Kategorie: neu

Die Challenge: Autonomie neu denken

Mittlerweile hat sich herumgesprochen, dass für die Phase, in der Kleinkinder danach streben selbst wirksam zu sein, immer mehr Dinge selbst zu tun und gleichzeitig aber noch Schwierigkeiten mit der Impulskontrolle und dem Umgang mit ihren Gefühlen haben, die Bezeichnung „Trotzphase“ nicht passend ist. Denn das, was Kinder tun, ist kein Starrsinn, kein Machtkampf.

Autonomie!?

Sie begehren nicht auf, um aufzubegehren, sondern um ihre Kompetenzen zu erweitern, um zu lernen und sich zu entwickeln, damit sie immer mehr in das Leben mit seinen Aufgaben hinein wachsen. Wir sprechen deswegen oft auch von der „Autonomiephase“, weil die Kinder lernen, Dinge allein zu bewerkstelligen und allein erledigen wollen. Und auch in Bezug auf ihre Gefühlswelt begeben sie sich auf den Weg, die Selbstregulation nach und nach auszuprobieren und von uns erlernte Muster anzuwenden.

Dennoch trifft auch das Wort „Autonomiephase“ nicht ganz den Punkt dieser Zeit. Denn das Selbermachen und die Selbstwirksamkeit sind nicht auf eine Phase beschränkt, sondern in der gesamten Entwicklung eines Menschen wichtig, von Anfang an. Und auch der Begriff der Autonomie birgt manches Mal den Gedanken, Kinder wären dabei ausschließlich auf ihr eigenes Vorankommen fokussiert und wären vielleicht doch die egoistischen kleinen Tyrannen, als die sie von manchen Menschen bezeichnet werden. Es geht aber um mehr als nur Eigenständigkeit, es geht auch um Zugehörigkeit und die bedingungslose Schutzfunktion von Bindung.

Lernen, um in der Gesellschaft zurecht zu kommen

Das streben danach, eigene Fertigkeiten auszubauen ist sicherlich damit verwoben, selbständig zu werden und für sich sorgen zu können. Dabei sind und werden Kinder aber keine kleinen Eigenbrödler, sondern sind sowohl jetzt als auch zukünftig im gesellschaftlichen Kontext zu sehen. Sie lernen nicht nur für sich, sondern auch für ihr Zusammenleben mit anderen: mit ihrer Familie, in ihrem weiteren sozialen Netz, in unserer Gesellschaft. Sie lernen, ihre Kooperationsfähigkeiten weiter auszubauen und eigene Aufgaben zu übernehmen, um in ihrem sozialen Umfeld Teil zu haben und zu unterstützen.

Wir sehen es jeden Tag an unseren Kindern, dass sie helfen und unterstützen wollen, auch wenn wir Erwachsene diese Hilfe nicht als solche anerkennen, weil sie noch in den Kinderschuhen steckt: Das Kind, das beim Zubereiten des Essens helfen möchte und etwas klein schneiden oder umrühren möchte. Das Kind, das die Cornflakestüte in die Aufbewahrungstüte umkippen möchte und dabei die Hälfte daneben gehen lässt, weil die Auge-Hand-Koordination und Feinmotorik doch noch nicht ausreichend ausgebildet ist. Es gibt jeden Tag viele Tätigkeiten unserer Kinder, die uns zeigen, dass sie eigentlich auf dem Weg sind, Unterstützung zu lernen.

Konflikte im Miteinander: Auch das ist Lernen

In einer Gesellschaft sind unsere Kinder einerseits mit ihren Handlungen und Tätigkeiten Teil einer Gruppe, aber auch mit ihrem Wesen. Auch das Zugehörigkeitsgefühl bildet sich nach und nach aus und es ist für Kinder wichtig, Teil einer Gruppe zu sein und sich als solchen Teil auch zu empfinden. Und im Gegenteil: Der Ausschluss ist für Kinder nicht nur emotional schmerzhaft, sondern wird teilweise sogar als richtiges Schmerzgefühl erlebt und lässt Kinder weinen. Auch hier lernen also Kinder im sozialen Miteinander: Was ist in einer Gruppe okay, was nicht? Wie bewege ich mich in einer Gruppe, welche Werte werden transportiert? Und auch: Was ist in unterschiedlichen Gruppen verschieden? Warum ist es für andere Kinder in Ordnung, wenn ich sie „Pupsnase“ nenne, aber Erwachsene reagieren anders darauf? Kleinkinder lernen auch soziales Miteinander, um sich in einer Gruppe zurecht zu finden, um Teil davon zu sein.

Der amerikanische Autor Alfie Kohn* schreibt „Manchmal wird die Annahme, Kinder wollten uns testen, sogar als Begründung angeführt, sie zu bestrafen. Mein Verdacht ist jedoch, dass Kinder durch ihr Fehlverhalten vielleicht etwas völlig anderes testen wollen – nämlich die Bedingungslosigkeit unserer Liebe. Vielleicht verhalten sie sich auf unannehmbare Weise, um herauszufinden, ob wir sie dann nicht mehr annehmen.“ Beziehen wir dies auf die manchmal schwierigen Situationen mit Kleinkindern, sehen wir: Kinder brauchen das Gefühl, dazu zu gehören. Gerade kleine Kinder sind noch auf den Schutz, den das Bindungssystem verspricht, angewiesen und wollen uns nicht erzürnen oder verärgern, sondern Teil sein und sich sicher sein, dass sie geschützt und versorgt werden.

Zeigen sie ein Verhalten, das uns denken lässt, sie würden uns provozieren, können wir auch hier überlegen: Was steckt eigentlich dahinter? Welches Beziehungsthema hat mein Kind gerade? Die Antwort auf eine scheinbare Provokation ist deswegen die Bestätigung, dass das Kind auch weiterhin geliebt wird. Natürlich können wir dennoch signalisieren, dass dieses Verhalten für das Zusammensein nicht gut ist.

Ein Beispiel hierfür: Scheinbar wahllos wirft das Kind die Sachen aus dem Regal auf den Boden. Wir fragen uns: Was soll daran sinnvoll sein? Hier lernt das Kind keine Fertigkeiten. Vielleicht aber ist es auf der Suche nach einem Beziehungsangebot: Vielleicht fühlt es sich nicht gesehen, nicht verstanden, ist ihm langweilig. Wir könnten klassischerweise reagieren mit einem „Lass das, hör sofort auf.“ Das Kind hört vielleicht auf, weil es Angst hat. Das ursprüngliche Thema des Kindes wird allerdings nicht beachtet, mit hoher Wahrscheinlichkeit wird es ein ähnliches oder anderes, für uns störendes Verhalten bald wieder zeigen. Was wir alternativ sagen können: „Jetzt hast du alle Sachen runtergeworfen. Mich ärgert das, weil die Sachen wieder aufgeräumt werden müssen und ich habe Angst, dass etwas kaputt geht, wenn du die Sachen runter wirfst. Warum hast du das gemacht? Bist du sauer?“ Wir erklären, wie es uns geht, warum die Situation für uns nicht in Ordnung ist und was das für uns bedeutet und gleichzeitig zeigen wir dem Kind mit unserer Frage, dass es wichtig ist und wir uns um die Hintergründe des Kindes kümmern. Wir können vermitteln: Das, was gerade gemacht wurde, ist nicht okay, aber das ändert nichts daran, dass ich dich lieb habe. Kinder lernen nicht daraus „richtiges“ Verhalten in einer Gesellschaft zu zeigen, weil sie sonst Liebesentzug erwarten, sondern sie lernen das passende soziale Verhalten durch Vorbildverhalten von uns Erwachsenen und dem Bedürfnis nach Teilhabe und Kooperation, das aus ihnen selbst schon entspringt.

Probier es aus: Sieh die Beweggründe des Handelns

Wir können unseren Alltag mit Kleinkindern erleichtern, wenn wir die wahren Beweggründe ihres Handelns erkunden und in unseren Handlungen berücksichtigen. Wenn das Kind also etwas tut, das uns stört, das uns verärgert, das uns mehr Arbeit bringt, können wir uns fragen: Macht es das gerade, um etwas zu lernen? Möchte es gerade eine Fertigkeit ausbauen, lernt es gerade fein- oder grobmotorisch? Lernt es gerade Sozialverhalten und gleicht sich mit anderen ab? Und wenn wir keine Antwort finden, können wir uns noch fragen: Steckt hinter dem Verhalten des Kindes eigentlich eine Beziehungsfrage, eine Beziehungsaufforderung, möchte das Kind gesehen werden und braucht es gerade eine Versicherung, das wir es lieben und weiterhin schützen und versorgen?

Es macht den Alltag leichter, wenn wir von unseren Kindern nichts Böses denken, wenn wir nicht denken, dass sie uns ärgern/manipulieren/herausfordern wollen. Sondern wenn wir denken, dass die Menschen sind, die gerade lernen, sich in die Welt hinein bewegen und all das, was sie tun, deswegen machen, weil sie dazugehören wollen. Und dieser Gedanke kann ein wunderbar hilfreicher Leitstern sein für schwierige und weniger schwierige Tage.

Eure

Zur Autorin:
Susanne Mierau ist Diplom-Pädagogin (Schwerpunkt Kleinkindpädagogik) und Familienbegleiterin. Sie arbeitete an der FU Berlin in Forschung und Lehre, bevor sie sich 2011 im Bereich bedürfnisorientierte Elternberatung selbständig machte. Ihr 2012 gegründetes Blog geborgen-wachsen.de und ihre Social Media Kanäle sind wichtige und viel genutzte freie Informationsportale für bedürfnisorientierte Elternschaft und kindliche Entwicklung. Susanne Mierau gibt Workshops für Eltern und Fachpersonal und spricht auf Konferenzen und Tagungen über kindliche Entwicklung, Elternschaft und Familienrollen.

Foto: Ronja Jung für geborgen-wachsen.de

Weiterführende Literatur**:
*Kohn, Alfie (2015): Liebe und Eigenständigkeit. Die Kunst bedingungsloser Elternschaft, jenseits von Belohnung und Bestrafung. Freiburg: Arbor.
Mierau, Susanne (2017): Ich! Will! Aber! Nicht! Die Trotzphase verstehen und gelassen meistern. München: Kösel.
Mierau, Susanne (2017): Geborgene Kindheit. Kinder vertrauensvoll und entspannt begleiten. München: Kösel.

