert der Weihnachtsmann das in seinem Buch und du bekommst kein Geschenk!“, „Wenn du deinen Bruder immer ärgerst, bringt der Nikolaus eine Rute statt Süßigkeiten!“ – Neben dem Umstand, dass all diese Drohungen generell ungünstige Erziehungsmittel sind, weil sie auf Strafen beruhen und diese nicht, wie Eltern oft hoffen, zu einer nachhaltig guten Verhaltensänderung führen, sondern eher Aggressivität und Lügen befördern, sind sie auch auf einer weiteren Ebene des Beziehungsaspekts ungünstig: Die Erziehungsverantwortung wird abgegeben an eine Fantasiefigur.

In der magischen Phase sind Fantasiewesen besonders beeindruckend

Manchmal ist der Alltag mit Kindern ganz schön anstrengend. Besonders die vielen Diskussionen und Verhandlungen mit Kindern können Kraft rauben: Da wird zum fünften Mal darum gebeten, dass das Kind nun den Schlafanzug anziehen soll oder zum dritten Mal, dass das Kind doch bitte mal vom Gemüse probieren soll. Und gerade wenn die Kraft gerade gering ist, der Alltagsstress hoch, wünschen sich Eltern eine Lösung und sind versucht, in die Trickkiste zu greifen. Gerade in der Zeit des magischen Denkens sind Kinder besonders beeindruckbar mit den Fantasiefiguren, die wahlweise etwas herbeizaubern oder auch ängstigen können. Es ist verlockend, da mit einem dieser Magiewesen zu drohen oder zu locken.

Sollten Fantasiewesen eine bedeutsamere Autorität sein als Eltern?

Was aber passiert, wenn wir Zahnfee, das Monster unter dem Bett, die Fee, den Weihnachtsmann, Krampus oder Nikolaus vorschieben, ist, dass wir unsere elterliche Verantwortung und unsere eigenen Wünsche und Bedürfnisse abgeben und hinter einer anderen Person verstecken. Wir erklären nicht mehr, dass wir als Eltern dieses oder jenes wünschen oder dieses oder jenes notwendig ist für die gesunde Entwicklung, sondern verbergen dies, weil es zunächst auf dem fantasievollen Weg einfacher erscheint oder uns die Fantasiefigur als größere Autorität erscheint als wir selber.

Damit sind wir bei einem wesentlichen Punkt der Eltern-Kind-Beziehung: der Autorität. Viele Eltern haben heute Schwierigkeiten mit dem Begriff der Autorität, da das Vorangehen und Begleiten von Kindern durch die Kindheit in den vergangenen Jahrzehnten oft mit Druck, Zwang und Strafen erfolgte. Heute wollen es Eltern anders machen, als sie es selbst erfahren fahren haben – aber passende Vorbilder fehlen. Es mag auch den Anschein erwecken, dass man selbst ja gar nicht straft, denn schließlich ist dann der Nikolaus schuld oder die Zahnfee bringt nichts für kaputte Zähne. Letztlich aber ist dieser Weg dennoch ein Weg der Strafe und zugleich der fehlenden elterlichen Begleitung.

Kinder brauchen Stabilität und einfühlsame, liebevolle Autorität

Kinder brauchen uns Eltern als Begleitpersonen auf ihrem Weg. Sie brauchen Bezugspersonen, die größer, weiser und gütig sind und ihnen vorleben, sich im Leben und in der Gesellschaft zu bewegen. Sie brauchen Bezugspersonen, die sie auf dem Weg, dies selbständig leben zu können, unterstützen. Und auch wenn es anstrengend ist, einem Kind zu sagen „Ich will das nicht!“ oder „Das geht so nicht!“ oder sich immer wieder (wie beim Zähneputzen) neue Wege und Alternativen auszudenken, ist das die Aufgabe von uns Eltern. Wir müssen präsent sein, ansprechbar, verlässlich. Wir zeigen den Weg, wir begleiten auf dem Weg. Und dies gibt Kindern Sicherheit.

In der konkreten Konfliktsituation bedeutet das: Schieben wir nicht irgendein Fantasiewesen vor, um das Kind zu etwas zu bewegen. Seien wir ehrlich und erklären, warum etwas geht oder nicht geht. Und erklären wir ehrlich, wie wir uns fühlen. Und ja: Manchmal müssen wir dann die Gefühlsstürme der Kinder aushalten, auch das gehört dazu. Und manchmal können wir auch einfach ein Auge zudrücken, statt auf etwas zu beharren und von uns aus als Eltern erklären: Ach komm, wir machen es heute einfach so wie du es willst. Das geht vielleicht nicht immer und bei allen Dingen, aber sicherlich ab und zu im Alltag. Und ist eine bessere Methode für die Beziehung, als mit Druck und Fantasiefiguren* zu arbeiten.

