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Wie Kinder Selbstregulation lernen

Der Begriff „Selbstregulation“ ist gerade viel zu hören, spätestens seit die Nationalen Akademie der Wissenschaften Leopoldina vorgeschlagen hat, die Förderung der Selbstregulationskompetenzen zu einer Leitperspektive des Bildungssystems zu machen. Schnell denkt man dabei an „Beruhigung“. Aber ganz so „einfach“ ist es nicht: Selbstregulationskompetenz besteht aus mehreren Facetten.

Was ist eigentlich Selbstregulationskompetenz?

Selbstregulation meint die Fähigkeit, sich so zu steuern, dass man mit dem zurechtkommt, was das Leben im Moment abverlangt und gleichzeitig den eigenen Zielen treu bleibt. Für Kinder heißt das: Aufmerksamkeit bündeln, Frustration aushalten, Impulse sortieren, Entscheidungen treffen, die jetzt und später sinnvoll sind. Es geht um bewusstes Handeln, das auf Wahrnehmung, Wahl und Reflexion basiert.

Wichtig: Selbstkontrolle ist nur ein Teil der Selbstregulation. Genauso bedeutsam sind Gefühlskompetenz, flexible Zielanpassung, Perspektivwechsel und das Wissen, wie man sich selbst unterstützen kann.

Mehrere Ebenen arbeiten zusammen

Für Selbstregulation müssen verschiedene Fähigkeiten zusammenspielen: kognitiv (Informationen zum Sachverhalt erfassen, Arbeitsgedächtnis nutzen, kognitiv flexibel umschalten, Impulse hemmen), emotional (Gefühle wahrnehmen, benennen und so beeinflussen, dass sie nicht überrollen), motivational (Ziele auswählen, Prioritäten klären, dranbleiben gestützt durch Selbstwirksamkeit), und sozial (Verhalten in Beziehung zur Umgebung denken, Reaktionen anderer verstehen, Konflikte verhandeln, Hilfe annehmen).

Vorteile von Selbstregulationskompetenz

Durch all diese Prozesse ist es möglich, den eigenen Handlungsspielraum zu vergrößern: Mit der Umwelt kann bewusst umgegangen werden, Aufmerksamkeit und Gefühle können bewusst gestaltet werden, wodurch es leichter ist, zu lernen, Stress zu verarbeiten und Beziehungen zu gestalten. Studien zeigen, dass Selbstregulationskompetenz mit dem psychischen Wohlbefinden, körperlicher Gesundheit, Bildungserfolg und sozialer Teilhabe in Verbindung steht.

Wie Selbstregulationskomepetenz entsteht

Durch die Aufzählung all der Bausteine wird schnell klar: Das können Kinder nicht von heute auf morgen. Sie entwickelt sich über Jahre, zuerst in Co-Regulation mit nahen Bezugspersonen, dann zunehmend eigenständig. Babys sind zunächst auf uns angewiesen: Wir regulieren, spiegeln Empfindungen, geben Worte und zeigen Wege. Kleinkinder probieren eigene Strategien, lernen durch Begleitung und kognitive Reifung. Im Kindergarten- und Grundschulalter wird im Kopf geplant, Zwischenschritte werden gemerkt, Strategien gewählt: hier wächst auch Metakognition (über das eigene Lernen nachdenken). In der Jugend wird es dann komplexer: intensivere Gefühle, Peer-Dynamiken, größere Ziele – all das muss integriert werden. Das Gehirn reift in den dafür wichtigen Bereichen bis in die 20er Jahre.

Was Kinder von uns brauchen

Was Kinder von uns brauchen sind: Verständnis, Entwicklungsraum und Begleitung, feinfühlige Beziehungen, Unterstützung, Autonomie- und Kompetenzerleben – das fördert Selbstregulation nachweislich. Strukturen geben Orientierung, ohne einzuengen. Unsere Sprache hilft dabei: Gefühle benennen, nächste kleine Schritte planen, Strategien besprechen. Vorleben wirkt dabei stärker als Vortragen: Wie wir mit eigenen Gefühlen, Fehlern und Pausen umgehen, prägt. Und auch der Kontext ist wichtig: Schlaf, Bewegung, Ernährung, außerfamiliäre Betreuung und Schule, Stress und Armutserfahrungen beeinflussen die Entwicklung des Kindes.

Eine Langzeitaufgabe der vielen kleinen Momente

Selbstregulation ist kein Projekt, das man schnell abhakt. Man kann nicht eine Einheit „Selbstregualtion“ jeden Tag einbauen und hoffen, dadurch allein würde sich dieser komplexe Prozess entwickeln. Sie wächst im Alltag in den vielen kleinen, unaufgeregten Momenten zwischen Nähe und Autonomie, Struktur und Freiheit, Üben und Nachsicht. Wenn wir den Blick von „mein Kind soll sich zusammenreißen“ hin zu „mein Kind lernt gerade, sich innerlich zu steuern“ verschieben, handeln wir automatisch hilfreicher: weniger Druck, mehr Begleitung; weniger Bewertung, mehr gemeinsame Lösungswege. So entsteht das, worum es im Kern geht: ein inneres Navigationssystem, das Kinder sicherer durch ihre Welt trägt, heute und morgen.

Eure

Zur Autorin:
Susanne Mierau ist Diplom-Pädagogin (Schwerpunkt Kleinkindpädagogik) und Familienbegleiterin. Sie arbeitete an der FU Berlin in Forschung und Lehre, bevor sie sich 2011 im Bereich der Elternberatung selbständig machte. Ihr 2012 gegründetes Blog geborgen-wachsen.de und ihre Social Media Kanäle sind wichtige und viel genutzte freie Informationsportale für Eltern, die Kinder bindungssicher begleiten und die eigenen Bedürfnisse dabei nicht aus dem Blick verlieren wollen. Susanne Mierau gibt Workshops für Eltern und Fachpersonal und spricht auf Konferenzen und Tagungen über kindliche Entwicklung, Elternschaft und Familienrollen. Sie arbeitet in eigener Praxis in Eberswalde.

Foto: Ronja Jung für geborgen-wachsen.de

Lass dein Kind auch mal wegrennen

„Mein Kind rennt einfach immer weg und auch wenn ich ‚Stopp‘ rufe, hört es nicht.“ – Diese und ähnliche Aussagen höre ich immer wieder. Oft verbunden mit der Frage: Aber was mache ich nun, damit es nicht mehr wegrennt? Auch als Mutter kenne ich das – dieses Hinterherrennen. Diese Angst an der Straße. Ich kenne und benutze den Begriff „schützende Gewalt“ dafür, wenn ein Kind festgehalten werden muss, damit es nicht auf die Straße rennt oder in einen Fluss fällt oder ähnliches. Es ist anstrengend. Und wir wissen, dass Kleinkinder Gefahren nicht absehen können, dass sie Zeit nicht einschätzen können und nicht wissen, wie schnell ein Auto bei ihnen sein kann auf der Straße. Eltern wissen, dass sie sich den Mund fusselig reden müssen, um Kindern die Regeln dieser Welt zu erklären – immer und immer wieder über Jahre hinweg. Und gleichzeitig müssen wir auch noch andere Dinge in den Blick nehmen: die kinderunfreundliche Umwelt und den Umstand, dass Kinder sich auch erproben müssen – und dazu gehört auch der Umstand, sich allein zu fühlen und wieder Nähe herzustellen.

