Wenn Geschwister streiten – Teil 4: „Meine Mama, mein Papa!“ – mit Rivalität umgehen

Geschwisterbeziehungen sind besonders: Kinder sind sich so nah, verbringen sehr viel Zeit miteinander und oft sind die Beziehungen zwischen Geschwistern die längsten Beziehungen des Lebens. Und dennoch sind sie nicht immer einfach und harmonisch: Geschwister streiten, balgen und nicht selten – gerade bei geringen Altersabständen – kommt es zu einem Streit um Aufmerksamkeit und Zuwendung: „Meine Mama!“, „Mein Papa!“ oder „Das ist nur meine Oma!“ – Denn neben aller Verbundenheit geht es immer auch darum, die eigene Versorgung sicherzustellen. Und „Versorgung“ meint nicht nur die Versorgung mit Nahrungsmitteln, Spielsachen und Kleidung – wobei auch darum gestritten wird, sondern ganz besonders die Versorgung mit Zuwendung.

Rivalität unter Geschwistern – muss das sein?

Eltern denken nicht selten, wenn ihre Kinder sich streiten: „Meine Güte, muss das sein? Die haben doch alles!“ Aber aus der Perspektive von Kindern stimmt das nicht zwangsweise: Es kann durchaus sein, dass wir unterschiedliche Beziehungen zu unseren Kindern eingehen und unterschiedliche Bindungsmuster ausbilden. Der Satz „Ich liebe jedes meiner Kinder gleich“ ist schön, muss aber nicht zutreffen. Daher kann es durchaus sein, dass sich ein Kind tatsächlich benachteiligt fühlt, auch wenn den Eltern nicht bewusst ist, dass sie vielleicht ein anderes bevorzugen.

Auch wenn Eltern immer wieder sagen: „Ich liebe jedes Kind gleich stark“ ist das nicht unbedingt wahr. Auch hier treffen wir auf eine gesellschaftliche Erwartung, dass Eltern alle Kinder gleich lieben sollten, doch gerade zwischen Geschwistern wird verglichen. Wir können uns einem Kind wegen seines Temperaments, Aussehens, Geschlechts, der Geburts- oder Entstehungsgeschichte oder wegen den unseren ähnelnden Interessen näher fühlen als einem anderen Kind. Manchmal besteht eine Bevorzugung nur über einen bestimmten Zeitraum oder in bestimmten Situationen, manchmal tritt sie konstant auf.

aus: Mierau, S. (2019): Mutter.Sein, S. 69

Aber auch außerhalb dieser Möglichkeit kann ein Kind das Gefühl haben, weniger Zuwendung zu bekommen und mit dem anderen Kind in Konkurrenz zu stehen, beispielsweise kurz nach der Geburt eines Geschwisterkindes, wenn das Baby nun besonders viel Zuwendung, Körperkontakt und Aufmerksamkeit bekommt. Oft wird dann von der so genannten „Entthronung“ gesprochen, dabei muss sich das ältere Kind nicht zwangsweise „vom Thron gestoßen“ fühlen und bei einem gut begleiteten Übergang muss diese Art der negativen Umstellung nicht auftreten. Je geringer aber der Altersabstand ist zwischen den Geschwistern, desto höher ist die Wahrscheinlichkeit, da jüngere ältere Geschwister noch sehr viel mehr Zuwendung, Coregulation und Pflege benötigen als ältere Kinder, die Geschwister werden und beispielsweise gut selber essen können, windelfrei sind und ihre Gefühle schon besser regulieren können.

Es geht also – wie so oft – um Bindung, Schutz und Zuwendung. Durch das enge Umsorgen des kleineren Kindes können sich die größeren Kinder ausgeschlossen fühlen aus ihrer sozialen Gruppe – dieses Gefühl ist nicht nur emotional schwierig, sondern kann tatsächlich als Schmerz empfunden werden im Gehirn. Das Kind, das so empfindet, reagiert mit Wut und der Suche nach Aufmerksamkeit. Es möchte Zuwendung einfordern und sicherstellen, dass es weiterhin gut und ausreichend umsorgt wird. Dabei reagiert es aus kindlicher Sicht völlig normal, indem es versucht, das rivalisierende Kind außen vor zu lassen. Auch sonst kann sich das Gefühl dieser Rivalität und Vernachlässigung im Verhalten des Kindes abzeichnen durch stärkere Aggressivität, Ängste oder auch dem Umstand, auf einmal für viele Dinge, die eigentlich schon allein bewerkstelligt werden konnten (anziehen, allein auf Toilette gehen) wieder Hilfe zu brauchen.

Was tun, wenn die Kinder sich um Aufmerksamkeit streiten?