Eure

Zur Autorin:
Susanne Mierau ist Diplom-Pädagogin (Schwerpunkt Kleinkindpädagogik) und Familienbegleiterin. Sie arbeitete an der FU Berlin in Forschung und Lehre, bevor sie sich 2011 im Bereich bedürfnisorientierte Elternberatung selbständig machte. Ihr 2012 gegründetes Blog geborgen-wachsen.de und ihre Social Media Kanäle sind wichtige und viel genutzte freie Informationsportale für bedürfnisorientierte Elternschaft und kindliche Entwicklung. Susanne Mierau gibt Workshops für Eltern und Fachpersonal und spricht auf Konferenzen und Tagungen über kindliche Entwicklung, Elternschaft und Familienrollen.

Foto: Ronja Jung für geborgen-wachsen.de

* Das bedeutet nicht, dass es Weihnachtsmann, Nikolaus, Christkind und Zahnfee nicht geben darf – aber sie sollten eben kein Druckmittel sein bzw. keine Stellvertreter:innen für unsere eigenen Wünsche.

10 einfache Bewegungsspiele für Kinder Zuhause

Bewegung ist eines unserer Grundbedürfnisse. An Kindern sehen wir oft sehr gut, wie wichtig Bewegung eigentlich wirklich ist – während es uns mit der Zeit (unter anderem durch unsere Lebensbedingungen) aberzogen wird und wir Erwachsene oft mehr und mehr Zeit sitzend an einem Schreibtisch verbringen. Aber bei unseren Kindern ist es noch viele Jahre anders. Manchmal wundern wir uns darüber, wie groß ihr Bewegungsdrang ist, weil sie beständig hüpfen, statt zu gehen rennen, weil sie auch zu Hause wie ein kleiner Gummiball Bewegung einfordern. Und wir, die schon daran gewöhnt sind, uns zu wenig zu bewegen, reagieren verwundert bis hin verärgert und versuchen nicht selten, die Bewegung der Kinder einzuschränken mit einem „Jetzt hör aber mal auf hier umherzurennen!“ oder „Aber die Nachbarn!“ oder „Jetzt bleib doch endlich mal still sitzen!“.

Wir versuchen zu oft, Kinder von Bewegung abzuhalten

Anstatt das Bedürfnis des Kindes nach Bewegung zu sehen und passend darauf zu reagieren, versuchen viele Eltern genau das Gegenteil: Das Kind zu mehr Ruhe und Stillsitzen aufzufordern oder mit entsprechenden Tätigkeiten daran zu binden: fernsehen, Spiele am Tisch sitzend, Computerspiele oder Spiele an einer Konsole oder einem Pad. Während diese Tätigkeiten durchaus ihren Raum haben können im Kinderalltag, sollten sie aber dem Bewegungsdrang des Kindes nicht entgegenwirken und an dessen Stelle gesetzt werden. Durch die Bewegung baut das Kind die eigenen Fertigkeiten aus, erprobt sich und lernt neue Zusammenhänge. Auch für das spätere Lernen ist es wichtig, dass das Kind nicht nur in den frühen Jahren ausreichend Bewegung erfahren durfte und Bewegungsfertigkeiten richtig ausbilden konnte, sondern auch später eine ausgewogene Balance zwischen ruhiger Anregung zum Lernen und Bewegung/Aktivität auf der anderen Seite erfährt.

10 Anregungen für einfache Bewegungsspiele

Auch wenn unsere Wohnumgebungen scheinbar wenig Bewegung zulassen, können wir dennoch Ausschau halten nach Möglichkeiten, um den Bedürfnissen von Kindern nachzukommen. Wir müssen ein wenig umdenken und unsere Wohnung aus der Perspektive des Kindes sehen und denken: als Entdeckungsraum, Spielraum, Abenteuer.

Einen Hindernisparcour aufbauen
Für einen Hindernisparcours braucht es nicht viel und wir finden alles, was wir brauchen, in der Wohnung. Legen wir einen Startpunkt und ein Ziel fest, vielleicht quer durch die Wohnung, von einem Zimmer ins andere oder durch ein Zimmer. Entweder darf der Boden dabei berührt werden und es geht darum, Hindernisse zu überwinden, oder der Boden darf nicht berührt werden und die Route läuft über Stühle und Tische bis hin zum Sofa oder Bett.