** Die Literatursammlung enthält Affiliate-Links zu Amazon, durch die Geborgen Wachsen im Falle einer Bestellung eine Provision erhält ohne dass für dich Mehrkosten anfallen. Die vorgeschlagenen Bücher haben wir selbst gekauft, geschrieben oder es waren Rezensionsexemplare.

Wenn Geschwister streiten – Teil 3: Wann muss ich eingreifen?

Geschwister zu haben, kann wunderbar sein: Da ist dieser andere Mensch, dieses andere Kind in der Familie und Geschwister können sich so unglaublich nahe sein, miteinander durch das Leben gehen und sich gegenseitig stützen, vertrauen und helfen. Auf der anderen Seite gibt es aber auch Streit – manchmal mehr, manchmal weniger. Das Alter der Kinder, die Geburtenfolge, die allgemeine Bedürfnisberücksichtigung, das Temperament – sie alle nehmen Einfluss auf die Streitereien zwischen Geschwisterkindern. Dabei ist es wichtig, dass wir den Streit nicht per se als negativ betrachten, sondern auch als Ressource für das Lernen sozialer Fähigkeiten. Dennoch stellen sich viele Eltern bei Streitigkeiten zwischen ihren Kindern die Frage: Wann soll ich nun eingreifen und soll ich das überhaupt?

Kein prophylaktisches Eingreifen

In den Streit zwischen Kindern einzugreifen, kann durchaus sinnvoll sein, wenn die Kinder keine gemeinsame Lösung finden, sich nicht beruhigen können oder sich der Streit in eine größere handgreiflichen Auseinandersetzung entwickelt. Allerdings muss nicht in jeden Streit prophylaktisch eingegriffen werden: Manchmal finden Kinder von sich aus bei einem Streit eine kreative Lösung. Sind die Bezugspersonen in der Nähe und verfolgen das Streitgeschehen von Anfang an, ist ein nicht-teilnehmendes, nicht-fokussiertes Beobachten zunächst sinnvoll. Das mag vielen Eltern schwer fallen, wenn sie es gewohnt sind, eher zu ermahnen, selbst alles zu regeln und Kinder weniger als kompetent und lösungsorientiert zu betrachten. Aber wir können uns von der eigenen Zurückhaltung auch überraschen lassen: Merken wir, dass sich der Streit vielleicht in eine für die Kinder allein zu händelnde Situation entwickelt, können wir sogar bewusst den Raum verlassen und den Kindern signalisieren: Ihr seid kompetent genug, um das allein zu bewältigen. Wichtig dabei ist aber, dass der Streit wirklich ausgewogen beigelegt wird und nicht ein Kind aufgrund von Stärke gewinnt und ein Kind (immer wieder) unterliegt und nachgibt.

Keine Schuld geben, sondern offenes Begleiten

Entwickelt sich der Streit in eine Richtung, bei der wir annehmen, dass die Kinder ihn nicht alleine beilegen können, können wir eine Begleitung – aber keine Lösung (!) anbieten:

  • Auch wenn wir versucht sind, unsere ganz persönliche Meinung einzubringen („Immer streitet Ihr Euch um dieses eine Spielzeug!“, „Das ist total doof, dass ihr Euch streitet, teilt die Knete doch einfach!“), ist das in der Streitsituation zwischen Kindern nicht hilfreich. Hilfreicher ist es zunächst, beide Seiten ihre Sicht darlegen zu lassen und dabei zu erklären, dass wir gegenseitig uns aussprechen lassen und jede Seite ausreichend Gehör bekommt.
  • Im nächste Schritt können die Gefühle beider Personen noch einmal beschrieben werden: „Du bist sauer, weil sie dir dein Spielzeug weggenommen hast und du bist sauer, weil du damit so schön gespielt hast.“ Beide Kinder haben Gefühle, beide sind gerade angespannt und fühlen sich beeinträchtigt. Unsere erwachsene Annahme darüber, welcher von beiden eher ein Recht hat, traurig/sauer/wütend/enttäuscht… zu sein, ist nicht relevant für die Situation, weil jedes Kind in der eigenen Emotion gesehen werden möchte und diese gerade auslebt. Es ist wichtig, dass wir jedem Kind die Möglichkeit zugestehen für eigene Gefühle und anerkennen, dass die Konfliktsituation beide Kinder auf unterschiedliche Weise beeinträchtigt.
  • Fühlen sich die Kinder in ihren Emotionen gesehen, können wir das Problem noch einmal sachlich in Worte fassen. Manchmal reichen die Schritte bis zu diesem Punkt bereits aus, dass die Kinder eine eigene Lösung finden.
  • Haben die Kinder noch keine Lösungsidee, können wir sie darum bitten, ihre eigenen Ideen einzubringen und mögliche Lösungen zu sammeln.
  • Wurde von den Kindern eine Lösung gefunden, die für beide passt, kann noch einmal nachgefragt werden, wie es beiden nun mit dieser Lösung geht: „Wie fühlst du dich damit jetzt? Ist das in Ordnung?“

Reflektieren als Eltern

Streitsituationen zwischen Geschwistern sind anstrengend. Es lohnt sich aber nicht nur bei den Kindern genau hinzusehen und zu ergründen, wann es zu Konflikten kommt, ob bestimmte Themen besonders zu Problemen führen und ob vielleicht auch etwas anderes dahinter steckt als das scheinbar aktuelle Streitthema. Es lohnt sich auch, unsere eigenen Gefühle in Streitsituationen zu reflektieren: Warum fällt es mir schwer, wenn meine Kinder streiten? Fühle ich mich als schlechtes Elternteil, wenn meine Kinder streiten? Habe ich das Gefühl, in der Erziehung versagt zu haben, weil sie das tun? Welche Gefühle werden bei mir ausgelöst durch welche Streitsituationen und womit steht dieses Gefühl in Verbindung?

Dass Kinder sich streiten, ist normal. Wir begleiten sie auf dem Weg, gut mit Streitsituationen umgehen zu können und kompetente Lösungen zu finden.

Eure

Zur Autorin:
Susanne Mierau ist Diplom-Pädagogin (Schwerpunkt Kleinkindpädagogik) und Familienbegleiterin. Sie arbeitete an der FU Berlin in Forschung und Lehre, bevor sie sich 2011 im Bereich bedürfnisorientierte Elternberatung selbständig machte. Ihr 2012 gegründetes Blog geborgen-wachsen.de und ihre Social Media Kanäle sind wichtige und viel genutzte freie Informationsportale für bedürfnisorientierte Elternschaft und kindliche Entwicklung. Susanne Mierau gibt Workshops für Eltern und Fachpersonal und spricht auf Konferenzen und Tagungen über kindliche Entwicklung, Elternschaft und Familienrollen.

Foto: Ronja Jung für geborgen-wachsen.de

Ich möchte es gern anders machen…

Viele Eltern haben in ihrer Kindheit Erfahrungen gemacht, die sie heute nicht an die eigenen Kinder weiter geben wollen. Und obwohl dieser Gedanke fest in ihnen verankert ist, fällt es ihnen oft gar nicht so einfach, dieses Vorhaben in die Tat umzusetzen. Dies kann dann als besonders quälend erfahren werden: Ich will es doch eigentlich anders machen, aber warum nur gelingt es mir nicht?

Der Gedanke ist schon der erste Schritt

Bindung ist in erster Linie ein Schutzsystem für das Kind: Das feinfühlige Zuwenden und Umsorgen der Bedürfnisse des Kindes dient der gesunden Entwicklung und dem Überleben. Es ist in uns Menschen verankert, dass wir uns um unsere Kinder kümmern. Durch eigene Erfahrungen kann aber die Ausgestaltung des Kümmerns beeinflusst werden: Werden Bedürfnisse von Kindern nicht feinfühlig wahrgenommen, richtig interpretiert und letztlich passend beantwortet, lernt das Kind durch diese Behandlung etwas in Bezug auf die Beziehung, den eigenen Selbstwert und über sich. Wenn ein Kind immer wieder die Erfahrung macht, dass die Bedürfnisse in dieser eigentlich nicht gewünschten Weise beantwortet werden, verinnerlicht es diese Handlungen und Verhaltensweisen. Ist es später selber Elternteil, fällt es diesem ehemaligen Kind oft schwer, genau diese Bedürfnisse, die bei sich selbst nicht gesehen/nicht erfüllt wurden, beim eigenen Kind angemessen umzusetzen. Wir reagieren scheinbar reflexhaft auf das kindliche Verhalten mit dem erlernten Muster.

Eltern, die nun aber bewusst wahrnehmen: „Ich will das eigentlich gar nicht!“ haben den ersten Schritt für eine Änderung bereits gemacht: Sie reflektieren den eigenen Alltag mit Kind und nehmen wahr, dass es eine Diskrepanz gibt zwischen dem, was sie tun und dem, was sie eigentlich wollen bzw. was sich das Kind eigentlich wünscht. Dieses Erkennen des Unterschieds ist ein erster Schritt auf einem Weg, der für viele Eltern nicht einfach ist.

Erkennen allein reicht aber noch nicht

Selbst wenn Eltern sich vornehmen, das eigene Kind anders zu behandeln und nicht so viel zu schreien, das Kind nicht zu schlagen, ihm nicht zu drohen oder es mit Liebesentzug zu bestrafen, kann dieses Vorhaben dennoch schwer fallen. Erschrocken stellen wir fest, dass Wörter aus unserem Mund kommen, die sich doch nach den eigenen Eltern anhören. Gerade in stressigen oder emotional aufgeladenen Situationen, im Streit mit dem Kind oder scheinbaren Notsituationen können Eltern in die Situation kommen, nicht dem gerade Erlebtem umgehen zu können und von den eigenen Gefühlen von Zurückweisung, Beschämung, Bedrohung überflutet zu werden, die durch das entsprechend erlernte Verhalten abgestellt werden sollen.

Das, was wir erleben, hinterlässt Spuren in den Nervenverbindungen unseres Gehirns. Nicht nur in der Kindheit entstehen synaptische Verschaltungen, sindern unser ganzes Leben lang. Nerven verbinden sich durch die Erfahrungen, die wir machen, und diese Verbindungen prägen unser Denken und Handeln.