Wenn die Welt kinderfreundlicher wäre

Wenn Eltern mir von stressigen Situationen in Beratungen erzählen und wie sie sich als schlechte Eltern fühlen, weil sie ihre Kinder ständig ermahnen müssen oder „Nein“ sagen, frage ich sie, was sein müsste, damit sie anders handeln könnten. Oft kommt die Antwort, dass der Ort anders sein müsste. Sicherer. Für das Zuhause empfehle ich Eltern daher oft eine „Ja-Umgebung“, so dass sie möglichst wenig „Nein“ sagen und weniger in Anspannung sein müssen. Auch für Draußen lässt sich fragen, wie es sein müsste, damit man entspannter als Elternteil agieren kann. Und auch hier ist die Antwort oft: Sicherheit. Die geringe Kinder- und Familienfreundlichkeit macht es Eltern oft schwer, ihren Kindern die Freiheit einzuräumen zur freien Bewegung, die sie brauchen und eben auch einfordern. Das führt oft zu Konflikten aufgrund von elterlichen Ermahnungen: Die Vorstellung des jungen Kindes und der Eltern treffen aufeinander, das Kind kann jedoch die andere Perspektive noch nicht übernehmen und vom eigenen Bewegungsbedürfnis Abstand nehmen, woraus sich ein je nach Kind intensiverer Konflikt ergibt.

Ein anderes Beispiel für strukturelle Gewalt gegenüber Kindern ist der Straßenverkehr, der nicht nur eine Gefahr für Kinder darstellt, sondern zudem die Bewegungsfreiheit von Kindern einschränkt und ihre Möglichkeiten, sich selbständig (insbesondere in Städten) zu bewegen und unbegleitet mit anderen Kindern zu bespielen.

Susanne Mierau „Frei und unverbogen“

Kinderfreundlicher als Spielplätze in Straßennähe sind oft Naturorte wie Wald und Felder, wo sich Kinder nach ihrem Wunsch bewegen können – und auch einmal ein Stück weiter wegrennen oder sich verstecken können.

Außer Sicht sein ist nicht per se schlecht

Manchen Eltern fällt es allerdings auch schwer, das Kind aus dem Nahbereich zu entlassen. Eltern müssen immer wieder innerlich emotional mitwachsen mit der fortschreitenden Entwicklung des Kindes. Das bedeutet auch, dem Kind mehr Freiraum zuzugestehen für Selbständigkeit und Selbstwirksamkeit. Das ist ist nicht immer einfach. Besonders schwer kann es auch dann sein, wenn man selbst negative Erfahrungen gemacht hat, die einen auf die Welt mit Angst blicken lassen und überall Gefahren entdecken.

Doch Kinder brauchen die Möglichkeit, aus dem sicheren Hafen aufzubrechen zu Erkundungen und dann bei Bedarf wieder zurückkommen zu können in wohlwollende Arme. In diesem Kreislauf lernen sie gleichermaßen Selbständigkeit und Verbundenheit. Das Kleinkind hat bereits eine innere Präsenz der Bezugspersonen und weiß, dass diese weiterhin existieren, auch wenn sie gerade nicht in Sicht sind. Das Spiel mit der Rückkehr ermöglicht die Erfahrung, die Welt zu erleben und wieder aufgenommen zu werden. Und es ermöglicht, Sicherheit zu gewinnen: Die Welt ist ein guter Ort, in dem ich mich frei bewegen kann. Ich muss keine Angst haben.

Die Welt ist ‚gut‘, sie ist dem Kind mit seinem Forschungsdrag und dem Rückhalt seiner Eltern zu einem sicheren Ort geworden. […] Durch diese Art vorübergehender Trennung und dem ‚Wiederfinden‘ wird dem Kind die Welt, in der es lebt, zunehmend zum sicheren Ort.

Claus Koch „Schutzfaktor Bindung“

Anspannung selbst regulieren

Anstatt zu fragen „Wie kann ich mein Kind dazu bringen, nicht mehr wegzurennen und bei mir zu bleiben?“ können wir uns also auch fragen, warum das Wegrennen und Wiederkommen vielleicht gerade bedeutsam sind und wie wir dies gefahrlos in den Alltag integrieren können. Vielleicht können wir Orte schaffen oder finden, an denen das Wegrennen und Wiederkommen zelebriert werden kann, an denen auch ein Kleinkind sich einmal für einen kurzen Moment sicher verstecken kann, die Aufregung dieser Entfernung dann selbst in sich regulieren kann – bevor es wieder zurückkommt. Im Spiel des Wegrennens oder Versteckens wird schließlich nicht nur die Welt erkundet, sondern auch das eigene Innere: Wie fühlt sich das an, wenn gerade meine Bezugsperson nicht zu sehen ist und wie gehe ich damit um? Kann ich mein Gefühl regulieren? Brauche ich Hilfe und rufe nach jemanden? Renne ich zurück? Und werde ich dann wieder liebevoll aufgenommen und fühle mich sicher bei meiner Bezugsperson aber auch darin, dass diese mir erlaubt, die Welt zu erkunden?

Eure

Zur Autorin:
Susanne Mierau ist Diplom-Pädagogin (Schwerpunkt Kleinkindpädagogik) und Familienbegleiterin. Sie arbeitete an der FU Berlin in Forschung und Lehre, bevor sie sich 2011 im Bereich der Elternberatung selbständig machte. Ihr 2012 gegründetes Blog geborgen-wachsen.de und ihre Social Media Kanäle sind wichtige und viel genutzte freie Informationsportale für Eltern, die Kinder bindungssicher begleiten und die eigenen Bedürfnisse dabei nicht aus dem Blick verlieren wollen. Susanne Mierau gibt Workshops für Eltern und Fachpersonal und spricht auf Konferenzen und Tagungen über kindliche Entwicklung, Elternschaft und Familienrollen. Sie arbeitet in eigener Praxis in Eberswalde.

Foto: Ronja Jung für geborgen-wachsen.de

Elternschaft: Miteinander über Erziehung reden

Wenn Eltern merken, dass sie sehr unterschiedliche Erziehungsstile haben, richtet sich der erste Blick fast immer auf die Folgen für das Kind. Verständlicherweise geht es vielen Eltern um die Sorge, ob das Kind in seiner Entwicklung beeinträchtigt werden könnte durch die Unterschiede oder den jeweils anderen Erziehungsstil. Dabei gibt es oft zwei Richtungen der Befürchtungen: Wer stärker kontrollierend erzieht, macht sich Gedanken, ob das Kind zu wenig Grenzen erfährt. Wer feinfühliger begleitet, fragt sich dagegen, ob das Kind zu sehr eingeschränkt wird, zu wenig gesehen oder gewürdigt wird, oder ob es an Zuwendung mangelt, wenn die andere Bezugsperson eher unresponsiv reagiert. Was dabei jedoch häufig übersehen wird, sind die Folgen der Verschiedenen Ansätze für die Beziehung zwischen den Eltern und wie sich Streitigkeiten auf das Kind auswirken können. Natürlich ist es wichtig, das Wohlergehen des Kindes im Blick zu behalten. Doch mindestens ebenso entscheidend ist die Paarebene. Denn die Partnerschaft bildet einen wesentlichen Rahmen für das Familienleben und wirkt damit letztlich auch wieder auf das Kind zurück.