Es ist schwer bei mehreren Kindern, gleichmäßig Aufmerksamkeit zu verteilen. Wir müssen das auch nicht in Zeiteinheiten gleichmäßig machen, aber angepasst an das Alter und den Entwicklungsstand des Kindes. Wie oben schon geschrieben: Je kleiner der Altersabstand, desto mehr direkte Zuwendung ist auch für das „ältere“ Geschwisterkind notwendig.

Wichtig ist generell, die Gefühle des Kindes erst einmal ernst zu nehmen und anzunehmen. Ein „Ich behandle Euch doch gleich!“ hilft dem Kind in seinem Gefühl nicht. Ebensowenig wie die bloße Aufforderung, das Kind solle es anders machen oder gar Beschimpfung. Liebe für das Geschwisterkind kann nicht eingefordert werden, aber kann begleitet und gestützt werden. Vor allem dadurch, dass sich das andere Kind nicht benachteiligt fühlt. Das Kind benötigt nun das Gefühl, dazu zu gehören, sicher versorgt zu sein und nicht benachteiligt zu werden. Dies bekommt es durch aktive Zuwendung: Extra Zeiten nur für dieses Kind, am besten von beiden Eltern gleichermaßen. Spielzeiten mit dem Kind, in denen es selbst das Spiel bestimmen kann und der mitspielende Elternteil dem Wunsch folgt. Zeigt das Kind eine Rückentwicklung und zieht sich beispielsweise nicht mehr allein an, sollte das angenommen werden und das Kind die Zuwendung bekommen, die es hier gerade so dringend einfordert, damit es sich dadurch wieder umsorgt fühlt. Das Kind ist traurig und braucht Trost, Zuwendung und Liebe – keine Anklage.

Auch später kann im Laufe der Geschwisterbeziehung immer wieder mal Rivalität auftreten, nicht nur am Anfang. Das gerade auch in angespannten Situationen, wenn die Kinder merken, dass vielleicht Ressourcen gerade generell weniger vorhanden sind, es ökonomische Engpässe gibt oder die Eltern besonders angespannt sind und deswegen weniger auf die Bedürfnisse der Kinder eingehen können und sich alle Kinder deswegen versuchen, in den Vordergrund zu schieben. In Rivalitätszeiten sollten wir deswegen immer wieder daran denken, um was es eigentlich geht und was das Kind mit seinem Verhalten sagt: „Ich will Zuwendung, grenz mich nicht aus, ich gehöre auch dazu, zeig mir das. Ich habe Angst, nicht mehr genug geliebt und versorgt zu werden.“ Und mit dieser Sichtweise ist uns oft schon ein Stück weit geholfen, denn die Antwort ist immer Zuwendung.

Eure

Zur Autorin:
Susanne Mierau ist Diplom-Pädagogin (Schwerpunkt Kleinkindpädagogik) und Familienbegleiterin. Sie arbeitete an der FU Berlin in Forschung und Lehre, bevor sie sich 2011 im Bereich bedürfnisorientierte Elternberatung selbständig machte. Ihr 2012 gegründetes Blog geborgen-wachsen.de und ihre Social Media Kanäle sind wichtige und viel genutzte freie Informationsportale für bedürfnisorientierte Elternschaft und kindliche Entwicklung. Susanne Mierau gibt Workshops für Eltern und Fachpersonal und spricht auf Konferenzen und Tagungen über kindliche Entwicklung, Elternschaft und Familienrollen.

Foto: Ronja Jung für geborgen-wachsen.de

Weiterführende Literatur:
Mierau, Susanne (2017): Geborgene Kindheit. Kinder vertrauensvoll und entspannt begleiten. München: Kösel.
Mierau, Susanne (2019): Mutter.Sein. Von der Last eines Ideals und dem Glück des eigenen Wegs. Weinheim: Beltz.

In dieser Artikelserie auch erschienen:
Wenn Geschwister streiten – Teil 1: Streit als Entwicklungsressource betrachten
Wenn Geschwister streiten – Teil 2: Hauen, kämpfen, balgen – Ist das noch normal?
Wenn Geschwister streiten – Teil 3: Wann muss ich eingreifen?

1 Kommentare

  1. Herzlichen Dank für diesen tollen blogg!Wir haben auch 3 Kinder (5/3/ und 1) und genau diese Situationen treten immer mal wieder auf und ich bin verwundert weil ich versuche allen gerecht zu werden.
    Ich vermute von außen und mit dieser nüchternen Erklärung kann ich es besser annehmen-ist man doch oft etwas im muttersein getroffen wenn den kleinen gelegentlich die Gutschnur platzt.
    Bleiben sie und ihre familie gesund.
    Freundliche Grüße Melissa

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