Topfschlagen
Wir alle kennen Topfschlagen von Kindergeburstagen, dabei ist es auch eine tolle Anregung für den Alltag, wenn auf allen Vieren durch die Wohnung gekrabbelt werden muss, um unter einem Topf etwas zu finden.

Laserlabyrinth aus Schnüren
Beim Laserlabyrinth aus Schnüren geht es um Beweglichkeit: Die Wolle eines Wollknäuels läuft Kreuz und Quer durch das Zimmer und wird an Schubladen, Stühlen, Tischbeinen befestigt. Ziel ist es, den Raum zu durchqueren, ohne an den Schnüren hängen zu bleiben. Mit einer Aufgabe verbunden (einsammeln von Gegenständen) kann es so auch eine ganze Weile hin und her gehen.

Kissenrennstrecke
Gibt es eine längere freie Stecke in der Wohnung? Dann kann sie zur Rennstrecke mit Kissen werden. Wer mag, kann mit Washi-Tape die Strecke markieren. Jede teilnehmende Person bekommt ein kleines Kissen, auf die sie sich setzen kann und dann mit den Händen vorwärts rutscht bis zum Ziel.

Schnitzeljagd durch die Wohnung
Achtung: Geheimauftrag! Es muss der geheime Gegenstand (vielleicht ein Buch, zum entspannten Vorlesen nach der Bewegung) gefunden werden. Überall in der Wohnung gibt es kleine Hinweise, und es wird von Hinweis-Versteck zu Hinweis-Versteck geführt entweder mit Rätselfragen oder mit Bildern bis der geheime Gegenstand schließlich gefunden wird.

Feuer, Wasser, Erde, Sturm
Wer kennt es nicht aus der eigenen Kindheit? Wird von der anleitenden Person „Feuer“ gerufen, müssen sich alle an die Wand stellen, bei „Wasser“ auf etwas hinaufstellen, bei „Erde“ flach auf den Boden liegen und bei „Sturm“ an etwas festhalten.

Luftballon-Volleyball
Mit richtigen Bällen ist es in der Wohnung oft gar nicht so einfach. Mit Luftballons hingegen ist die Wahrscheinlichkeit, dass etwas zu Bruch geht, geringer. Beim Luftballon-Volleyball geht es darum, dass der Luftballon nicht die Erde berühren darf und immer weiter in der Luft bewegt werden soll.

Stopp-Tanz
Musik an und tanzen. Wenn die Musik stoppt, müssen alle einfrieren in der Bewegung oder wahlweise das tun, das die anleitende Person ihnen zuruft: „Kriech wie ein Krokodil!“, „Lauf wie eine Giraffe!“

Betten-Trampolin
Betten sind zum Ausruhen da, das stimmt. Aber wenn sonst gerade Bewegung fehlt und Eltern merken, dass das Kind ganz dringend wildes Hopsen braucht, ist das Betten-Trampolin eine gute Alternative, vielleicht sogar verbunden mit einer gemeinsamen Kissenschlacht.

Yoga mit Kindern
Ein wenig ruhiger, aber dennoch in Bewegung ist das Kind beim angeleiteten Yoga. Für Kinder sollte Yoga anders als für Erwachsene sein und als Spiel dienen. Wer Tierfiguren in den einzelnen Yogaübungen nachstellt, kann Kindern auf einfache Weise Yoga näher bringen. Wie das geht, steht u.a. in einem der Bücher hier.

Noch mehr Ideen für Spiele und Tätigkeiten Zuhause findet Ihr hier.

Welche Grenzen gibt es in unserer Familie?

Um das Thema der Grenzen in Familien gibt es immer wieder Diskussionen: Wieviele und welche Grenzen sind notwendig? Sind sie es überhaupt? Oder brauchen Kinder dringend Grenzen? Müssen Eltern sogar ganz bewusst Grenzen setzen, um dem Kind zu zeigen, dass sie sich unterzuordnen haben und nicht zu sehr verwöhnt werden?

Feststehende Grenzen

Grenzen ergeben sich in vielen Themenbereichen ganz natürlich im Alltag aus bestimmten Gegebenheiten: Das Kind darf nicht auf die Straße rennen oder mit Stricknadeln in die Steckdose pieken oder andere Dinge tun, die andere oder es selbst gefährden. Ebenso erstrecken sich solche natürlichen Grenzen auch auf bestimmte soziale Aspekte des Miteinanders: Wie beispielsweise miteinander oder mit anderen gesprochen werden kann, ohne dass diese sich respektlos behandelt fühlen. Diese Art von wichtigen Grenzen, die das Kind für das eigene Wohlergehen erlernen muss, auch in Hinblick auf seine Position im sozialen Miteinander, stehen fest.