S. Mierau (2019): Mutter.Sein S.80

Schritte neben dem Wunsch, es anders zu machen

Neben dem Wunsch, es anders machen zu wollen, ist es deswegen wichtig, sich bewusst mit der eigenen Kindheit auseinander zu setzen: Wie wurden welche Bedürfnisse beantwortet und wurden sie es überhaupt zuverlässig? Woran hat es gemangelt? Daneben sind es oft konkrete Situationen, die Eltern immer wieder besonders schwer fallen und sie können sich fragen: Welche Gefühle wehre ich ab? Welche Situationen überfordern mich heute immer wieder? Gibt es verbindende Elemente? Diesen Fragen auf den Grund zu gehen, ist manchmal nicht einfach und es kann sein, dass dafür therapeutische Hilfe notwendig ist.

Wichtig ist dann, diese Situationen im Alltag nach Möglichkeit vorher zu erkennen (beispielsweise „Gleich wird es wieder schwierig, wenn mein Kind anfängt wütend zu sein.“) und dann entweder konkret die Hilfe einer anderen Person einzufordern (anderer Elternteil: „Kannst Du das übernehmen?“) oder sich bewusst zu machen, dass wir in dieser für uns schwierigen Situation sind, aber dieses Geschehen im Hier und Jetzt stattfindet und nicht in der Vergangenheit und eigenen Kindheit. Vielen Eltern hilft es, wenn sie sich erst selbst beruhigen durch zählen, atmen, bewusste Körperwahrnehmung, bevor sie mit dem Kind reden in einer Wutsituation. Sind sie ruhiger, fällt es ihnen auch wieder leichter, bewusst die Bedürfnisse des Kindes wahrzunehmen, zu interpretieren und zu beantworten. Mit der Zeit können sich so neue Handlungsmuster einprägen und es wird leichter, mit schwierigen Situationen umzugehen.

Dieser Weg mag nicht immer einfach sein. Tatsächlich ist aber schon ein riesiger und wunderbarer Schritt damit getan, sich sicher zu sein, es anders machen zu wollen.

Eure

Zur Autorin:
Susanne Mierau ist Diplom-Pädagogin (Schwerpunkt Kleinkindpädagogik) und Familienbegleiterin. Sie arbeitete an der FU Berlin in Forschung und Lehre, bevor sie sich 2011 im Bereich bedürfnisorientierte Elternberatung selbständig machte. Ihr 2012 gegründetes Blog geborgen-wachsen.de und ihre Social Media Kanäle sind wichtige und viel genutzte freie Informationsportale für bedürfnisorientierte Elternschaft und kindliche Entwicklung. Susanne Mierau gibt Workshops für Eltern und Fachpersonal und spricht auf Konferenzen und Tagungen über kindliche Entwicklung, Elternschaft und Familienrollen.

Foto: Ronja Jung für geborgen-wachsen.de

Weiterführende Literatur*:
Becker-Stoll, Fabienne/Beckh, Kathrin/Berkie, Julia (2018): Bindung. Eine sichere Basis fürs Leben. – München: Kösel.
Hüther, Gerald (2015): Die Macht der inneren Bilder. Wie Visionen das Gehirn, den Menschen und die Welt verändern. – 9. Aufl. Goettingen: vandenhoeck & Ruprecht.
Mierau, Susanne (2019): Mutter.Sein. Von der Last eines Ideals und dem Glück des eigenen Wegs. – 2. Aufl. Weinheim: Beltz.
Müller-Münch, Ingrid (2016): Die geprügelte Generation. Kochlöffel, Rohrstock und die Folgen. – 5. Aufl. München: Piper.

Die Literatursammlung enthält Affiliate-Links zu Amazon, durch die Geborgen Wachsen im Falle einer Bestellung eine Provision erhält ohne dass für dich Mehrkosten anfallen. Die vorgeschlagenen Bücher haben wir selbst gekauft, geschrieben oder es waren Rezensionsexemplare.

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Wenn die Geburt als traumatisch erlebt wurde…

Wie geht man damit um, wenn „das schönste Ereignis“, die Geburt des Kindes, doch nicht als solches erlebt wird, wenn sich die ganzen Erwartungen nicht erfüllen und die Geburt stattdessen als so schlimm erlebt wird, dass eine psychische Erkrankung die Folge ist?

Posttraumatische Belastungsstörung in Folge einer Geburt

Es geht um die Posttraumatische Belastungsstörung (PTBS), eine psychische Erkrankung, die nach einem als traumatisch erlebten Ereignis auftreten kann. Zum Beispiel nach einem Überfall, einem Autounfall – oder eben auch nach einer Geburt. Jede PTBS braucht einen Auslöser, aber nicht jede Situation löst immer ein Trauma aus. Wichtig ist die subjektive Bewertung der Situation. Das heißt, dass manche Frauen die Geburt ihres Kindes als subjektiv traumatisierend erleben, obwohl es keine besonderen Schwierigkeiten oder ein katastrophales Ereignis gab in den Augen anderer.

Anders herum dasselbe: Nicht jede Frau mit „schlimmer“ Entbindung bewertet diese subjektiv als traumatisierend. Außenstehende haben nicht das Recht, eine Bewertung oder Einschätzung vorzunehmen. Trotzdem spielen natürlich die Umstände während der Geburt eine wichtige Rolle: Erlebte Gewalt, Gefühle wie Ausgeliefertsein, Hilflosigkeit, Verletzung von Schamgefühlen oder Wahrnehmen der Geburtshelfer als unsensibel steigern die Wahrscheinlichkeit, die Geburt subjektiv als traumatisierend zu erleben. Wichtig ist, dass es hier kein richtig oder falsch gibt. Was zählt, ist allein die subjektive Wahrnehmung.

… ein Tabuthema

Genau das macht den Umgang mit  PTBS jedoch auch so schwierig, da Betroffene sich oft nicht trauen über ihre Erfahrungen zu reden. Das sollte sich dringend ändern denn die Forschung zeigt, dass es viele betroffene Gebärende gibt. Laut meiner letzten Studie sind 7.93% aller Mütter betroffen, unter den Müttern mit Notfall-Kaiserschnitt sind es sogar 29.29%. Das ist fast jede Dritte. Die Differenz zwischen der Anzahl der betroffenen Frauen und dem Umstand, wie häufig darüber gesprochen wird, ist groß.  Glücklicherweise gibt es immer mehr Berichte in Zeitungen und auch Vereine wie motherhood e.V., die über die Situation rund um die Geburtshilfe aufklären, aber dennoch werden viele persönliche Berichte von betroffenen Frauen verschwiegen.

Anzeichen einer Posttraumatischen Belastungsstörung

Viele Mütter berichten von wiederkehrenden, unkontrollierten und unerwünschten Erinnerungen an die Geburt, von schlechten Träumen von der Geburt und/oder von einem Gefühl, dass man die Geburt erneut durchlebt. Zusätzlich wird das oft von Traurigkeit, Anspannung und Angst begleitet, sodass Betroffene versuchen zu vermeiden, an die Geburt zu denken.

Allgemeinere Symptome sind häufig ein negatives Selbstwertgefühl, das Gefühl sich von anderen Menschen entfernt zu haben, keine positiven Emotionen mehr zu empfinden und sich gereizt/aggressiv zu fühlen. Die Betroffenen spüren meistens einen hohen Leidensdruck, fühlen sich als schlechte Mutter. Schuld und Scham spielen häufig eine große Rolle.  

Sollte man sich so oder ähnlich fühlen, wird Hilfe benötigt. Im ersten Schritt kann es schon helfen über die Erfahrungen zu sprechen. Wenn die Symptome anhalten, ist es ratsam, sich an professionelle Hilfe zu wenden, z.B. sich an die Gynäkologin/den Gynäkologen wenden, Hebamme, Familienpfleger*in oder Hausärztin/Hausarzt. Zusätzlich gibt es Beratungsstellen, die spezielle Unterstützung anbieten. Auch wer nicht selbst betroffen ist, aber eine Mutter kennt, die unter ähnlichen Symptomen leidet, sollte einfühlsam vorbringen, ob vielleicht eine zusätzliche Beratung oder therapeutische Begleitung hilfreich wäre.

Weitere Forschung ist notwendig

Trotz der relativ hohen Anzahl an betroffenen Frauen gibt es in diesem Bereich bis jetzt kaum Forschung. Ich bin selber Mutter und Psychologin und versuche das zu ändern. Für meine aktuelle Online-Studie untersuche ich das psychische Wohlbefinden von Müttern nach der Geburt und mögliche Einflussfaktoren.  Wir suchen noch Schwangere und Mütter (bestenfalls liegt die Geburt nicht mehr als 12 Monate zurück) die bereit wären, an unserer Online-Studie teilzunehmen. Damit sich etwas verändert und mehr für die Betroffenen getan werden kann, braucht es mehr Forschung zu den Risikofaktoren. Mit deiner Teilnahme würdest du einen wichtigen Beitrag leisten, wir sind für jede Teilnahme dankbar.

Anlaufstellen nach traumatisch erlebten Geburten

Solltest du akut unter psychischen Beschwerden leiden und/oder Gedanken haben, dich selbst und/oder dein Kind zu verletzen oder das Gefühl haben, dein Wohlbefinden hat sich seit der Entbindung verschlechtert und/oder du fühlst dich im Alltag beeinträchtigt, dann empfehlen ich dir, Hilfe aufzusuchen. Sprich dazu deine Hebamme/Geburtshelfer, deinen Gynäkologen, oder deinen Haus- oder KinderärztIn an. Alternativ kannst du  dich auch anonym und kostenlos an die Telefonseelsorge wenden (0800/111 0 111) oder an den Verein Schatten & Licht e.V., der ein bundesweites Beratungs- und Selbsthilfegruppen-Netzwerk hat, an das sich Betroffene wenden können. Die Überweisung an einen Psychotherapeuten bekommst du von Hausarzt/Hausärztin oder Gynäkologin/Gynäkologen. Psychotherapeuten in deiner Nähe kannst du z.B. über die Seiten Deutschepsychotherapeutenvereinigung.depsych-info.detherapie.de oder psychotherapeutensuche.de finde. Die Wartezeiten sind oft lang, für akute Fälle lohnt es sich deswegen es über die Terminservicestelle der Kassenärztlichen Vereinigung  (gibt es online für jedes Bundesland) zu versuchen oder zu psychotherapeutischen Hochschulambulanzen in deiner Stadt zu gehen.

