Manchmal geraten wir mit unseren Kindern in einen herausfordernden Kreislauf, der sich nur noch schwer auflösen lässt: Alles erscheint anstrengend, jede Kleinigkeit wird zur Diskussion, das Kind wirkt übermäßig fordernd, laut oder provokant. Und die Eltern sind genervt vom eigenen Kind und fragen sich, was sie nur falsch gemacht haben. Schnell kommen dann Gedanken auf wie: „Jetzt darf ich bloß nicht nachgeben, sonst hat es gelernt, dass es mit diesem Verhalten durchkommt!“ Doch genau hier lohnt es sich, innezuhalten und genauer hinzuschauen, was jetzt wirklich benötigt wird: mehr Struktur und Orientierung von den Eltern oder mehr Nähe, Wärme und ein wohlwollender Blick?
Sucht das Kind Aufmerksamkeit?
Das, was wir als nervig erleben, ist in einigen Fällen ein Ausdruck eines tieferen Bedürfnisses nach Bindung und Selbstwertschutz. Kinder wollen gesehen werden, wollen spüren, dass sie wertvoll und wichtig sind. Und zwar nicht erst, wenn sie besonders laut oder auffällig werden. Verbindung, Wahrgenommenwerden, echte Zuwendung sind für sie so existenziell wie Nahrung und Schlaf. Und manchmal hat sich einfach ein Muster eingeschlichen, bei dem diese Verbindung im Alltag zu kurz gekommen ist, das das Gefühl, gesehen und wertgeschätzt zu werden, stört: weil wir gestresst sind von dem übervollen Alltag, weil wir vielleicht in diesem Entwicklungsalter des Kindes auch wenig Interesse von den eigenen Eltern in Bezug auf unsere Themen erfahren haben, weil zu wenig gemeinsame Zeit bleibt oder weil alte Erziehungsgedanken uns einflüstern, wir müssten jetzt streng bleiben.
Das emotionale Thermostat neu einstellen
Der Psychologe Oliver James hat dafür schon vor über zehn Jahren einen besonderen Ansatz vorgeschlagen. Er nannte ihn „Love Bombing“ und meinte damit keinen Trick, um Kinder gefügig zu machen, sondern einen bewussten Neustart für die Beziehung. Die Idee ist, das „emotionale Thermostat“ neu einzustellen – bei Eltern und Kindern. Dafür braucht es eine Zeit, die nur dem Miteinander gehört. Eine Zeit, in der dein Kind bestimmen darf, was ihr macht, in der ihr spielt, kocht, zusammen seid, ohne Druck, ohne Korrekturen, ohne Blick auf Probleme. Ein Nesttag. Wichtig ist, dass du in dieser Zeit dein Kind wirklich siehst, dass du die schönen Momente bewusst wahrnimmst und verinnerlichst, wie wunderbar dein Kind ist.
Das klingt einfach und kompliziert zugleich, aber es kann eine enorme Wirkung entfalten. Es geht nicht um ein oberflächliches Loben oder darum, „mal nett zu sein“. Es geht darum, Beziehung neu zu spüren. Dein Kind darf erleben, dass es wertvoll ist, dass es gehört und respektiert wird. Und du darfst wieder ins Fühlen kommen und dich daran erinnern, wie schön es ist, mit deinem Kind zusammen zu sein jenseits von Konflikten und Alltagssorgen.
Wenn dir dein Kind also im Alltag manchmal unglaublich nervig vorkommt, wenn dich das Verhalten an deine Grenzen bringt, dann kann genau dieser bewusste Schritt zurück in die Verbindung helfen. Nicht, um das Verhalten deines Kindes zu korrigieren, sondern um euch beiden eine neue Erfahrung zu schenken: Ihr gehört zusammen, ihr seid wichtig füreinander, und ihr könnt euch wieder mit Wärme und Wertschätzung begegnen.
Eure

Zur Autorin:
Susanne Mierau ist Diplom-Pädagogin (Schwerpunkt Kleinkindpädagogik) und Familienbegleiterin. Sie arbeitete an der FU Berlin in Forschung und Lehre, bevor sie sich 2011 im Bereich bedürfnisorientierte Elternberatung selbständig machte. Ihr 2012 gegründetes Blog geborgen-wachsen.de und ihre Social Media Kanäle sind wichtige und viel genutzte freie Informationsportale für bedürfnisorientierte Elternschaft und tragen seit über 10 Jahren maßgeblich zur Verbreitung bedürfnisorientierter Erziehung bei. Susanne Mierau gibt Workshops für Eltern und Fachpersonal und spricht auf Konferenzen und Tagungen über kindliche Entwicklung, Elternschaft und Familienrollen.
Foto: Ronja Jung für geborgen-wachsen.de