Das Kind rührt durch sein normales, kindgerechtes Verhalten an diesen Grenzen: Es eckt hier und da an und bekommt erklärt, dass es sich hier um eine unverschiebbare Grenze handelt. Dass es nicht beim ersten Mal sofort diese Grenze verinnerlicht, ist normal. Als Elternteil müssen solche Grenzen deswegen immer wieder aufgezeigt und erklärt werden, bis das Kind diese Grenze verinnerlicht hat. Die Verantwortung liegt dabei lange bei den Eltern: Nicht das Kleinkind ist schuld, weil man doch schon x-mal gesagt hat, es soll nicht zu nah an die Straße gehen, sondern die Eltern müssen vorausschauend planen und entsprechend eingreifen. Dies beispielsweise auch, wenn sie wissen, dass das Kind eine Phase hat, in der es besonders viel beißt oder schlägt und deswegen eine nahe Begleitung braucht, um andere Kinder nicht zu verletzen.

Individuelle Grenzen

Neben diesen Grenzen gibt es individuelle Grenzen von Menschen, die das individuelle Zusammenleben festschreiben. Das sind Dinge, die für eine Person „nicht gehen“ und können von Person zu Person unterschiedliche sein. Sie sind eine Form feststehender individueller Grenzen, beispielsweise wenn ein Elternteil es absolut nicht ertragen kann, wenn das Kind beim Einschlafen an der Haut des Erwachsenen gnibbelt. Vielleicht mag das für einige Eltern in Ordnung sein, für dieses Elternteil aber geht es nicht. Auch ganz bestimmte Umgangsformen können darunter fallen. Ebenso wie bei den feststehenden Grenzen oben lernt das Kind hier durch Zusammenleben und Wiederholung, dass dies eine nicht überschreitbare Grenze dieser Person ist. Eltern sind dabei in der Verantwortung, zu überprüfen, wie viele solcher persönlichen Grenzen sie haben und ggf. auch zu sehen, woher sie kommen und ob und wie sie mit dem Alltag vereinbar sind. Bestehen sehr viele individuelle Grenzen, kann das die Interaktion erschweren.

Variable Grenzen

Es gibt Grenzen, die im Familienalltag auch variabel auftreten können: Was heute so gemacht werden musste wegen der Rahmenbedingungen, ist am anderen Tag mit anderen Rahmenbedingungen anders: Heute gab es ein Eis auf dem Weg nach Hause, weil die Stimmung schlecht war und alle Lust auf Eis hatten, deswegen gibt es nicht jeden Tag ein Eis. Variable Grenzen setzen sich aus den Möglichkeiten und Ressourcen der Familienmitglieder zusammen. Nicht nur die Eltern haben dabei das Recht, Grenzen zu verschieben, sondern auch Kinder können sich mit ihren Wünschen und Argumenten einbringen. Es entsteht ein demokratischer Aushandlungsprozess, der das Familienleben gestaltet. Auch in einer Familienkonferenz kann über bestimmte Regelungen in der Familie diskutiert werden. Eltern verlieren dadurch keinen Respekt ihrer Kinder: Im Gegenteil zeigt es Respekt auf beiden Seiten, sich bei verschiedenen Themen näher zu kommen und Möglichkeiten auszuhandeln.

Grenzen setzen, um nicht zu verziehen?

Die Kinder erleben also natürlicherweise Grenzen in ihrem Alltag. Viele stehen fest und ergeben sich aus unserem sozialen Miteinander und der Fürsorge füreinander. Andere können verhandelt werden. Zusätzliche Grenzen im Sinne von „Jetzt zeig ich dir, wer hier das Sagen hat und du darfst das aus Prinzip nicht“ ergeben für Kinder keinen Sinn: Die Zusammenhänge sind oft nicht erkennbar, zumal das Kind nicht weiß, dass der Erwachsene im Verhalten des Kindes ein Machtspiel sieht, da das nicht die Intention des Kindes ist. Willkürlich gesetzte Grenzen behindern die Verbindung, das Sicherheitsgefühl des Kindes und wirken sich langfristig nachteilig auf die Beziehung aus. Die Grenzen, die das Kind aus oben genannten Gründer erfährt, reichen völlig aus, damit es sich in der Welt gut orientieren kann. Dabei wird es verständnisvoll von den Bezugspersonen begleitet, erinnert und motiviert, so dass diese Grenzen als Regeln nach und nach verinnerlicht werden.