Lea Beck-Hiestermann ist Psychologin und Psychotherapeutin in Ausbildung (Tiefenpsychologie). Sie forscht an der Psychologischen Hochschule Berlin zu postpartalen psychischen Störungen. Mehr von Lea gibt es hier auf Instagram.

Elterliche Präsenz – Anwesend sein ohne zu leiten

Zwischen dem Bedürfnis nach Schutz, Nähe und Fürsorge haben Kinder das Bedürfnis nach Exploration: Sie wollen die Welt erkunden, lernen, sich darin bewegen und sich so Stück für Stück die Welt aneignen. Zwischen diesen beiden Bedürfnissen bewegen sie sich jeden Tag an vielen Stellen hin und her. Wir sehen das daran, wenn das Kleinkind ein Stück voran läuft, freudig das Rennen übt und auf etwas neugierig zuläuft und plötzlich stehen bleibt, um sich zu versichern, dass die schützende Person noch anwesend ist. Auch in anderen Situationen nehmen wir wahr, dass es immer wieder ein Hin und Her gibt zwischen Erkundung und Nähe – je größer die Kinder werden, desto ausgedehnter werden die einzelnen Phasen.

Manchmal fallen Nähe und/oder Freiheit schwer

Für das Kind ist es deswegen wichtig, dass es beides hat und erfährt: die Nähe der Eltern und zugleich die Möglichkeit, zu erkunden. Manchmal erscheint gerade das aber gar nicht so einfach, wenn Eltern in Bezug auf die Nähe und/oder das Zulassen der Erkundung Schwierigkeiten haben. Wie kann es aussehen, das Kind in Bezug auf den Erkundungsdrang einzuschränken? Beispielsweise indem wir immer wieder die Betonung auf Gefahren lenken und dem Kind nicht altersgerechte Erkundung ermöglichen: „Nein, lieber nicht klettern!“, „Das Brot darfst du dir nicht schmieren, du könntest dich am Messer schneiden!“… Aber auch in Bezug auf die Nähe können wir Schwierigkeiten haben, wenn wir das Kind länger versuchen zu trösten, obwohl es schon wieder los möchte. Vielleicht, weil wir selbst verängstigt sind und weniger das Kind trösten, sondern mehr uns selbst. Oder – das Gegenteil -indem wir die Nähe nicht zulassen, wenn das Kind sie gerade einfordert: „Sei nicht immer so ängstlich!“

Es ist manchmal ein schmaler Grad und gerade für Eltern, die vielleicht selber Schwierigkeiten mit Nähe und Distanz haben und diese selber nicht beide gut ausleben konnten, ist es schwer, einzuschätzen, was das Kind gerade braucht, was angemessen oder auch altersgerecht ist. Auch Erlebnisse im Laufe unseres Lebens oder gehörte Geschichten können es uns schwer machen.

Der Gedanke von „Präsenz“ kann es erleichtern

Es hört sich so einfach an und ist dennoch oft so schwer: Wir müssen gar nicht so viel tun, um unsere Kinder zu begleiten. Wir müssen vor allem da sein. Der Gedanke daran, als Elternteil „präsent“ zu sein, kann vielen Eltern helfen, die Situation besser einzuschätzen.

Wir sind präsent, wenn wir anwesend sind, wenn das Kind etwas erkundet. Wir müssen nicht vormachen, wie man mit einem Spielzeug umgeht oder mit einem ungefährlichen Haushaltsgegenstand. Wir können anwesend sein und bei Bedarf des Kindes als Ansprechperson zur Verfügung stehen. Wenn das Kind uns auffordert, zu helfen, etwas anzusehen, zu erklären, sind wir da.

Wir sind präsent, wenn das Kind sich von uns entfernt und bleiben in einer angemessenen Entfernung, die Sicherheit bietet, wenn es sich von uns weg bewegt in einem sicheren Umfeld. Viele Kinder pausieren in der Erkundung, um sicherzustellen, dass die Erwachsenen noch in der Nähe sind. In gefährlichen Situationen wie dem Straßenverkehr, die ein kleines Kind noch nicht überblicken kann, sind wir in der präsenten Schutzfunktion und verdeutlichen, dass jetzt keine Erkundung möglich ist. Es fällt dem Kind einfacher, wenn es weiß, dass es später wieder in die Erkundung gehen kann.

Wir sind präsent, wenn das Kind wütend ist. Manchmal lässt es im ersten Moment oder den ersten Minuten keine Nähe zu, sondern lebt diese Wut aus, entlädt das Gefühl, das in ihm aufgekommen ist. Mit einem Abwarten in der Nähe sind wir präsent und drücken mit Anwesenheit oder auch sprachlich aus: „Ich bin hier, wenn du bereit bist. Ich tröste dich, wenn du es brauchst.“

Wir sind präsent, wenn das Kind Zuwendung braucht: Gerade jetzt braucht es Schutz und Nähe – nach einem Wutanfall. nach einem Streit, weil es sich verletzt hat. In diesem Moment sind wir für das Kind da und können körperlich und sprachlich ausdrücken: „Ich bin dein sicherer Hafen. Ich schütze dich, ich halte dich, wenn du es brauchst.“ Und wir bemerken, wenn das Kind von der Nähe und dem Schutz gesättigt ist und lasses es wieder gehen. Bei einigen Kindern geht es schneller, bei anderen dauert es länger.

Wenn wir also im Alltag manchmal Schwierigkeiten haben damit, ob wie zu nah oder zu weit weg sind, denken wir an den Begriff der Präsenz und erinnern uns daran, dass wir zugänglich sein sollten für das Kind und seine Bedürfnisse, ohne dabei aufdringlich zu sein und unser eigenes Denken und Handeln in den Vordergrund zu stellen.

Eure

Zur Autorin:
Susanne Mierau ist Diplom-Pädagogin (Schwerpunkt Kleinkindpädagogik) und Familienbegleiterin. Sie arbeitete an der FU Berlin in Forschung und Lehre, bevor sie sich 2011 im Bereich bedürfnisorientierte Elternberatung selbständig machte. Ihr 2012 gegründetes Blog geborgen-wachsen.de und ihre Social Media Kanäle sind wichtige und viel genutzte freie Informationsportale für bedürfnisorientierte Elternschaft und kindliche Entwicklung. Susanne Mierau gibt Workshops für Eltern und Fachpersonal und spricht auf Konferenzen und Tagungen über kindliche Entwicklung, Elternschaft und Familienrollen.

Foto: Ronja Jung für geborgen-wachsen.de

Wenn Mathe immer schwierig ist – Dyskalkulie erkennen

Finn rechnet 8–1, indem er von 8 Fingern einen einklappt.
Finn merkt es nicht, dass das Ergebnis „20“ bei der Aufgabe 45 + 47 nicht stimmen kann.
Finn braucht für seine Mathe-Hausaufgaben fast eine Ewigkeit.
Finn macht seine Eltern verrückt.
Mathematik ist zu Hause das bestimmende Thema.
Finn kommt in Mathe nicht weiter.
Finns Eltern werfen ihm vor, faul zu sein.
Finn wird immer schneller aggressiv, denn er gibt sich Mühe.
Sein Leben besteht aus unerkannter Mühe.
Finn hat Dyskalkulie.

Was ist Dyskalkulie?

„Dyskalkulie“ ist eine der vielen Bezeichnungen für das mathematische Gegenstück zur Legasthenie. Weitere Begriffe, die dasselbe meinen, sind „Rechenschwäche“, „Rechenstörung“ oder „Arithmasthenie“. Dyskalkulie ist weit weniger bekannt als Legasthenie, aber genauso häufig.

Kinder, die von einer Dyskalkulie betroffen sind, haben außerordentliche Schwierigkeiten, mathematische Inhalte in der Schule zu lernen, zu verstehen, zu behalten und anzuwenden. Ihnen fehlen die wichtigsten Voraussetzungen dafür, Wissen im Bereich des Rechnens aufzubauen. Dyskalkulie ist unter dem Namen „Rechenstörung“ ein international anerkanntes Krankheitsbild und in der internationalen Klassifikation der Krankheiten der WHO aufgelistet.

Man spricht von einer „Rechenstörung“ oder „Dyskalkulie“, wenn ein Kind schlechter rechnet als 90% seiner Altersgenossen, gleichzeitig aber von seiner Intelligenz her eine wesentlich bessere Leistung zu erwarten wäre. Diese Störung darf aber nicht durch schlechten Unterricht oder Krankheit ausgelöst worden sein. Nach wissenschaftlichen Untersuchungen sind im dritten Schuljahr 5-7% der Kinder von einer Dyskalkulie betroffen.

Was ist die Ursache für eine Dyskalkulie?

Eine möglich mathematische Lernschwäche kündigt sich oft bereits im Kindergartenalter an. Kinder, die aufgrund motorischer Probleme ungenau abzählen, verstehen das Verhältnis zwischen Mengen und Zahlen wesentlich später als Altersgenossen. Auch wenn Kinder verzögert Zählen lernen oder viele Zählfehler machen, leidet darunter dieses Mengen- und Zahlverständnis.

Auch schlechtere  Lernprozesse, die durch Blockaden des unterbewussten Denkens entstehen, können eine Ursache für Dyskalkulie sein. Solche Blockaden werden durch traumatische Ereignisse oder Krankheiten in der frühen Kindheit, aber auch durch Schlafmangel ausgelöst. Unerkannte Linkshändigkeit und die damit verbundenen Probleme im räumlichen Denken und gedanklichen Durchführen von Handlungen werden ebenfalls immer wieder in Verbindung mit mathematischen Lernschwächen gebracht.

Untersuchungen beweisen, dass der vorschulische Rückstand eines Kindes mit großer Wahrscheinlichkeit auch in der Schulzeit erhalten bleibt. Andere Untersuchungen (auch eigene) zeigen aber im Umkehrschluss, dass eine vorschulische Förderung hingegen auch schwächere Kinder gut auf den späteren Unterricht vorbereiten kann, sodass eine Dyskalkulie nicht auftreten muss.

Woran erkenne ich, ob mein Kind betroffen sein könnte?  

Es gibt viele mögliche Anzeichen für eine Dyskalkulie. Die folgenden Beobachtungen legen eine solche Rechenstörung nahe, ohne sie aber zu beweisen.

Allgemeine Anzeichen:

  • Wegen Mathematik kommt es zu Hause schnell zum Streit. Für andere Fächer gilt dies nicht.
  • Das Kind benötigt für Mathe-Hausaufgaben weitaus länger als für die anderen Fächer und wirkt dabei sehr unkonzentriert.
  • Viele mathematische Inhalte verschwinden schnell aus dem Gedächtnis, obwohl sie ständig geübt werden.