Unsichere Bindung = ungesund?

Ein wichtiger Aspekt vorab: Kinder können verschiedene Bindungen eingehen, die auch unterschiedliche Qualitäten haben. Auch wenn wir den sicheren Bindungen besondere Aufmerksamkeit schenken, sind ambivalente oder vermeidende Muster zunächst keine Störung, sondern Ausdruck kindlicher Anpassung an das Verhalten der Bezugspersonen. Sie sind nicht per se gefährlich für die Entwicklung, können aber beeinflussen, wie stressanfällig ein Mensch später wird. Um in späteren Zeiten stabile Beziehungen eingehen zu können, kann es hilfreich sein, dann einige erlernte Muster abzulegen und neue zu erlernen. Das ist möglich.

Für Eltern ist es weder hilfreich noch möglich, die Bindungsqualität fachlich einzuschätzen. Der Fokus auf die Bindungsqualität kann auch zu einem Druck werden und gegenseitige Vorwürfe zu noch mehr Differenz zwischen den Eltern führen. Hilfreicher ist es deswegen, auf das Miteinander und Wohlbefinden zu blicken: Wie geht es uns miteinander, sind wir gerne zusammen, welche Herausforderungen stellen sich uns wo? Und führen unsere Unterschiede im Umgang miteinander zu unterschiedlichen Belastungen?

Bewusstes oder unbewusstes Ausgleichen

Was oft weniger beachtet wird in Hinblick auf die Folgen unterschiedlichen Erziehungsverhaltens, ist der Umstand, dass die Unterschiede in der Erziehung Auswirkungen auf die Paarbeziehung haben können. Besonders in Hinblick auf den Mental und Emotional Load zeigt sich das oft deutlich: Das Kind sucht sich für Nähe, Zuwendung und Ko-Regulation meist die Bezugsperson, die es darin zuverlässig unterstützt. Dadurch kann eine ungleiche Verteilung von Belastungen entstehen. Wer mehr Wärme und Nähe gibt, trägt oft auch die Hauptlast, wenn es um die emotionale Begleitung des Kindes geht. Das kann zu Überforderung, Erschöpfung und Frustration führen.

Wenn dann noch die gefühlte Notwendigkeit hinzukommt, das vermeintlich fehlende Verhalten des anderen Elternteils zu kompensieren, verstärkt sich die Belastung. Sorge um das Wohlergehen des Kindes kann dazu führen, besonders ausgleichend oder unterstützend einzugreifen. Vielleicht wünscht man sich für das Kind, dass auch der andere Elternteil zugewandt und emotional agiert – dies vielleicht besonders, wenn man dies selbst vermisst hat als Kind. Vielleicht gibt es auch die Sorge, das gedachte Folgen der fehlenden emotionale Verbindung letztlich nicht dem anderen Elternteil, sondern einem selbst zugeschrieben werden. Die Ursachen dafür, einspringen, unterstützen oder auffangen zu wollen, können vielfältig sein. Durch die Überlastung an emotionalen Aufgaben und Erschöpfung kann auch das eigene feinfühlige Handeln leiden, was sich dann letztlich doch auf das Kind auswirken kann.

Schnell können Überlastung, Unzufriedenheit und ein Gefühl des Alleinzuständig-Seins in den Alltag einziehen. Auch das Kind spürt vielleicht die unausgesprochenen Differenzen, die Uneinigkeit und die Belastung und kann dadurch selbst Unsicherheit entwickeln.

Miteinander ins Gespräch kommen

Die gute Nachricht: Ihr müsst nicht in dieser Spirale bleiben. Unterschiedliche Erziehungsstile können nebeneinander und miteinander existieren. Wir können zudem niemanden von einem anderen Erziehungsstil überzeugen – weder in die eine, noch andere Richtung. Es muss eine Bereitschaft zur Veränderung vorliegen. Hilfreich kann es aber sein, miteinander ins Gespräch zu kommen über die Elternschaft, Ziele und Gedanken. Dadurch fällt es leichter, den anderen zu verstehen. Auch wenn Eltern nicht alles gleich machen, haben sie vielleicht in unterschiedlichen Bereichen Stärken, die sich ergänzen können. Durch Gespräche kann der Blick auf die Ressourcen gelenkt werden, statt auf die Differenzen. Aufgaben können aufgeteilt werden, wenn darüber gesprochen wird, welche Belastungen vorliegen. So kann Stress vermindert werden.

Es hilft, miteinander ins Gespräch zu gehen. Nicht in hitzigen Diskussionen, sondern in ruhigen Momenten, in denen ihr beide zuhören könnt. Erklärt eure Sichtweisen aus eurer eigenen Perspektive heraus, ohne Vorwürfe. Versucht, einen gemeinsamen Nenner zu finden, der für euch beide tragbar ist, und haltet eure Kompromisse fest, vielleicht sogar schriftlich, damit ihr später darauf zurückgreifen könnt. Gebt euch auch Zeit für Veränderungen. Vereinbart kleine Schritte, statt sofort eine perfekte Lösung zu erwarten. Achtet bewusst auf die positiven Seiten im Verhalten eures Partners oder eurer Partnerin, denn die sind meist genauso vorhanden wie die Punkte, die euch herausfordern. Und wenn ihr merkt, dass ihr allein nicht weiterkommt, scheut euch nicht, fachliche Unterstützung in Anspruch zu nehmen.

Klarheit zwischen Euch bringt auch Eurem Kind Sicherheit und Orientierung. Es kann spüren, dass die eigenen Eltern ein Team sind, in dem es durchaus auch Unterschiedlichkeit gibt, aber gemeinsame Ziele verfolgt werden auf eine wertschätzende Art und Weise.

Eure

Zur Autorin:
Susanne Mierau ist Diplom-Pädagogin (Schwerpunkt Kleinkindpädagogik) und Familienbegleiterin. Sie arbeitete an der FU Berlin in Forschung und Lehre, bevor sie sich 2011 im Bereich bedürfnisorientierte Elternberatung selbständig machte. Ihr 2012 gegründetes Blog geborgen-wachsen.de und ihre Social Media Kanäle sind wichtige und viel genutzte freie Informationsportale für bedürfnisorientierte Elternschaft und tragen seit über 10 Jahren maßgeblich zur Verbreitung bedürfnisorientierter Erziehung bei. Susanne Mierau gibt Workshops für Eltern und Fachpersonal und spricht auf Konferenzen und Tagungen über kindliche Entwicklung, Elternschaft und Familienrollen.