Eure

Zur Autorin:
Susanne Mierau ist Diplom-Pädagogin (Schwerpunkt Kleinkindpädagogik) und Familienbegleiterin. Sie arbeitete an der FU Berlin in Forschung und Lehre, bevor sie sich 2011 im Bereich bedürfnisorientierte Elternberatung selbständig machte. Ihr 2012 gegründetes Blog geborgen-wachsen.de und ihre Social Media Kanäle sind wichtige und viel genutzte freie Informationsportale für bedürfnisorientierte Elternschaft und kindliche Entwicklung. Susanne Mierau gibt Workshops für Eltern und Fachpersonal und spricht auf Konferenzen und Tagungen über kindliche Entwicklung, Elternschaft und Familienrollen.

Foto: Ronja Jung für geborgen-wachsen.de

Foto: Ronja Jung für geborgenwachsen.de

Lass uns über Gefühle reden…

Wann hast du heute mit deinem Kind über Gefühle gesprochen? Wann hast du konkret nachgefragt, wie es sich fühlt? Über welche Art von Gefühlen habt ihr gesprochen und welche Worte habt ihr dafür genutzt? Unser Alltag besteht jeden Tag aus vielen Gefühlen – die Palette reicht von traurig über wütend bis zu fröhlich, aber auch dazwischen gibt es viele Abstufungen: Wir können traurig sein, weil wir enttäuscht sind von jemandem, verletzt, allein, bekümmert von etwas oder auch mutlos. Und ebenso sind wir nicht „einfach“ fröhlich, sondern können euphorisch sein oder beglückt, vielleicht auch erleichtert.

Ich erkläre dir, wie ich mich fühle – und mir selbst

Worte können ein Werkzeug sein, um Gefühle anderen gegenüber auszudrücken, sich zu erklären, aber gleichzeitig auch, um sie für sich selbst zu sortieren und zu reflektieren. Wenn wir einem Gefühl genauer nachgehen, setzen wir es in Verbindung zu unseren Erlebnissen und Beziehungen. So können Worte helfen, ein besseres Verständnis für sich und die Umwelt zu entwickeln. Je detaillierter wir selbst daher mit Worten umgehen, desto mehr lenken wir den Fokus auf den Facettenreichtum der Gefühlswelt.

Über ALLE Gefühle reden mit allen Kindern

Oft lenken wir unseren Fokus allerdings erst dann auf die Gefühle, wenn das Kind wütend oder traurig ist: Wir spiegeln das Kind, erklären „Du bist gerade ganz schön wütend!“ oder fragen nach „Warum bist du so traurig?“. Das ist wichtig, aber gleichzeitig können wir auch detaillierter ins Gespräch kommen mit unserem Kind und offen fragen „Wie fühlst du dich gerade?“ Oder, wenn das Kind erklärt, dass es wütend über das Verhalten eines Freundes ist, dem weiter nachgehen und gemeinsam ergründen, ob das Kind enttäuscht ist oder verärgert. Vor allem aber können wir im Alltag nicht nur dann den Fokus auf Gefühle legen, wenn das Kind wütend oder traurig ist, sondern auch bei Freude und Glück über das Gefühl sprechen und auch hier ein wenig detaillierter einzelne Aspekte der Gefühlswelt erfragen.

Und dies gilt für alle Kinder: Denn Jungen wie Mädchen können wütend, traurig, fröhlich, ängstlich sein. Während früher besonders von Jungen erwartet wurde, dass sie Angst und Trauer nicht zeigen oder schnell überwinden müssen, wissen wir heute, dass es für die psychische Gesundheit und weitere Entwicklung nicht günstig ist, bestimmte Gefühle ausklammern zu müssen. Im Gegenteil: Es ist für alle Kinder gut und wichtig, dass sie alle Arten von Gefühlen haben dürfen und darin begleitet werden. Wie schnell und auf welche Art ein Kind beispielsweise tröstbar ist, unterscheidet sich oft schon von Anfang an und ist eine Frage des Temperaments. Wenn wir von einem schwer tröstbaren Kind erwarten, dass es seine Gefühle allein überwinden soll, „weil es ein Junge ist“, helfen wir dem Kind nicht weiter. Wenn wir dem Kind aber durch aktive Unterstützung zeigen, wie es sich beruhigen kann und dass ein Elternteil als Unterstützung immer zur Verfügung steht, kann es daraus auch Handlungsmöglichkeiten für zukünftige Situationen erwerben. Ebenso gilt beispielsweise auch für Mädchen, dass sie mutig sein dürfen und dieses Gefühl nicht mit einem „Aber du bist doch ein Mädchen und Mädchen machen nicht xy…“ unterbunden werden sollte.