Fachliche Anzeichen:

Mitte der 1. Klasse:

  • Das Kind zählt noch nicht sicher bis 12. 
  • Rückwärts Zählen ist nur unter großer Mühe möglich.
  • Das Kind benutzt bei Plusaufgaben unter 10 die Finger so, dass beide Zahlen gezeigt werden und zählt für das Ergebnis alle Finger ab.
  • Das Kind kennt 2+2, 3+3 oder 5+5 nicht auswendig.
  • Das Kind kann nur mit Mühe -1 oder -2 rechnen

Mitte der 2. Klasse:

  • Das Kind zählt noch nicht zügig bis 20 und nicht flüssig ab 10 rückwärts.
  • Das Kind kennt einige Verdopplungsaufgaben wie 7+7 oder 9+9 nicht auswendig.
  • Das Kind verwendet beim Rechnen manchmal die Zehner so, als wären sie Einer. Beispiel: 45+47 ist 20, weil 4+4=8 und 5+7=12, und 8 und 12 zusammen 20 sind.
  • Extreme Schwierigkeiten beim Minusrechnen

Mitte der 3. Klasse:

  • Das Kind zählt schlecht bis 100. Vor Zahlen wie 40, 50 etc. muss das Kind lange überlegen.
  • Das Kind hat große Probleme, von Zahlen (unter 100) rückwärts zu zählen.
  • Das Kind kann nicht erklären, warum „drei mal vier“ 12 ergibt.
  • Das Kind schreibt dreistellige Zahlen mit vertauschten Einern und Zehnern. (Beispiel: „264“ für die Zahl „zweihundertsechsundvierzig“)
  • Das Kind rechnet fast alles zählend.
  • Sie haben Ihrem Kind das Untereinander-Rechnen beigebracht, bevor es in der Schule gelehrt wurde.

Mitte der 4. Klasse:

  • Das Kind rechnet die meisten kleinen Aufgaben (beim Untereinander-Rechnen) immer noch mit den Fingern.
  • Das Kind rechnet ausschließlich in den Reihen hoch, wenn es malrechnet.
  • Alle Probleme, die es in der dritten Klasse hatte, sind immer noch vorhanden.
  • Das Kind verweigert sich sehr stark in Mathematik. Die Leistungen in den anderen Fächern beginnen zu sinken.

Natürlich können bei Ihrem Kind diese Beobachtungen vorliegen, obwohl es keine Dyskalkulie hat. Aber Sie sollten hellhörig sein, wenn Sie Ihr Kind eben wiedererkannt haben.

Was soll ich tun, wenn mein Kind möglicherweise betroffen ist?

Suchen Sie das Gespräch mit der Klassenlehrerin und bitten Sie um eine schonungslose Einschätzung der Matheleistung Ihres Kindes. Normalerweise ist der erste Schritt, dass Ihr Kind eine zusätzliche schulische Förderung in Mathe bekommt. Falls diese Stunden aber keine Besserung bringen, sollten Sie an eine außerschulische Förderung denken.

In Deutschland wird eine außerschulische Förderung nach §35a im SGB VIII (Eingliederungshilfe) durch das Jugendamt bezahlt, wenn bestimmte Bedingungen erfüllt sind. Informieren Sie sich hierzu möglichst zeitnah beim Jugendamt, da der Weg von Antragsstellung über Diagnose bis zur Bewilligung meist mehrere Monate dauert.

Die Diagnose wird von einem hierfür zugelassenen Kinder- oder Jugendpsychiater oder -psychologen durchgeführt und beinhaltet einen mathematischen Teil und einen Intelligenztest. Für die Genehmigung einer Förderung durch das Jugendamt ist im Schreiben des Psychologen dann der Passus wichtig, dass „es aufgrund der Teilleistungsschwäche zu psychischen Behinderungen beim Kind kommen kann (bzw. dass diese bereits eingetreten sind)“.

Wenn in Ihrem Bundesland bzw. an der Schule Ihres Kindes die Möglichkeit eines Nachteilsausgleiches wegen Dyskalkulie besteht, sollte die Dyskalkulie natürlich ebenfalls diagnostisch abgesichert werden.

Eine Förderung Ihres Kindes sollten Sie in jedem Falle anstreben, da die Nachteile des Nicht-Rechnen-Könnens im Alltag erheblich sind. Ein mathematisches Grundverständnis ist zur Bewältigung des Alltags unerlässlich.

Was sind Merkmale einer guten Förderung?

Die Förderung muss sich an den Kenntnissen Ihres Kindes orientieren und nicht am aktuellen Unterrichtsstoff. Sie sollte flexibel auf Denkmuster eingehen und daher nicht aus einer Abfolge von Arbeitsblättern oder der unbeaufsichtigten Arbeit am Computer bestehen. Oft ist es nötig, dass erst einmal Grundlagen geschaffen werden, die mit dem Schulstoff gar nichts zu tun haben.

Angebote mit einer langen Vertragslaufdauer sind unseriös. Sie sollten als Eltern jederzeit die Möglichkeit haben, an Sitzungen teilzunehmen. Heimlichtuerei seitens der fördernden Einrichtung ist kein gutes Zeichen.

Fazit

Ein rechenschwaches Kind gibt sich unendlich viel Mühe. Es ist nicht faul. Ihm fehlen nötige Grundvoraussetzungen, um den Schulstoff zu verstehen. Es braucht zuallererst Verständnis für seine Situation und Hilfe, aber keinen Druck. Sein Zuhause muss ein Ort der Geborgenheit bleiben.

Dr. Hendrik Simon ist Dozent für Mathematikdidaktik an der Bergischen Universität Wuppertal, Diplommathematiker und Autor u.a. von Sachbüchern zum Thema Dyskalkulie. Mehr von Hendrik gibt es hier auf seiner Homepage  und auf Instagram .

Unterschiedliche Erziehungsstile als Elternpaar? – Erziehung gemeinsam gestalten und sich wertschätzen

„Natürlich sind wir einer Meinung, was die Erziehung unserer Kinder betrifft!“ denken wahrscheinlich viele Eltern, die die Sorge und Pflege der Kinder in der ein oder anderen Form teilen. Auf den zweiten Blick tun sich dann aber doch hier und da Unterschiedlichkeiten auf und an manchen Stellen kommt es gelegentlich auch zum Streit: „Ich habe doch aber gesagt, wir sollen es so tun und nicht anders!“ oder auch „Lies doch endlich mal die Bücher, die ich Dir gegeben habe, wir wollen unsere Kinder doch modern begleiten!“ oder „Nie hörst Du Dir meine Gedanken zur Erziehung an!“ – Elternschaft ist nicht nur deswegen manchmal schwierig, weil die Begleitung der Kinder Kraft und Energie kostet, sondern auch, weil sie nicht in einem luftleeren Raum stattfindet und wir uns mit Freunden, Verwandtschaft und eben auch dem anderen Elternteil verständigen müssen.

Der gegenseitige Schutzhafen

In Bezug auf unsere Kinder sprechen wir oft davon, dass wir der sichere Hafen für sie sind. Wir stellen Bindung her, indem wir ihnen Schutz, Fürsorge und Freiheit geben und sie durch schwierige und schöne Momente begleiten und sie dabei annehmen, wie sie sind. Sie wissen: Auch wenn ich meine Flügel ausbreite, kann ich in das Nest zurückkehren. Auch in einer Beziehung mit einem erwachsenen Menschen gehen wir eine Bindung ein und auch dort ist es wichtig zu wissen, dass wir aufgefangen werden können und der andere Elternteil ein sicherer Hafen sein kann. Es ist wichtig, dass wir als Person gesehen werden mit unseren Werten, Bedürfnisse, unseren (Lebens-)vorstellungen und Ideen. Es ist wichtig, dass wir wertgeschätzt werden als Personen in unserem Handeln und Sein.

Werten wir die andere Person ab, nehmen wir ihre Vorstellungen und Bedürfnisse nicht ernst, stören wir das Beziehungsgefüge. Das kann passieren, wenn wir uns nicht mit den Werten der anderen Person auseinander setzen wollen. Oder wenn wir uns in unserem Tun überlastet und nicht wertgeschätzt fühlen: „Selber Schuld, dass das Kind immer so an Dir klebt und abends so lange braucht zum Einschlafen!“ In einem solchen Konflikt wird nicht gesehen, wie anstrengend die Begleitung von Kindern sein kann und dass es nicht eine Frage der Schuld ist, dass das Kind nicht allein einschläft, sondern eine Frage der Erziehungshaltung.

Ganz besonders schwierig wird es bisweilen in ohnehin schon angespannten Situationen: Das Kind ist wütend – eine oftmals anstrengende Situation für Eltern. Vielleicht kann ein Elternteil mit der Wut des Kindes nicht gut umgehen, das belastet den anderen Elternteil und auch die Beziehung. Oder sie haben gleiche oder unterschiedliche Lösungsstrategien (Wut und/oder Ohnmacht) und behindern sich dadurch im Umgang, sind also keine Sparringspartner in schwierigen Situationen. Die große Frage, die sich daraus ergibt, heißt also: Wann sollten Eltern übereinstimmen, und müssen sie es in Hinblick auf Erziehung überhaupt – oder ist es egal?

S. Mierau (2019): „Mutter.Sein. Von der Last eines Ideals und dem Glück des eigenen Wegs.“ S. 193

Unterschiedliche Wege gemeinsam betrachten und anerkennen

Es ist in Ordnung, wenn wir nicht immer einer Meinung sind als Eltern. Und auch dass wir unterschiedlich mit einzelnen Situationen der Kinder umgehen, ist ganz normal: Ein Elternteil kuschelt mit dem Kind bis es eingeschlafen ist, das andere liegt daneben und liest etwas. Ein Elternteil spielt gerne Gesellschaftsspiele, der andere bastelt lieber mit den Kindern. Ein Elternteil singt dem weinenden Kind etwas vor, der andere hält es „nur“ im Arm. Wir können unterschiedliche Wege gehen und dennoch zugewandt und liebevoll sein in den verschiedenen Wegen. Kinder lernen hiervon auch, dass es unterschiedliche Wege gibt, um Gefühle auszudrücken oder mit Situationen umzugehen. Es ist eine Bereicherung für sie, dass Eltern nicht immer alles gleich machen müssen.