Foto: Ronja Jung für geborgen-wachsen.de

„Hilfe, mein Kind ist super nervig!“ – Das kannst du tun, wenn du den Alltag mit Kind nur noch anstrengend findest

Manchmal geraten wir mit unseren Kindern in einen herausfordernden Kreislauf, der sich nur noch schwer auflösen lässt: Alles erscheint anstrengend, jede Kleinigkeit wird zur Diskussion, das Kind wirkt übermäßig fordernd, laut oder provokant. Und die Eltern sind genervt vom eigenen Kind und fragen sich, was sie nur falsch gemacht haben. Schnell kommen dann Gedanken auf wie: „Jetzt darf ich bloß nicht nachgeben, sonst hat es gelernt, dass es mit diesem Verhalten durchkommt!“ Doch genau hier lohnt es sich, innezuhalten und genauer hinzuschauen, was jetzt wirklich benötigt wird: mehr Struktur und Orientierung von den Eltern oder mehr Nähe, Wärme und ein wohlwollender Blick?

Sucht das Kind Aufmerksamkeit?

Das, was wir als nervig erleben, ist in einigen Fällen ein Ausdruck eines tieferen Bedürfnisses nach Bindung und Selbstwertschutz. Kinder wollen gesehen werden, wollen spüren, dass sie wertvoll und wichtig sind. Und zwar nicht erst, wenn sie besonders laut oder auffällig werden. Verbindung, Wahrgenommenwerden, echte Zuwendung sind für sie so existenziell wie Nahrung und Schlaf. Und manchmal hat sich einfach ein Muster eingeschlichen, bei dem diese Verbindung im Alltag zu kurz gekommen ist, das das Gefühl, gesehen und wertgeschätzt zu werden, stört: weil wir gestresst sind von dem übervollen Alltag, weil wir vielleicht in diesem Entwicklungsalter des Kindes auch wenig Interesse von den eigenen Eltern in Bezug auf unsere Themen erfahren haben, weil zu wenig gemeinsame Zeit bleibt oder weil alte Erziehungsgedanken uns einflüstern, wir müssten jetzt streng bleiben.

Das emotionale Thermostat neu einstellen

Der Psychologe Oliver James hat dafür schon vor über zehn Jahren einen besonderen Ansatz vorgeschlagen. Er nannte ihn „Love Bombing“ und meinte damit keinen Trick, um Kinder gefügig zu machen, sondern einen bewussten Neustart für die Beziehung. Die Idee ist, das „emotionale Thermostat“ neu einzustellen – bei Eltern und Kindern. Dafür braucht es eine Zeit, die nur dem Miteinander gehört. Eine Zeit, in der dein Kind bestimmen darf, was ihr macht, in der ihr spielt, kocht, zusammen seid, ohne Druck, ohne Korrekturen, ohne Blick auf Probleme. Ein Nesttag. Wichtig ist, dass du in dieser Zeit dein Kind wirklich siehst, dass du die schönen Momente bewusst wahrnimmst und verinnerlichst, wie wunderbar dein Kind ist.

Das klingt einfach und kompliziert zugleich, aber es kann eine enorme Wirkung entfalten. Es geht nicht um ein oberflächliches Loben oder darum, „mal nett zu sein“. Es geht darum, Beziehung neu zu spüren. Dein Kind darf erleben, dass es wertvoll ist, dass es gehört und respektiert wird. Und du darfst wieder ins Fühlen kommen und dich daran erinnern, wie schön es ist, mit deinem Kind zusammen zu sein jenseits von Konflikten und Alltagssorgen.

Wenn dir dein Kind also im Alltag manchmal unglaublich nervig vorkommt, wenn dich das Verhalten an deine Grenzen bringt, dann kann genau dieser bewusste Schritt zurück in die Verbindung helfen. Nicht, um das Verhalten deines Kindes zu korrigieren, sondern um euch beiden eine neue Erfahrung zu schenken: Ihr gehört zusammen, ihr seid wichtig füreinander, und ihr könnt euch wieder mit Wärme und Wertschätzung begegnen.

Eure

Zur Autorin:
Susanne Mierau ist Diplom-Pädagogin (Schwerpunkt Kleinkindpädagogik) und Familienbegleiterin. Sie arbeitete an der FU Berlin in Forschung und Lehre, bevor sie sich 2011 im Bereich bedürfnisorientierte Elternberatung selbständig machte. Ihr 2012 gegründetes Blog geborgen-wachsen.de und ihre Social Media Kanäle sind wichtige und viel genutzte freie Informationsportale für bedürfnisorientierte Elternschaft und tragen seit über 10 Jahren maßgeblich zur Verbreitung bedürfnisorientierter Erziehung bei. Susanne Mierau gibt Workshops für Eltern und Fachpersonal und spricht auf Konferenzen und Tagungen über kindliche Entwicklung, Elternschaft und Familienrollen.

Foto: Ronja Jung für geborgen-wachsen.de

Was meint „Erziehung ohne Schimpfen“?

Wenn davon gesprochen wird, dass Eltern nicht schimpfen sollen, wird das häufig missverstanden. Gemeint ist dabei nicht, dass Gefühle wie Wut, Überlastung, Ärger oder Hilflosigkeit „einfach“ unterdrückt werden sollen oder dass das Kind tun und lassen kann, was es will. Vielmehr geht es darum, dass Eltern in Selbstberuhigungsstrategien einsetzen können, um angemessen zu reagieren – diese fehlen aber häufig. Sie auszubauen, hilft nicht nur im Alltag mit Kindern, sondern stärkt auch andere zwischenmenschliche Beziehungen – sowohl im privaten Umfeld als auch im Berufsleben.

Gewalt vermeiden

„Nicht schimpfen“ bedeutet nicht, dass Kindern kein Feedback gegeben oder keine Grenzen gesetzt werden dürfen. Auch Ärger darf gezeigt werden. Entscheidend ist jedoch, wie wir mit unseren Empfindungen umgehen: sozialverträglich, respektvoll und ohne das Kind zu ängstigen. Denn emotionale Gewalt ist ebenfalls Gewalt und kann beim Kind langfristige Spuren hinterlassen. Kinder haben laut § 1631 BGB ein Recht auf eine gewaltfreie Erziehung: „Körperliche Bestrafungen, seelische Verletzungen und andere entwürdigende Maßnahmen sind unzulässig.“ Dazu gehört auch, nicht verbaler Gewalt ausgesetzt zu sein. Dieses Recht basiert auf Erkenntnissen aus verschiedenen Forschungsbereichen, die zeigen, dass auch seelische Gewalt negative Auswirkungen auf die kindliche Entwicklung hat.

Warum machen wir das, wenn wir es nicht wollen?

Viele Eltern spüren unmittelbar nach einer Situation, in der sie ihr Kind angeschimpft oder gar angeschrien haben, dass dieses Verhalten nicht richtig war. Scham stellt sich ein. Im besten Fall folgt eine Entschuldigung und der Vorsatz, es beim nächsten Mal besser zu machen. Doch oft bleibt es nicht bei einem Ausrutscher – das Muster wiederholt sich. Warum passiert uns das, obwohl wir es eigentlich vermeiden wollen?

Eine übermäßige Reaktion hängt häufig mit der hohen Stressbelastung im Alltag zusammen. Unser Leben ist geprägt von Dauerstress und Reizüberflutung. Gehirn und Körper sind permanent damit beschäftigt, diesen Stress zu verarbeiten. Studien zeigen eindeutig: Stress wirkt sich negativ auf Erziehungsverhalten aus. Je höher die Belastung, desto schwerer fällt es, Kinder geduldig und einfühlsam zu begleiten.