Ein Kind ist ein Kind und lernt in den Jahren der Kindheit die Welt kennen, lernt Beziehungen und soziale Interaktion. Es lernt die eigenen Gefühle kennen und die der anderen Menschen. Je offener und detaillierter wir mit unseren Kindern über Gefühle sprechen, desto mehr lernen sie, die Welt und sich selbst zu verstehen.

Eure

Zur Autorin:
Susanne Mierau ist Diplom-Pädagogin (Schwerpunkt Kleinkindpädagogik) und Familienbegleiterin. Sie arbeitete an der FU Berlin in Forschung und Lehre, bevor sie sich 2011 im Bereich bedürfnisorientierte Elternberatung selbständig machte. Ihr 2012 gegründetes Blog geborgen-wachsen.de und ihre Social Media Kanäle sind wichtige und viel genutzte freie Informationsportale für bedürfnisorientierte Elternschaft und kindliche Entwicklung. Susanne Mierau gibt Workshops für Eltern und Fachpersonal und spricht auf Konferenzen und Tagungen über kindliche Entwicklung, Elternschaft und Familienrollen.

Foto: Ronja Jung für geborgen-wachsen.de

Wenn Geschwister streiten – Teil 5: Falsche Erwartungen gegenüber älteren Geschwisterkindern

„Was hast Du wieder angestellt?“, „Du musst aber nachsichtig mit Deinem kleinen Bruder sein!“, „Jetzt gib doch einfach mal nach!“ – Wenn Geschwister streiten, tappen Eltern nicht selten in die Falle, an das größere Geschwisterkind hohe Erwartungen zu haben: Es soll nicht zu hart mit dem kleineren Kind umgehen, soll Verständnis haben, nachsichtig sein, vielleicht sogar den Konflikt aktiv lösen können. Ein wenig geht nämlich aus dem Blick verloren, dass das ältere Geschwisterkind ja dennoch weiterhin ein Kind ist, vielleicht nur einige Jahre älter. Und dass ein Kind natürlich noch nicht so verständlich mit einem jüngeren Kind umgehen kann, das vielleicht gerade das sorgsam aufgebaute Spielzeug umgeworfen, freudig in den Arm des Geschwisterkindes gebissen oder scheinbar heute mehr Zuwendung bekommen hat.

Kinder haben unterschiedliche Temperamente

Unsere Kinder kommen unterschiedlich zu uns, mit verschiedenen Temperamenten, unterschiedlicher Reizbarkeit, unterschiedlichem Umgang mit Stress und Gefühlen. – Und das nicht nur in verschiedenen Familien, sondern auch innerhalb ein und derselben Familie: Geschwister können sehr unterschiedlich sein, auch wenn sie in einem scheinbar so gleichen Feld aufwachsen mit gleichen Eltern, in gleichen Räumlichkeiten. Von Anfang an aber bringen sie ihre eigene Art in das Leben mit – und Eltern reagieren darauf. Was als Temperament ins Leben mitgebracht wird, entwickelt sich über die Interaktion mit der Umwelt zu einer Persönlichkeitseigenschaft in den ersten Jahren. Eltern gehen also durchaus unterschiedlich mit ihren Kindern um, gehen unterschiedlich auf sie ein und innerhalb einer Familie können durchaus sehr verschiedene Menschen zusammenkommen, die einen Weg des gemeinsamen Lebens miteinander finden müssen.

Manchmal passt das besser, manchmal schlechter. Manchmal gibt es auch Phasen, in denen es besser oder schlechter läuft. Und manchmal gibt es Zeiten, in denen zeigt sich ein Ringen um Zuwendung, Aufmerksamkeit, Ressourcen in physischer oder psychischer Form. Dass auch das zum Geschwistersein dazu gehört, ist normal.

Das größere Kind muss nicht immer verständnisvoll sein

Auch das größere Kind hat sein persönliches Temperament, aber auch bestimmte Bedürfnisse nach Aufmerksamkeit und Zuwendung und den Wunsch nach Lernen und Exploration, dem es nachgehen möchte. Kleine Geschwister kommen diesen Bedürfnissen und Wünschen manchmal in den Weg und je nach Temperament gehen Kinder mit solchen Störungen auch unterschiedlich um. Der Anspruch, das größere Kind müsse per se folgsamer und nachsichtiger sein können, ist falsch: Weder kann es das, nur weil es etwas älter ist, noch muss es ertragen können, dass die eigenen Bedürfnisse beständig übergangen werden. Die Reihenfolge der Geschwister sagt nicht per se etwas aus über die Eigenschaften, Fähigkeiten und Möglichkeiten. Es liegt vielmehr an den Eltern, wie sie mit den Kindern umgehen und Streitigkeiten in Bahnen lenken, so dass eine Kompetenz nach und nach ausgebaut wird.