Wichtig ist allerdings, dass wir in den grundlegenden Punkten übereinstimmen und in den Austausch kommen, wenn wir große Unterschiede feststellen, denn diese Unterschiede können auf Dauer zu Problemen werden. Wenn ein Elternteil die Kinder stärker bedürfnisorientiert begleitet, fordern die Kinder selbstverständlich von diesem Elternteil auch mehr Begleitung ein: Die Lastenverteilung kommt in ein Ungleichgewicht und ein Elternteil wird mit der Begleitung der Kinder mehr belastet.

Auch wenn Eltern grundlegend in ihrer Ausrichtung übereinstimmen, kann es zu unterschiedlicher Bevorzugung der Eltern kommen und zeitweise wird ein Elternteil (oft jenes, das mehr anwesend ist oder in einem konkreten Fall eher die konkreten Bedürfnisse erfüllt) bevorzugt. Stimmen beide Eltern in der grundlegenden Haltung jedoch überein, haben sie Verständnis dafür und fangen sich gegenseitig auf und teilen Lasten. Wendet sich ein Elternteil nun an den anderen, um aufgefangen zu werden, die eigene Not zu teilen und wertgeschätzt zu werden, kann dieser positiv darauf eingehen, wertschätzen und versuchen, zu entlasten.

Es kann aber auch passieren, dass der andere Elternteil kein Verständnis für die Bedürfniserfüllung des anderen zeigt, diesen zurückweist und mit der Last allein lässt. So erfolgt weder eine Entlastung, noch eine Wertschätzung. Der Elternteil, der das Kind begleitet, ist mit der emotionalen Last der Begleitung allein und bekommt hierfür keine Wertschätzung oder Anerkennung. Das Gefühl, in der Beziehung aufgefangen zu werden, ist nicht gegeben. Weiterer ungünstiger Effekt kann sein, dass der Elternteil, der von den Kindern weniger beansprucht wird, sich abgelehnt und ausgegrenzt fühlt und dafür die andere Erwachsenenperson mit ihrer Erziehungshaltung verantwortlich macht: Ein ungünstiger Kreislauf, der zu gegenseitigen Vorwürfen und Überlastungen führt.

Miteinander reden

Es klingt so einfach, und ist doch so schwer: Als Eltern müssen wir miteinander reden. Und nicht nur das: Wir sollten versuchen, gleichermaßen die Bedürfnisse von Kindern zu begleiten und zu erfüllen. In der Ausgestaltung kann das durchaus unterschiedliche sein, aber in der gleichwertigen Beantwortung sollten wir uns austauschen. Und auch wenn es manchmal einfacher erscheinen mag, sitzen zu bleiben, weil der andere Elternteil gerade angefragt wird, sollten wir dennoch aufstehen und das Bedürfnis des Kindes begleiten, wenn die andere erwachsene Person schon beim letzten Mal dran war/gerade erschöpft ist/einfach auch mal eine Pause macht. Wir können uns ergänzen und gegenseitig halten. Beide Elternteile können für alle Bedürfnisse Ansprechpartner*in sein und sich abwechseln, um einer Überforderung einer Person vorzubeugen und gleichzeitig die Wertschätzung des anderen nicht aus den Augen zu verlieren. Gerade im oft anstrengenden Leben mit Kindern tut es gut, sich anlehnen zu können an andere Menschen und aufgefangen zu werden, wenn wir es brauchen. Auch als Erwachsene brauchen wir einen sicheren Hafen, den wir ansteuern können, wenn es gerade schwierig ist.

Eure

Zur Autorin:
Susanne Mierau ist Diplom-Pädagogin (Schwerpunkt Kleinkindpädagogik) und Familienbegleiterin. Sie arbeitete an der FU Berlin in Forschung und Lehre, bevor sie sich 2011 im Bereich bedürfnisorientierte Elternberatung selbständig machte. Ihr 2012 gegründetes Blog geborgen-wachsen.de und ihre Social Media Kanäle sind wichtige und viel genutzte freie Informationsportale für bedürfnisorientierte Elternschaft und kindliche Entwicklung. Susanne Mierau gibt Workshops für Eltern und Fachpersonal und spricht auf Konferenzen und Tagungen über kindliche Entwicklung, Elternschaft und Familienrollen.

Foto: Ronja Jung für geborgen-wachsen.de

Weiterführende Literatur*:
Mierau, Susanne (2019): Mutter.Sein. Von der Last eines Ideals und dem Glück des eigenen Wegs. Weinheim: Beltz.
Becker-Stoll, Fabienne (2018): Bindung. Eine sichere Basis fürs Leben. München: Kösel.
Mik, Jeannine/Teml-Jetter, Sandra (2019): Mama, nicht schreien! Liebevoll bleiben bei Stress, Wut und straken Gefühlen. München: Kösel.

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Konfliktsituationen zwischen Kindern begleiten mit Gewaltfreier Kommunikation

Janine Ringel hat zusammen mit ihrem Mann Stephan Ringel einen kleinen Kindergarten in Lübeck gegründet auf Basis einer Kindertagespflegestelle. Sie haben sich ein eigenes Konzept ausgedacht für den Kindergarten, das insbesondere die Gewaltfreie Kommunikation nach Marshall B. Rosenberg in den Blick nimmt. Wie genau dies in Konflikten zwischen Kindern im Alltag umgesetzt wird, erklärt Janine:

Grundsatz: Es gibt keine Schuld und damit auch keine Strafe 

Wir gehen davon aus, dass jedes Kind/jede Person in jeder Situation auf die Art und Weise reagiert, wie es ihm momentan auf Grundlage seiner Gefühle und Bedürfnisse möglich ist. Auch ein Verhalten wie hauen, schubsen, beleidigen etc. ist damit zunächst einmal nur der „tragische Ausdruck eines unerfüllten Bedürfnisses“.

Ein Konflikt bedeutet zunächst einmal: Bedürfnisse auf beiden Seiten sind gerade nicht erfüllt. Es ist für uns also zweitrangig, wer den Streit begonnen hat oder herauszufinden, wer in welcher Weise „Schuld“ an der momentanen Situation hat. Wenn wir mit Schuld und Strafe arbeiten, kommen wir nicht in Verbindung zueinander, sondern wir entfernen uns voneinander und schaffen eine Barriere. Und wir sehen die Kinder nicht wirklich in dem, was sie brauchen. Bedürfnisorientiert zu handeln heißt für uns auch das: Was brauchst du jetzt gerade und in Zukunft, um in solchen Situationen andere Handlungsmuster zur Verfügung zu haben? Und wie kann ich dir jetzt gerade helfen, deinen Schmerz zu lindern? Ein weiterer Grundsatz lautet: Keiner ist für den Ärger des Anderen verantwortlich. Es gibt bei uns kein „Ich bin wütend, weil du…“. Marshall Rosenberg nennt das „eine Trennlinie zwischen Auslöser und Ursache ziehen“. Es macht uns wütend, was gerade passiert ist, aber nicht die Person selbst. 

Wir sind für beide Kinder da 

Wir sehen bei einem Konflikt grundsätzlich beide Seiten. Wir trösten beide Kinder in ihrer Wut, Trauer und Verletzung. Wir machen bewusst, was das jeweilige Verhalten im anderen Kind und im Kind selbst ausgelöst hat, aber ganz ohne Schuldzuweisungen.Wir bitten beide Kinder, vor Ort zu bleiben, um die Situation klären zu können. Manchmal braucht ein Kind kurz Zeit, um sich darauf einzulassen, verlässt die Situation, um sich zu beruhigen und kommt dann wieder zu uns zurück. Auch das ist vollkommen in Ordnung. 

Lösungsprozess 

Sobald etwas Ruhe eingekehrt ist, haben wir auch meist durch das Spiegeln und im Gesehen-Sein den Sachverhalt erfasst. Wir fassen unsere Beobachtungen nochmal zusammen (auch paraphrasieren genannt) und versuchen zu verstehen, welche Gefühle und Bedürfnisse bei beiden Kindern zum jeweiligen Verhalten geführt haben. Wir versuchen, Verständnis und Empathie für beide Seiten aufzubauen, indem wir beide fragen: „Wie fühlst du dich jetzt? Wie fühlst du dich, wenn du siehst, wie es dem anderen damit geht?“ 

Manchmal, gerade bei kleineren Kindern, reicht dieser Schritt häufig schon aus – allein die Erkenntnis, wie es dem anderen geht, genügt, um wieder in Verbindung zu kommen. Zu erkennen, dass auch das Gegenüber sich unwohl fühlt, traurig und unzufrieden ist. Dann gelingt es häufig gemeinsam, auch ohne meine/unsere Hilfe, einen Konsens zu finden. Wenn das an dieser Stelle noch nicht der Fall ist, fragen wir danach, welche Bedürfnisse in diesem Moment wohl nicht erfüllt waren. Was war für dich gerade ganz wichtig und warum haben evtl. Lösungsvorschläge nicht gepasst? 

Manchmal ist es das Bedürfnis der Gemeinschaft, Zugehörigkeit und Verbindung, was durch gemeinsames Spielen gedeckt werden würde, manchmal das nach Kreativität, nach Autonomie… Wenn wir das Bedürfnis erkannt haben, können wir gemeinsam eine Lösung finden: zusammen mit einem (vielleicht gerade noch umkämpften) Spielzeug spielen, ein anderes finden, was dem Bedürfnis nach Kreativität etc. entspricht, ein Spiel mit einem anderen Kind beginnen, wenn es um 

Gemeinschaft ging etc. Daraus lassen sich dann wiederum Bitten und Lösungswege ableiten: „Können wir jetzt etwas zusammenspielen? Kannst du mir ein Buch vorlesen, weil ich noch ein bisschen traurig bin? Ich möchte gerade noch allein sein und kuschel mich lieber noch mit einer Decke und einem Puzzle aufs Sofa“ 

GFK: Das dauert doch so lange 

Viele Menschen glauben, dass gewaltfreie Kommunikation ein langwieriger Prozess ist. Und: ja, es dauert ein bisschen länger als übliche Verfahren in Konfliktsituationen. Wir haben jedoch festgestellt: die Atmosphäre unter den Kindern ist eine völlig andere. Sie spüren, dass sie ein Teil einer kleinen Gruppe sind, in dem jeder zählt, jeder gesehen wird und jeder sein darf wie er ist. Sie spüren, dass hier alle Emotionen ihren Platz haben. Sie dürfen sich frei und in Liebe begleitet entfalten. Wir sehen häufig, wie schon 2 1⁄2 jährige bei uns Wege finden, Konflikte zu lösen und Lösungsalternativen vorzuschlagen. Sie lernen sich besser kennen und können benennen, was in ihnen vorgeht- wie fühle ich mich gerade? Was hätte ich gebraucht in dieser Situation? Je nach Alter benötigt es natürlich mehr oder weniger Begleitung, vor allem, um ihnen Wörter an die Hand zu geben, für das, was in ihnen und im anderen vorgeht. 