Prägungen und Erwartungen: Unsichtbare Stressverstärker

Neben Alltagsstress, akuten Belastungen und dem individuellen Temperament des Kindes gibt es einen weiteren entscheidenden Faktor: unsere eigenen Prägungen. Dazu gehören sowohl genetische Voraussetzungen im Umgang mit Stress als auch die Erfahrungen aus unserer eigenen Kindheit und Erziehung. Das Thema Scham kann hier eine große Rolle spielen: Viele von uns haben verinnerlicht, dass wir uns schlecht fühlen, wenn unser Kind sich „unangemessen“ verhält – insbesondere in der Öffentlichkeit. Dieses Schamgefühl führt oft dazu, dass wir überreagieren. Aber auch der Umstand, dass wir selbst nicht lernen durften in der Kindheit, gesunde Grenzen zu setzen, kann es uns schwer machen, diese heute festlegen und uns für ihr Einheiten einzusetzen. So kommt es, dass Erwachsene dauerhaft zu viel von sich verlangen und dadurch unter Stress stehen.

Was Eltern konkret tun können

Um weniger stark zu reagieren, sollten Eltern an mehreren Punkten ansetzen:

  • Stress reduzieren: Aufgaben minimieren, Anforderungen hinterfragen und Perfektionsansprüche loslassen, gesunde Grenzen für sich selbst setzen.
  • Selbstregulation stärken: Frühzeitig wahrnehmen, wann Ärger aufsteigt, und passende Techniken einsetzen, wie Atemübungen, Körperwahrnehmung, Entspannungs- oder Meditationsübungen.

Diese Strategien helfen, gelassener zu bleiben – nicht nur im Umgang mit dem Kind, sondern auch in anderen Lebensbereichen.

Und was ist jetzt mit den Grenzen?

Kinder brauchen Orientierung, aber sie müssen dabei weder beschämt noch verängstigt werden. Grenzen lassen sich klar und respektvoll kommunizieren – ganz ohne Schimpfen (im Sinne von Niedermachen) oder Schreien. Auch wenn viele von uns durch die eigene Kindheit geprägt sind und glauben, dass harte Worte oder lautes Verhalten nötig seien: Das ist weder die einzige noch die sinnvollste Methode. Kinder können Regeln, soziales Verhalten und den Umgang mit Fehlern auch ohne Druck und Angst lernen – oft sogar besser, weil sie nicht unter dem Stress von Schimpfen und Schreien stehen.

Eure

Zur Autorin:
Susanne Mierau ist Diplom-Pädagogin (Schwerpunkt Kleinkindpädagogik) und Familienbegleiterin. Sie arbeitete an der FU Berlin in Forschung und Lehre, bevor sie sich 2011 im Bereich bedürfnisorientierte Elternberatung selbständig machte. Ihr 2012 gegründetes Blog geborgen-wachsen.de und ihre Social Media Kanäle sind wichtige und viel genutzte freie Informationsportale für bedürfnisorientierte Elternschaft und tragen seit über 10 Jahren maßgeblich zur Verbreitung bedürfnisorientierter Erziehung bei. Susanne Mierau gibt Workshops für Eltern und Fachpersonal und spricht auf Konferenzen und Tagungen über kindliche Entwicklung, Elternschaft und Familienrollen.

Foto: Ronja Jung für geborgen-wachsen.de

Wenn Babys viel weinen – und Eltern an sich selbst zweifeln: Über die unsichtbaren Spuren der Schreibabyzeit

Viel weinende Babys sind für ihre Eltern oft eine besondere Herausforderung. Es ist schwer, ein Baby zu begleiten, das viel und lange weint – körperlich ebenso wie emotional. Viele Eltern fühlen sich hilflos und entwickeln das Gefühl, als Mutter oder Vater nicht kompetent zu sein. Schließlich scheint nichts zu helfen, obwohl sie alles geben. Gedanken wie „Mein Baby weint ständig – und ich kann es nicht beruhigen“ setzen sich fest.

Besonders belastend wird es, wenn Eltern in dieser Situation keine fachliche Unterstützung erhalten, sondern allein durchhalten müssen – sei es, weil sie keine Hilfe finden oder nicht wissen, dass es pädagogisch-psychologische Unterstützung gibt. Dann kann sich das Gefühl, nicht gut genug zu sein, tief verankern – und über die Babyzeit hinaus nachwirken.

Selbstvertrauen entwickeln als Elternteil

Bindung und Beziehung entstehen durch Interaktion. Natürlich ist es wichtig, dass das Baby sich auf die Fürsorge verlassen kann – aber auch das Erleben der Eltern spielt eine große Rolle. Wenn wir spüren, dass wir unser Baby verstehen, dass unsere Reaktion hilft, dann entsteht ein Gefühl von Sicherheit und Kompetenz. Fehlt dieses Feedback, wird es schwerer, Selbstvertrauen in der Elternrolle aufzubauen. Stattdessen schleichen sich Zweifel ein – manchmal auch Angst: „Bald weint mein Baby wieder – und ich werde wieder nicht wissen, was hilft.“

Stress, Schlafmangel, Hilflosigkeit, Schamgefühle und Frustration begleiten viele Eltern durch diese Zeit. Innerlich bröckelt das Selbstwertgefühl. Das Gefühl von Selbstwirksamkeit verblasst. Und gleichzeitig wirkt der gesellschaftliche Druck: „Jetzt hast du doch ein Kind – sei doch glücklich!“
Viele fragen sich: „Was denken andere von mir, wenn ich mein Baby nicht beruhigen kann? Was bin ich für eine Mutter, was für ein Vater – wenn ich gleich zu Beginn scheitere?“

Entspannte Eltern, entspannte Kinder?

„Entspannte Eltern, entspannte Kinder“ – noch immer hält sich dieser Spruch hartnäckig, auch wenn er ein Mythos ist. Die Ursachen für das viele Weinen können vielfältig sein. Durchaus können elterliches Verhalten und Stress einen Einfluss nehmen, aber es gibt auch viele weitere mögliche Gründe für das Weinen und Schreien von Babys. Hier braucht es fachkundige Abklärung, um dem Weinen auf die Spur zu kommen.

Und manchmal gibt es keine eindeutige Erklärung. Dann geht es in der Begleitung vor allem darum, die Eltern zu stärken – emotional, körperlich, mental. Damit sie durchhalten können, ohne auszubrennen. Damit sie Auswege kennen, bevor Überlastung zur Lebensgefahr wird: Überforderung kann schwerwiegende Folgen haben, etwa in Form von Schütteln des Babys. Prävention ist hier essenziell. Eltern müssen wissen, was sie ganz konkret tun sollten, wenn ihre innere Not zu groß wird.