Statt Erwartungen: Offenheit, Verständnis, Einfühlungsvermögen

Natürlich wäre es der einfachere Weg, wenn das größere Kind einfach immer nachgeben würde. Es würde uns Eltern vielleicht entlasten, denn die Aufgabe, Konflikte zwischen Geschwistern zu moderieren, ist anstrengend. Dies umso mehr, je kleiner die Kinder sind und wenn gar das kleinere Geschwisterkind noch nicht sprachlich die Situation ausdrücken kann, ist es umso schwerer, objektiv zu bleiben und beiden Kindern das Gefühl zu geben, gesehen und nicht bewertet zu werden. Dennoch ist es langfristig der bessere Weg, genau dies zu tun: die Kinder nicht in „schuldig“ und „unschuldig“ einzuteilen und nicht das größere Kind zu beschimpfen oder zu bestrafen. Denn Strafen sind weder hier noch sonst ein gutes Mittel, damit Kinder langfristig etwas lernen könnten und bei Geschwisterstreitigkeiten verteilte Strafen vertiefen nur den Graben, lassen das Gefühl der Ungerechtigkeit wachsen und verstärken Auseinandersetzungen.

Es mag sein, dass Kinder in einigen Situationen gemeinsam eine Lösung finden und manchmal finden sie sogar beeindruckend kreative, sanfte, kooperative Lösungen. Aber dann, wenn sie das nicht schaffen, brauchen sie unsere Hilfe. Dass sie es nicht (immer) schaffen, ist auch normal und kein Zeichen unseres elterlichen Versagens. Sie sich dann aber sich selbst zu überlassen, ist nicht sinnvoll. Hilfe meint nicht, dass Eltern die Lösung finden müssten. Hilfe meint, einen Lösungsweg anzuschieben und sie darin zu unterstützen, gut miteinander umzugehen. Damit sie das tun – gerade auch im Konfliktfall – ist unser positives Vorbild wichtig und ein offenes Begleiten von Konfliktsituationen (wie das geht, steht hier).

Beim nächsten Geschwisterstreit heißt es deswegen: Erst einmal tief durchatmen, bevor ein „Was hast du jetzt wieder gemacht?“ oder „Kannst du nicht einfach nachgeben?“ über die Lippen kommt und sich dann mit allen beteiligten Kindern gemeinsam hinsetzen, jedes trösten und dann gemeinsam die Situation besprechen. Und auch dann, wenn ein noch nicht sprechendes Kind beteiligt ist, können wir trösten und erklären: „Ich war nicht dabei, ich kann das nicht mitfühlen, aber ich kann versuchen, mit euch zusammen jetzt eine Lösung zu suchen für das Problem.“

Eure

Zur Autorin:
Susanne Mierau ist Diplom-Pädagogin (Schwerpunkt Kleinkindpädagogik) und Familienbegleiterin. Sie arbeitete an der FU Berlin in Forschung und Lehre, bevor sie sich 2011 im Bereich bedürfnisorientierte Elternberatung selbständig machte. Ihr 2012 gegründetes Blog geborgen-wachsen.de und ihre Social Media Kanäle sind wichtige und viel genutzte freie Informationsportale für bedürfnisorientierte Elternschaft und kindliche Entwicklung. Susanne Mierau gibt Workshops für Eltern und Fachpersonal und spricht auf Konferenzen und Tagungen über kindliche Entwicklung, Elternschaft und Familienrollen.

Foto: Ronja Jung für geborgen-wachsen.de

Mehr zum Thema Geschwisterstreit findest Du hier:
Wenn Geschwister streiten – Teil 1: Streit als Entwicklungsressource betrachten
Wenn Geschwister streiten – Teil 2: Hauen, kämpfen, balgen – Ist das noch normal?
Wenn Geschwister streiten – Teil 3: Wann muss ich eingreifen?
Wenn Geschwister streiten – Teil 4: „Meine Mama, mein Papa!“ – mit Rivalität umgehen

Foto: Ronja Jung für geborgenwachsen.de

Manchmal ist es ganz schön viel – Auch größere Kinder brauchen emotionale Unterstützung jeden Tag