Zu guter Letzt 

Wir erziehen nicht für ein schnelles Resultat. Auch nicht dafür, dass das Kind aus Angst vor Strafe oder Zurückweisung seine Emotionen und Bedürfnisse zurückstellt. Wir unterstützen darin, dass Kinder die wir begleiten zu Menschen heranwachsen können, die Entscheidungen aus sich heraus treffen, empathisch, stark und selbstbewusst, nicht aus Angst vor Strafe sondern aus ihrem eigenen inneren Antrieb heraus. 

Janine Ringel ist Sozialpädagogin (BA) und Mutter von zwei Kindern (2014 und 2017 geboren). 2017 hat sie zusammen mit ihrem Mann den kleinen, bindungsorientierten, auf Achtsamkeit und GFK basierenden Kindergarten „Farbtupfer“ in Lübeck für Kinder von 2-6 Jahren gegründet und arbeitet darüber hinaus in der Elternberatung. Sie ist ausgebildet in gewaltfreier Kommunikation nach M.B.Rosenberg. Mehr von Janine findet Ihr auf auf  farbtupfer.org oder hier   auf Instagram.


Effizienzdenken zuhause lassen: Naturverbundenheit braucht elterliche Begeisterung

Ein Studienkollege verbrachte seine Freizeit mit Spuren- und Fährtenlesen und brachte sich selbst bei, Feuer zu machen. Ich beobachtete ihn und fand sein Tun – um ehrlich zu sein – ein wenig verspielt und albern. Fast alle in unserem Umfeld waren Studierende aus dem Bereich Naturschutz und Landschaftsplanung und machten sich dementsprechend Gedanken zum Zustand der flurbereinigten Landschaft und zu den irreparablen Schäden, die die Natur durch menschliches Tun schon fortgetragen hat.

Wir waren in der Feldarbeit aktiv, zählten Schmetterlinge und fanden über den gesamten Sommer hinweg nur 11 Arten. Wir blickten uns an unserem Studienort in Sachsen-Anhalt um, und sahen ringsum nichts als riesige Ackerschläge. Wir hatten Ideen, was es braucht, um die Natur zu “retten”. Aber ein Büschel Stroh nehmen und tagelang nach einem Feuerstein suchen, um selbst Feuer zu machen? Im Freien Biwakieren und mit leuchtenden Augen zurückkommen und von Wildschweinspuren berichten? Wie sollte das der Natur helfen?

Wachsendes Natur-Defizit durch Unsicherheit der Eltern

Als ich anfing, meine Stimme zu nutzen, um die Aufmerksamkeit auf den Zustand der Natur zu lenken, stolperte ich über immer mehr Fragen. Ich las von Kindern, die kein Interesse daran haben, draußen zu spielen. Ich hörte Eltern zu, die stolz von Spielzeug erzählten, das die Kinder so lange beschäftigt hält, dass sie nicht mehr in den Park gehen wollen.

Eltern in unserem Umfeld kamen auf mich zu, weil sie Angst hatten, ihr Kind in der Wiese krabbeln zu lassen. “Welche Gefahren lauern in der Natur?”, fragten sie mich. “Was, wenn es sich etwas in den Mund steckt?” Mit der Zeit und immer mehr Artikeln, die ich zu diesem Thema schrieb, kristallisierten sich zwei Fragen heraus. 

Wie bringt man Eltern dazu, mit ihren Kindern rauszugehen?

und

Wie weckt man das Interesse der Kinder, die Natur spannend zu finden?

Antworten auf diese Fragen zu geben, ist meiner Meinung nach der Schlüssel, um dem Natur-Defizit-Syndrom der heutigen Kindergeneration entgegenzuwirken. Der Begriff “nature deficit disorder” kommt aus den USA und beschreibt die zunehmende Entfremdung von Kindern und Jugendlichen, aber auch der gesamten Gesellschaft, von natürlichen Prozessen und gleichzeitig das Schwinden von Artenkenntnis und Wissen.

Naturverbundenheit: kein weiterer Punkt auf der To-Do Liste

Der Trend geht zur “terra incognita”, zur unbekannten Natur. Ähnlich dem australischen Kontinent im 16. Jahrhundert für Seefahrer wird die Natur zum unbekannten Land. Im Hinblick auf den Zerstörungsgrad, den wir der Erde mit dem Beginn der industriellen Landwirtschaft eingebracht haben und auch im Hinblick auf das Fehlen der Naturerfahrungen für unser Wohlbefinden, brauchen wir eine Rückkehr zur Natur. Doch die wird es nicht geben, wenn Naturverbundenheit ein weiterer Punkt auf der „Was Eltern auf gar keinen Fall verpassen dürfen“-Liste wird. Der Druck, der auf uns Eltern lastet, ist groß genug. Kindern zusätzlich noch eine möglichst diverse und ausgeprägte Naturerfahrung zu organisieren, sollte nicht Teil davon sein. 

Für Naturverbundenheit braucht es kein pädagogisch wertvolles Programm. Es ist natürlich toll, wenn es ein solches Programm gibt und wer eins vor der Haustür hat, soll es gerne wahrnehmen. Aber einmal im Jahr am Samenbomben-Basteln teilnehmen, wird keinen spürbaren Unterschied für die Kinder zu ihrem Platz im Ökosystem machen. Statt Termine sind es Nicht-Termine, die dabei helfen: Zeit. Naturverbundenheit zu spüren braucht Zeit. Zeit für Beobachtungen in der Natur. Zeit für Fährtenlesen und Vogelstimmen-Zählungen. Zeit für Bestimmungs-Apps und Müllsammeln im Stadtwald. Zeit für Geocaching, für Verstecken spielen und Lager bauen und Stöcke schnitzen. Zeit für Sammeln und Lagerfeuer, für Spiele bei jedem Wetter, für Baumfreundschaften und Fackelwanderungen. 

Ich weiß, Zeit ist ein seltenes Gut für Eltern. Zwischen Beruf, Haushalt, Abholzeiten, Kinderbetreuung und Partnerschaft jetzt auch noch Zeit für Draußensein einzuräumen, mag wie viel verlangt erscheinen. Diese Zeit draußen kommt jedoch in gleichem Maße den Eltern zugute. Studien haben ergeben, dass allein der Anblick der Natur dazu führt, Pulsschlag und Stresshormone* zu senken. Der Zugang zu Grünflächen führt zu allgemein verbesserter Gesundheit** und während die Bewohner eines waldreichen Gebietes eine niedrigere Sterberate*** vorweisen und seltener an Krebs erkranken, nehmen Krankheiten in Gebieten, wo die Natur zurückgeht****, zu. 

Auch ohne dass wir diese Studien gelesen haben, wissen wir, dass uns Natur gut tut. Doch wenn es um Naturerfahrungen für unsere Kinder geht, geben wir uns mit einem einfachen Spaziergang ohne viel Brimborium zufrieden? Sollten sich die Kinder nicht draußen erst einmal austoben anstatt „Sitzwache“ zu halten und auf Geräusche und Bewegung in der Umgebung zu achten? Je nach Temperament des Kindes und Zeitpunkt schließt sich das auch aus. 

Die natürliche Umgebung selbst ist es, die zum freien, kreativen Spiel einlädt oder zur ruhigen, meditativen Achtsamkeit. Es braucht in einem natürlichen Umfeld kein Angebot, keinen Plan und keine Checklisten, was und wie lange ein Kind etwas tun sollte, um Naturverbundenheit zu spüren. Wir sollten (wieder-) erlernen, unseren eigenen Instinkten zu folgen und die Zeit draußen für das zu nutzen, was uns gut tut – Laufen, Horchen, Hinsehen, Nachdenken oder Stillsitzen. 

Aus der Effizienzspirale aussteigen

Andreas Weber postuliert in seinem Buch „Mehr Matsch! Kinder brauchen Natur“, dass das größte Hindernis auf dem Weg zur lebendigen Naturerfahrung wir Eltern sind. Er schreibt auf Seite 206: „Wir sind [zudem] Perfektionisten und wollen unseren Kleinen jedenfalls eine höchst professionelle Naturerfahrung bieten. Wir verfallen bei dem Gedanken „Natur“ schnell in unseren Reflex des Planes, Organisierens und Angebotrecherchierens, wo es doch so viel mehr um ein Innehalten und Lauschen geht. Um ein Zulassen, nicht ein Dirigieren. Um Offenheit – dieselbe, welche die Sinne unserer Kinder annehmen, wenn man sie nur den Geräuschen, Gerüchen, Farben und Temperaturen der freien Welt lange genug überlässt. Ich empfehle, um einmal probehalber unsere eigenen Sinne neu auszurichten, einen einzigen zentralen Wandel der Grundhaltung: Versuchen Sie nicht mehr das zu tun, was Ihnen nützlich vorkommt. Steigen Sie kurzfristig aus der Effizienzspirale aus.“

Mein Studienkollege machte es vor: Er hatte Spaß an der Natur, er erforschte sie auf vielerlei Arten. Er trat mit ihr in Verbindung. Und ganz natürlich versammelten sich Kinder um ihn und fragten ihn, was er tat, halfen ihm und lernten. Sie verbanden sich mit der Natur und gingen Abends durch das neu erlebte und erlernte Wissen mit leuchtenden Augen ins Bett: “Heute haben wir ein Abenteuer erlebt!”