Langfristige Auswirkungen

Manchmal bleibt das Vertrauen in die eigene Kompetenz auch nach der Babyzeit erschüttert. Zu sehr und zu lange wurde verinnerlicht, dass man einfach nicht richtig wisse, was das Kind braucht. Zu sehr ist man vielleicht auch daran gewöhnt, Vieles im Wechsel anbieten zu müssen, damit irgendwas hilft. Zu tief sitzt vielleicht auch die Angst vor dem Weinen des Kindes, das so viel Stress verursacht hat und das man mittlerweile fürchtet. Das Stress auslösende Weinen unbedingt vermeiden, kann ein unbewusstes Ziel sein. Kommt ein weiteres Baby in die Familie, kann die Angst vor dem Weinen sich auch auf dieses übertragen – auch wenn es vielleicht kein viel weinendes Baby ist, wie das Geschwisterkind zuvor. Oft ist es nicht sichtbar und bewusst, wie sehr die herausfordernde Zeit geprägt und welche Auswirkungen sie auf das Verhalten genommen hat.

Der Blick auf das Baby UND die Eltern ist wichtig

Die Begleitung von Familien mit viel weinenden Babys darf nicht beim Baby enden. Es geht nicht nur darum, das Weinen zu verstehen oder zu lindern. Genauso wichtig ist der Blick auf die Eltern: Wie geht es ihnen jetzt gerade? Was brauchen sie an Pausen, Unterstützung, Entspannungsmethoden? Was brauchen sie an Hilfen, um sich trotz der aktuell schwierigen Lage kompetent zu fühlen und nicht das Vertrauen in sich zu verlieren? wo erfahren sie sich dennoch als wirksam in der neuen Rolle und erleben schöne Momente des Miteinanders?

Bleibt diese Art der Unterstützung aus, kann eine Ängstlichkeit und Unsicherheit zurückbleiben, die sich auf den Familienalltag auswirkt. Kinder mit einem „schwierigen Temperament“ haben eine höhere Wahrscheinlichkeit, unsichere Bindungsmuster zu verinnerlichen, weil durch die Herausforderung die Eltern-Kind-Interaktion beeinträchtigt werden kann. Passende Unterstützung kann dies jedoch verhindern und sichere Beziehungen entstehen lassen trotz der großen Herausforderung, die mit der anfänglichen Belastung einher gehen: Sichere Beziehungen sind möglich – auch nach einem schweren Start.

Eure

Zur Autorin:
Susanne Mierau ist Diplom-Pädagogin (Schwerpunkt Kleinkindpädagogik) und Familienbegleiterin. Sie arbeitete an der FU Berlin in Forschung und Lehre, bevor sie sich 2011 im Bereich bedürfnisorientierte Elternberatung selbständig machte. Ihr 2012 gegründetes Blog geborgen-wachsen.de und ihre Social Media Kanäle sind wichtige und viel genutzte freie Informationsportale für bedürfnisorientierte Elternschaft und tragen seit über 10 Jahren maßgeblich zur Verbreitung bedürfnisorientierter Erziehung bei. Susanne Mierau gibt Workshops für Eltern und Fachpersonal und spricht auf Konferenzen und Tagungen über kindliche Entwicklung, Elternschaft und Familienrollen.

Orientierung schenken (statt Grenzen setzen)

Die Bezeichnung „Grenzen setzen“ hat für viele Eltern einen eher negativen Beigeschmack. Zu sehr werden damit oft Strafen und Willkür verbunden, häufig in Verbindung mit eigenen negativen Kindheitserfahrungen. Prinzipiell jedoch ist es gar nicht verkehrt, dass Kinder auch die Begrenzungen ihres Handelns, Tuns und ihrer Umgebung erfahren dürfen. Um sich sicher in der Welt bewegen zu können, ist es bedeutsam, die eigenen körperlichen Grenzen zu kennen, die eigenen psychischen Grenzen zu kennen und zu schützen und auch im Außen Grenzen gegenüber anderen wahren zu können. Um Kindern dieses mitzugeben, ist es wichtig, sich als Elternteil mit dem eigenen Unwohlsein gegenüber Grenzen auseinanderzusetzen. Eine Annäherung kann dadurch erfolgen, eine neue Bezeichnung zu wählen, die nicht so negativ belegt ist, wie sie sich für einige anfühlen mag.

Menschen benötigen Orientierung

Orientierung zu haben, ist für unser Wohlergehen bedeutsam. Wir wollen die Welt verstehen, in der wir uns befinden. Gerade auch in Bezug auf das soziale Miteinander brauchen wir Orientierung, welche Grenzen wo gelten und wie man sie berücksichtigen sollte. Kinder gewinnen Orientierung durch ihre Bezugspersonen: Ihr Vorbildverhalten gibt ihnen eine Orientierung in ihrer Umwelt und das Erziehungsverhalten gibt ihnen auch eine Orientierung im Innen: Wenn ich bestimmte Signale sende, reagieren meine Bezugspersonen mit einem dazu passenden Verhalten – bestenfalls verlässlich und in weiten Teilen auch vorhersagbar. So kann sich ein Vertrauen in die Bezugspersonen entwickeln und auch das Selbstbild ausgebaut werden.

Überall gibt es Grenzen

Grenzen erfahren Kinder ohnehin jeden Tag vielfach aus dem Alltag heraus: sie erleben die eigenen körperlichen Grenzen, wenn sie etwas nicht erreichen oder heben oder bewegen können, erleben dingliche Grenzen und müssen der Frustration begegnen, wenn sie eine ganz konkrete Vorstellung vom Ablauf einer Handlung hatten und diese dann nicht so eintritt, und sie erleben die menschlichen Grenzen ihres Gegenüber, wenn dieser andere Mensch etwas nicht mag, zurückweist oder ausweicht. Die Regeln, die hinter diesen Erfahrungen stehen und die sie durch ihr Handeln lernen, bieten ihnen eine Orientierung: so kann ich einem Menschen, Tier oder Gegenstand begegnen und so nicht. Das erreiche ich noch nicht, aber vielleicht bald, wenn ich etwas größer bin.

Orientierung ist hilfreich

Bezugspersonen bieten mit ihren Grenzen Orientierung. Gleichzeitig geben sie dem Kind auch Orientierung durch Worte und Handlungen zum Schutz von Dingen, Tieren und anderen Menschen. Sie erklären die Welt, um es dem Kind zu erleichtern, sich darin zu bewegen und sie zu verstehen: Warum man was nicht tun sollte, warum man was auf jeden Fall tun sollte. Von Familie zu Familie kann es unterschiedliche Regeln und Grenzen geben. All dies sind Informationen, die das Kind braucht, um sich zunehmend sicher in seiner Umgebung bewegen zu können. Orientierung bietet dem Kind damit einen sicheren Zugang zu der Umwelt aus dem Schutz der Bezugspersonen heraus.

Es geht also nicht um willkürlich gesetzte Regeln und Machtmissbrauch, sondern vielmehr um ein feinfühliges Wahrnehmen dessen, was es dem Kind erleichtert, sicher selbstwirksam sein zu können.

Eure

Zur Autorin:
Susanne Mierau ist Diplom-Pädagogin (Schwerpunkt Kleinkindpädagogik) und Familienbegleiterin. Sie arbeitete an der FU Berlin in Forschung und Lehre, bevor sie sich 2011 im Bereich bedürfnisorientierte Elternberatung selbständig machte. Ihr 2012 gegründetes Blog geborgen-wachsen.de und ihre Social Media Kanäle sind wichtige und viel genutzte freie Informationsportale für bedürfnisorientierte Elternschaft und tragen seit über 10 Jahren maßgeblich zur Verbreitung bedürfnisorientierter Erziehung bei. Susanne Mierau gibt Workshops für Eltern und Fachpersonal und spricht auf Konferenzen und Tagungen über kindliche Entwicklung, Elternschaft und Familienrollen.