Oft denken Eltern, dass ihre Kleinkinder nun doch schon ganz schön groß sind – schließlich können sie schon laufen, klettern und sprechen. Sie haben in ihrem kurzen Leben schon ziemlich viel erlebt und kennen viele Routinen und Abläufe des Alltags. Und dennoch: Jeden Tag lernen Kinder etwas Neues, sehen etwas bislang Unbekanntes und/oder machen neue soziale Erfahrungen. Und mit diesen neuen Erfahrungen ändert sich nicht nur ihr Wissen allgemein, sondern sie gehen damit auch um, setzen sich selbst in Bezug zu diesen neuen Erfahrungen, ändern vielleicht ihr Bild über sich oder über Beziehungen. Und dieses Lernen und Erfahren hält sogar noch nach der Kleinkindzeit an.

So wunderbar diese Erweiterung von Erfahrungen auch ist, ist sie dennoch auch anstrengend durch all die Prozesse, die dahinter stehen. Es kostet Energie, all dieses Lernen zu bewältigen und nicht nur das: Es braucht auch oft eine Ordnung für das Verständnis, eine Begleitung und Unterstützung. Denn auch wenn es uns Erwachsenen nach Außen so erscheint, als würden die Kinder doch nun „fertig“ sein, sind sie es innerlich noch nicht: Ihre Gehirne arbeiten noch anders, sie fühlen noch anders und können sich auch weniger leicht bei starken Emotionen selbst regulieren.

Das bedeutet: Auch Kleinkinder und Kinder im Vorschul- und selbst Grundschulalter stehen manchmal noch vor innerlich großen Herausforderungen, mit all den vielen Erlebnissen und Informationen des Tages umzugehen. Dies umso mehr, je außergewöhnlicher, beängstigender, neuer und/oder anstrengender diese Erfahrungen sind. Gerade wenn sich etwas einschneidend an ihrem Alltag verändert, sie sich in bestimmten Situationen auf einmal anders verhalten müssen oder sich Rahmenbedingungen ändern, kann das emotional sehr anstrengend sein. Dabei sind diese Änderungen für uns nicht immer leicht zu entdecken – besonders nicht, wenn wir mit unserem „Erwachsenengehirn“ darüber nachdenken und nicht erkennen, dass die Abwesenheit des Kindergartenfreundes gerade anstrengend ist oder die Erkältung eines Elternteils oder vielleicht auch „nur“ das Fehlen eines von drei Lieblingskuscheltieren.

Gerade bei größeren Kindern haben wir oft Angst, dass wir sie durch Nähe, Aufmerksamkeit und Zuwendung zu sehr verwöhnen könnten. Und tatsächlich sind die Räume für Eigentätigkeit und Selbständigkeit mit zunehmendem Alter wichtig, aber ebenso sind auch größere Kinder weiterhin auf den wichtigen Teil des Bindungssystems angewiesen, der Schutz und Unterstützung verspricht. Sie brauchen die Gewissheit, dass sie mit den herausfordernden Momenten des Lebens zu ihren Eltern kommen können, damit diese ihnen helfen, diese Erfahrungen richtig zu sortieren, einzuordnen und Strategien zum Umgang damit zu lernen. Es ist wichtig, dass wir ihnen als dieser Schutz und diese Hilfe zur Verfügung stehen – unabhängig von ihrem Alter.

Wenn unsere Kinder mit einem scheinbar „schwierigem“ Verhalten zu uns kommen, können wir dies als Einladung betrachten, genauer hinzusehen und zu erkunden, was gerade schwierig in ihrem Alltag ist, das dieses Verhalten hervorrufen könnte. Und dann erst auf die Lösungssuche gehen – so löst sich ein scheinbar schwieriges oder trotzigen Verhalten viel besser und nachhaltiger auf, als wenn Eltern sich nur wünschen, dass es abgestellt wird.

Eure

Zur Autorin:
Susanne Mierau ist Diplom-Pädagogin (Schwerpunkt Kleinkindpädagogik) und Familienbegleiterin. Sie arbeitete an der FU Berlin in Forschung und Lehre, bevor sie sich 2011 im Bereich bedürfnisorientierte Elternberatung selbständig machte. Ihr 2012 gegründetes Blog geborgen-wachsen.de und ihre Social Media Kanäle sind wichtige und viel genutzte freie Informationsportale für bedürfnisorientierte Elternschaft und kindliche Entwicklung. Susanne Mierau gibt Workshops für Eltern und Fachpersonal und spricht auf Konferenzen und Tagungen über kindliche Entwicklung, Elternschaft und Familienrollen.

Foto: Ronja Jung für geborgen-wachsen.de