Es ist nicht zwingend notwendig, zu wissen, wie man Feuer macht. Aber es ist für Kinder zwingend notwendig, eine Verbindung mit der Natur zu spüren. Neben allen entwicklungsbedingten, gesundheitlichen und psychologischen Vorteilen, ist die Verbindung mit der Natur elementar, um unsere und ihre Lebensgrundlage wertzuschätzen und zu erhalten. Die kindlichen Vorlieben müssen angesprochen werden, um Lust zu machen auf die Natur. Und da Kinder durch Vorbilder lernen, müssen auch wir Eltern wieder Lust auf Natur bekommen. Also: Auf was haben wir Eltern Lust? Wissen wir, wie man Feuer macht? Wollen wir es lernen? Dann sollten wir es tun. 

Eure

Veronika hat Biologie, Naturschutz und Landschaftsplanung studiert und ist Mutter einer Tochter. In ihrer Kolumne „Naturorientiertes Aufwachsen“ berichtet sie von Wegen, auf denen Kindern die Liebe und der Respekt zur Natur als Samenkorn mitgegeben werden können.  Mehr über Veronikas Arbeit und ihre aktuellen Texte zu grünen Themen findet ihr auf ihrer Homepage, Instagram oder Twitter.

Weiterführende Literatur:
* Moore EO (1981) A prison environment’s effect on health care service demands. Journal of Environmental Systems, 11: 17–34 
** De Vries S, Verheij RA, Groenewegen PP, Spreeuwenberg P (2003) Natural environments -healthy environments?An explora-tory analysis of the relationship between green space and health. Environment and Planning A 35: 1717–1731
*** Li Q, Kobayashi M, Kawada T (2008). Relationships between percentage of forest coverage and standardized mortality ratios (SMR) of cancers in all prefectures in Japan. The Open Public Health Journal 1, 1–7. 
****Donovan GH, Butry DT, Michael YL, Prestemon JP, Liebhold AM, Gatziolis D, Mao MY (2013) The relationship between trees and human health: evidence from the spread of the emerald ash borer. American Journal of Preventive Medicine 44: 139–145. 

Essen mit Kleinkindern – 4 typische Probleme und ihre Lösungen

Mit einem Kleinkind können Mahlzeiten manchmal zu einer Herausforderung werden. Gemütlich möchte man sich zusammen an den Esstisch setzen und das gekochte Essen verzehren, aber dann will das Kind nicht essen/schimpft/wirft das Essen hinunter/spielt mit der Mahlzeit. Schnell können die gemeinsamen Mahlzeiten dann zu einem Dauerproblem werden. Doch was können wir gegen die schwierigsten Tischprobleme unternehmen?

1. Mein Kind will nicht essen

In der Kleinkindzeit ist es nicht selten, dass gesunde Kinder nicht so essen wollen, wie wir es uns manchmal vorstellen. Auf einmal schmeckt dieses oder jenes nicht und sie haben auch keine Lust, davon zu probieren. Das als „Neophobie“ bezeichnete Ablehnen von neuen Speisen ist gar nicht so selten und sogar eine ganz sinnvolle Eigenschaft kleiner Kinder: Sie schützt davor, Unbekanntes unbedacht in den Mund zu stecken. Eigentlich eine wirklich gute Eigenschaft für die sonst abenteuerlustigen Kleinkinder. Nur gerade jetzt, beim gesunden Essen auf dem Tisch, macht das doch eigentlich keinen Sinn? Es hilft aber auch nichts, dem gerade mäkeligen Kind das Essen aufzuzwingen: Besser ist es, das Nahrungsmittel immer wieder anzubieten, auch mal in unterschiedlichen Arten (püriert, ganz, klein geschnitten, vermengt mit andere, geliebten Dingen,…) bis das Kind doch einmal probiert.

Es kommt auch vor, dass Kinder rund um eine Erkältung herum weniger essen oder gerade dann bestimmte Nahrungsmittel bevorzugen und beispielsweise besonders viele Proteine zu sich nehmen wollen oder in Zeiten, in denen sie besonders körperlich aktiv sind, Kohlehydrate bevorzugen. Nehmen wir also in den Zeiten, in denen nur bestimmte Dinge auf den Tisch kommen sollen, die aktuelle Entwicklung des Kindes in den Blick und nicht nur das Essverhalten. Oft gibt dies einen Aufschluss über das Essverhalten. Es kann auch helfen, die tatsächlichen Nahrungsmengen und -bestandteile in einem Protokoll festzuhalten – manchmal essen Kinder über den Tag verteilt so viele kleine Snacks, dass sie zu den Mahlzeiten keinen Hunger haben. Wird das Kleinkind noch gestillt, gibt es manchmal rund um Erkrankungen auch Phasen, in denen die Muttermilch wieder zur Hauptnahrungsquelle wird und anschließend wieder mit gutem Appetit zurückgedrängt wird. Die Beikostaufnahme erfolgt nicht linear, d.h. erst gibt immer wieder auch mal Rückschritte in der Beikostzeit.

2. Mein Kind spielt mit dem Essen

Beikost ist erstmal eine spielerische Annäherung an eine neue Ernährungsform. Kinder lernen neue Nahrungsmittel kennen und lernen nach und nach, dass auch diese sättigen. Dabei erfahren sie ganz neue Konsistenzen und Geschmäcker. Nahrungsaufnahme ist deswegen lernen und lernen erfolgt im Spiel. Kinder gehen deswegen oft neugierig an neue Speisen heran: sie riechen darin, befühlen sie, testen ihre Konsistenz mit den Händen und erst später mit dem Mund. All das ist normal und bedeutet nicht, dass das Kind niemals Tischmanieren entwickeln wird. Tischmanieren lernt es mit der Zeit nach und nach durch unser Vorbild, denn auch hier lernt es im natürlichen Alltag und eignet sich mehr und mehr das an, was es in seiner Umgebung sieht. Spielt das Kind besonders zum Ende der Mahlzeit mit dem Essen, nachdem es zunächst „normal“ gegessen hat, könnte es auch einfach satt sein (siehe Punkt 4).

3. Mein Kind „trotzt“ beim Essen

Auch das Essen ist ein Teil der wichtigen Lernerfahrungen der Kleinkindzeit. Kinder wollen auch hier ihre Fertigkeiten ausbauen. Mit dem Essen kann ganz besonders gut die Feinmotorik verbessert werden. Wichtig ist natürlich auch hier, dass Kinder wirklich beteiligt werden und sich aktiv einbringen können. Bieten wir ihnen nicht die Möglichkeit dazu, führt das oft zu Frustration und Ärger.

Konkret bedeutet das: Kleinkinder sollten nach ihren Möglichkeiten an der Zubereitung, am Tischdecken und Essen beteiligt werden: Sie können beim Zubereiten des Essens helfen, indem sie Bestandteile davon schneiden oder zusammen mischen können. Sie können helfen, den Tisch zu decken und später ihren Teller und das Besteck abräumen und in die Küche bringen. Sie können mit Kinderbesteck (Messer, Gabel, Löffel) essen und aus einem kleinen Glas selbst trinken. Mit einem kleinen Krug können sie sich selbst Wasser einschenken und mit einer kleinen Kelle auftun. Kleinkinder brauchen kein spezielles Kindergeschirr, sondern können von normalen Tellern essen. So vermitteln wir ihnen, dass sie ebenso sicher und gut am Essen teilnehmen können wie alle anderen. Vielleicht geht gelegentlich etwas kaputt, oft aber fallen dort, wo echtes Geschirr verwendet wird, seltener Teller und Gläser zu Boden als dort, wo Kinder erfahren, dass das Werfen keinen Einfluss auf die Dinge nimmt.

4. Das Kind wirft Dinge auf den Boden

Und wenn das Kind nun doch Teller, Besteck oder Essen auf den Boden wirft? Wir kennen es manchmal aus der Babyzeit: Die Freude daran, zu sehen, dass Dinge nach unten fallen. Kleinkinder haben dieses Spiel aber eigentlich schon überwunden. Oft werfen sie deswegen nicht wegen des Interesses an der Physik, sondern weil sie etwas anderes ausdrücken möchten mit ihrem Verhalten: Ich will nicht mehr! Für Kleinkinder ist es oft noch schwer, sich sprachlich auszudrücken und auch am Tisch fehlen noch oft noch so einige Worte. Während das Kind beim Füttern durch Abwenden zeigt, dass es fertig ist, ist es beim selbständigen Essen manchmal schwierig. Nehmen die Eltern nicht wahr, dass das Kind eigentlich satt ist, und bleibt das Kind vor dem Teller sitzen, wird ihm langweilig: es beginnt zu spielen und eventuell damit, Essen oder Besteck auf den Boden zu werfen. Lernt es nach wiederholtem Herunterwerfen vielleicht sogar, dass Teller und Besteck abgeräumt werden, wenn es Dinge herunter geworfen hat, erscheint diese Handlung dem Kind logisch, um das Essen zu beenden und endlich weiter spielen zu können. Ein ungünstiger Kreislauf. Deswegen ist es auch beim Essen wichtig, auf die Signale des Kindes zu achten: Ist es satt, isst es nicht weiter, spielt auf dem Teller mit dem Essen herum, sollte das Essen beendet werden. Wir können noch einmal nachfragen und dann abräumen. Alternativ kann dem Kind auch ein Signal beigebracht werden, damit es auch ohne Sprache äußern kann, dass es satt ist. Das kann ein Signal mit den Händen sein (wie aus der Babyzeichensprache) oder einfach das Wegschieben des Tellers zur Tischmitte.

Essen ist eine sinnliche Erfahrung, die Kindern Freude machen sollte. Sie lernen gerade am Esstisch sehr viel in der Kleinkindzeit: Feinmotorik bildet sich aus, sie lernen Tischmanieren und das Essen ist immer auch ein soziales Miteinander. Eine positive Stimmung am Familientisch ist deswegen ein guter Baustein zum Ausbau dieser Fertigkeiten.

Eure

Zur Autorin:
Susanne Mierau ist Diplom-Pädagogin (Schwerpunkt Kleinkindpädagogik) und Familienbegleiterin. Sie arbeitete an der FU Berlin in Forschung und Lehre, bevor sie sich 2011 im Bereich bedürfnisorientierte Elternberatung selbständig machte. Ihr 2012 gegründetes Blog geborgen-wachsen.de und ihre Social Media Kanäle sind wichtige und viel genutzte freie Informationsportale für bedürfnisorientierte Elternschaft und kindliche Entwicklung. Susanne Mierau gibt Workshops für Eltern und Fachpersonal und spricht auf Konferenzen und Tagungen über kindliche Entwicklung, Elternschaft und Familienrollen.

Foto: Ronja Jung für geborgen-wachsen.de