Foto: Ronja Jung für geborgen-wachsen.de

Warum du niemanden von deiner Erziehung überzeugen musst – außer dich selbst

Gerade bedürfnisorientierte Erziehung wird immer wieder von vielen Menschen infrage gestellt – ob nun in der eigenen Familie, auf der Straße oder manchmal auch noch in Institutionen. Wir fühlen uns im Rechtfertigungsdruck. Vielleicht wollen wir auch die andere Person davon überzeugen, dass es genau richtig ist, was wir da tun und der kritische Mensch gegenüber das doch verstehen muss. Oft ist aber beides – sowohl Rechtfertigung als auch Überzeugungsversuche – nicht erfolgreich. Anstatt am Gegenüber zu arbeiten, ist es für uns oft hilfreicher und kräftesparender, uns selbst zu versichern, dass es richtig ist, was wir da tun.

„Sieh das doch genau wie ich!“ klappt einfach nicht

Natürlich ist es wünschenswert, andere Menschen davon überzeugen zu können, dass Kinder mit Respekt behandelt werden sollen, dass sie über eigene Rechte verfügen und als der Mensch gesehen und respektiert werden sollten, der sie sind. Diese grundlegenden Ansätze bedürfnisorientierter Erziehung können eine gute Basis für ein psychisch gesundes Aufwachsen ermöglichen und es wäre wunderbar, wenn diese Gedanken von der breiten Gesellschaft getragen werden, damit Kinder nicht nur von den nahen Bezugspersonen, sondern eben allen Menschen unter Achtung ihrer Würde behandelt werden. Auch Forschungsergebnisse bestätigen, dass der autoritative Erziehungsstil, also ein Erziehungsverhalten, das sowohl durch Liebe und Zuneigung gekennzeichnet ist, als auch Kindern Orientierung bietet, den besten Einfluss auf die kindliche Entwicklung hat. Zurecht können wir uns also fragen, warum dann noch immer Menschen davon überzeugt sind, Kinder müssten autorität erzogen werden oder auch in die andere Richtung des Laissez-Faire tendieren.

Rein logische Argumente führen uns in diesem Diskurs jedoch leider nicht weiter. Um sich auf eine Erziehungshaltung einzulassen, in der Nähe/Wärme und Orientierung ausgeglichen vorhanden sind, braucht es ein emotionales Einlassen. Wir müssen nicht nur die Fakten anerkennen, sondern auch eine innere Überzeugung überwinden, sie sich oft durch eigene Erfahrungen ausgebildet hat. Dies beinhaltet ggf. eigene negative Erfahrungen zu reflektieren, sie zu analysieren und in das heutige Leben zu integrieren. Sich den eigenen negativen Erfahrungen zu stellen oder auch auf einmal eigenes Handeln gegenüber den eigenen Kindern kritisch zu hinterfragen und eigene Fehler aufzudecken, erfordert viel emotionale Kraft. Es ist leichter, sich hinter einem „Hat mir ja auch nicht geschadet“ emotional zu verstecken, als sich dem vielleicht doch empfundenen Schaden zu stellen. Langfristig kann durchaus durch das Miterleben anderer Ansätze ein Reflexions- und Lernprozess eingeleitet werden, doch zwischen „Tür und Angel“ oder auf einem Familienfest ist es eher nicht zu erwarten, dass wir mal schnell einen anderen Menschen von einer ganz anderen Menschenhaltung überzeugen können.

Sicherheit statt Rechtfertigung

Als Generation von Eltern, die Erziehung wieder einmal anders ausrichten will und die oben genannten Werte in einer Haltung gegenüber Kindern ausdrücken möchte, die sie selbst vielleicht nicht erfahren haben, besteht durchaus auch Unsicherheit in Bezug auf das eigene Handeln: Ist das wirklich richtig, was ich da tue? Die innere Unsicherheit, die sich daraus ergibt, dass wir ein Erziehungsverhalten anwenden wollen, das wir nicht durch Erfahrung verinnerlicht haben, sondern ganz neu lernen müssen (und während des neuen Umsetzens nicht selten mit unseren eigenen Lasten parallel umgehen), ist normal. Wir lernen, während wir es leben. Das erfordert sehr viel Kraft und Reflexion – und bringt eben auch Unsicherheiten mit sich: Versuch und Irrtum. Auf der Unsicherheit, die ein neues Handeln mit sich bringt, gedeiht Verunsicherung gut. Dies gerade dann, wenn wir durch die eigene Erziehung ohnehin nicht im eigenen Selbstbild gestärkt wurden, sondern eher kritisch auf uns blicken. Wir verfallen schnell in Selbstzweifel oder Rechtfertigungsdruck, wenn wir es anderen vielleicht auch noch gerne Recht machen wollen und irgendwo zwischen verschiedenen Stühlen stehen.

Natürlich ist es auch wichtig, gut gemeinte Hinweise von nahen Bezugspersonen nicht nur abzuweisen. Manchmal ist es durchaus gut, auch noch andere Impulse zu bekommen und wir können aus dem Erfahrungsschatz anderer profitieren. Aber als nun erwachsene Menschen, die Eltern sind, ist es auch wichtig, eigene Entscheidungen treffen zu können und dem eigenen Kind aus innerer Überzeugung den Weg dieser Familie zu zeigen.

Es kommt daher gerade bei Familienfeiern und anderen Zusammenkünften weniger darauf an, andere zu überzeugen oder gute Rechtfertigungsargumente für das neue Erziehungsverhalten zusammenzutragen, als Sicherheit für sich selbst zu haben und diese auszustrahlen. Recht wahrscheinlich werden wir jemanden anderen nicht einfach so überzeugen können. Recht wahrscheinlich werden Rechtfertigungsgründe für moderne, demokratische Erziehung auf eine innere Abwehr des Gegenüber treffen. Es geht also weniger darum, dass wir uns gute Argumente zurechtlegen, warum wir tun, was wir tun, als uns sicher zu sein: „Ich bin heute das Elternteil meines Kindes, ich entscheide, was wir wie tun.“, „Ich bin nicht mehr nur das Kind meiner Eltern, das sich nach ihnen richten muss, sondern selbst Erwachsen und treffe eigene Entscheidungen.“, „Ich bin überzeugt von meiner Erziehungshaltung.“

Was dir helfen kann, innere Sicherheit zu fühlen und sie nach Außen zu zeigen:

  • Versichere dir selbst vorab, dass es dir uns deinem Kind gut mit deiner Haltung geht.
  • Menschen, die uns den Rücken stärken, tun gut: Umgib dich mit Menschen, die dich stützen und stärken.
  • Versichere dir selbst vorab, dass du nicht diskutieren möchtest und musst.
  • Überlege, was dir helfen kann, um dich innerlich stark und sicher zu fühlen.
  • Überlege, welche Regulationsstrategien dir helfen, um ruhig und klar bleiben zu können.
  • Sich abzugrenzen erfordert Kraft: Ziehe dich zurück, wenn du merkst, dass deine Kraft schwindet. Gönn dir Pausen oder plane gleich nur einen kurzen Aufenthalt.

Eure

Zur Autorin:
Susanne Mierau ist Diplom-Pädagogin (Schwerpunkt Kleinkindpädagogik) und Familienbegleiterin. Sie arbeitete an der FU Berlin in Forschung und Lehre, bevor sie sich 2011 im Bereich bedürfnisorientierte Elternberatung selbständig machte. Ihr 2012 gegründetes Blog geborgen-wachsen.de und ihre Social Media Kanäle sind wichtige und viel genutzte freie Informationsportale für bedürfnisorientierte Elternschaft und tragen seit über 10 Jahren maßgeblich zur Verbreitung bedürfnisorientierter Erziehung bei. Susanne Mierau gibt Workshops für Eltern und Fachpersonal und spricht auf Konferenzen und Tagungen über kindliche Entwicklung, Elternschaft und Familienrollen.

Foto: Ronja Jung für geborgen-wachsen.de

Warum Selbstfürsorge gerade für Eltern wichtig ist

Kinder im Wachsen zu begleiten, ist nicht immer einfach: Es gibt viele Handgriffe und Kraftanstrengung durch das Heben und Tragen und Rennen und die vielen anderen Tätigkeiten des Umsorgens und Spielens. Es ist emotional oft herausfordernd, Kinder zu begleiten in ihren Emotionen, sie zu regulieren und dabei noch mit den eigenen Empfindungen umzugehen, die dabei entstehen. Es ist belastend, an all die vielen Dinge zu denken, die wir erledigen müssen wie die nächste U-Untersuchung, neue Gummistiefel und den richtigen Sonnenschutz für den Sommer, während wir gleichzeitig so viele andere Dinge in unserem oft hektischen Alltag erledigen sollen. Viele Eltern fühlen sich überlastet von einem so vollen Alltag. Es fällt schwer, zwischen all den Aufgaben noch Zeit für sich und die eigenen Bedürfnisse zu finden.

Mangelnde Bedürfniserfüllung tut uns nicht gut

Für alle Menschen ist es wichtig, dass sie ihre eigenen Bedürfnisse erfüllen können, damit es ihnen gut geht. Wenn wir zu wenig schlafen oder zu wenig essen, merken wir oft direkt, dass es uns nicht gut geht. Aber auch wenn andere Bereiche unserer Bedürfnisse vernachlässigt werden, spüren wir das: Wenn wir uns eingeschränkt fühlen in unserer Selbstwirksamkeit oder weniger Sozialkontakte haben, als wir eigentlich benötigen, geht es uns nicht gut: Wir fühlen uns unausgeglichen, unser Wohlbefinden leidet darunter. Es geht uns nicht gut. Dieses Unwohlsein kann sich auch auf unsere Beziehungen auswirken: wir sind angespannter, vielleicht auch gereizter. Ausreichend Schlaf, Nahrung, Bewegung, Sozialkontakte und das Gefühl, etwas bewirken zu können, sind wichtig für Menschen.

Besonders nachteilig ist die fehlende Möglichkeit, die eigenen Bedürfnisse zu erfüllen, da, wo sich Menschen um andere Menschen kümmern müssen: Gerade junge Kinder sind darauf angewiesen, dass ihre Bezugspersonen ihre Signale wahrnehmen, sie richtig interpretieren und ausreichend zeitnah passend beantworten. Zudem benötigen sie eine angemessene Begleitung in ihren eigenen Gefühlen, damit sie zunehmend lernen können, gut mit ihnen umzugehen. Wenn diese Bezugspersonen allerdings gestresst sind oder zu müde, zu angespannt, fällt diese angemessene Begleitung schwerer.

Schlafmangel macht es schwer, Kinder angemessen zu begleiten

Blicken wir beispielsweise auf den Schlafmangel, wissen wir, dass dieser zahlreiche negative psychische und körperliche Folgen haben kann. In Bezug auf Elternschaft kann sich dieser negativ auswirken auf die Feinfühligkeit gegenüber den Bedürfnissen des Kindes und die Wahrnehmung dieser verzerren: Wer sehr müde ist, deutet das Quengeln des Kindes vielleicht auch als Müdigkeit, obwohl es einen anderen Grund hat. Bei eine Studie aus dem Jahr 2006 wurde festgestellt, dass emotionale Reize unterschiedlich auf das ausgeschlafene oder unausgeschlafene Gehirn wirken: Starke Gefühle wie Zorn, Wut, Kampf-oder-Flucht wurden bei Personen mit Schlafmangel um über 60 Prozent verstärkt, während ausgeschlafene Personen kontrollierter und gemäßigter reagierten.

Auch zu hohe Ansprüche an uns selbst machen Selbstsorge schwerer

Viele Überlastungen von Eltern, die zu wenig Raum für die Selbstsorge lassen, hängen auch mit den umgebenden Strukturen zusammen, die politisch und gesellschaftlich geändert werden müssen – hier haben Eltern zeitnah wenig Möglichkeiten, darauf einzuwirken. Gleichzeitig ist es aber auch wichtig, sich von unnötigen Lasten zu befreien, beispielsweise von zu hohen Ansprüchen an sich und den Haushalt, um Freiräume zu erlangen für die Selbstsorge und ein entlastendes Netz aufzubauen. In den Blick genommen werden sollten daher die eigenen Ansprüche, die Aufgabenverteilung innerhalb der Familie, aber auch Rollenvorstellungen. Diese Fragen können ggf. dabei helfen, das eigene Mindset in Bezug auf Selbstsorge zu hinterfragen:

  • Wenn ich Zeit habe, um auszuruhen und etwas für mich zu tun, habe ich dabei ein schlechtes Gewissen?
  • Habe ich Schuldgefühle gegenüber meinem Kind oder anderen Familienmitgliedern, wenn ich etwas für mich tue? Wenn ja: Woher kommen diese Schulgefühle und haben sie eine reale Ursache, oder ist es ein zu hoher kritischer Anspruch an mich?
  • Wenn sich eine befreundete Person in derselben Situation befinden würde wie du, was würdest du ihr raten zu tun? Unterscheidet sich dieser Rat von dem, was du dir selbst zugestehst?
  • Hattest du in deiner Kindheit/Jugend oder jetzt Vorbilder für Selbstfürsorge und Entspannung?
  • Welche Bedeutung hat das Thema Selbstfürsorge in der Erziehung deines Kindes? Siehst du einen Unterschied darin, was du für dein Kind wünschst und ihm empfiehlst und dem, was du selbst lebst und als Vorbild anbietest?
  • Gibt es einen Unterschied in dem Umfang und der Art, wie der andere Elternteil Selbstfürsorge lebt? Wenn ja: Warum gibt es diesen Unterschied? Welche Gefühle hat die andere Person in Bezug auf die eigene Bedürfniserfüllung?

Aufgaben streichen und gerecht verteilen

Selbstfürsorge ist nicht mit Egoismus gleich zu setzen, auch wenn wir selbst oder andere das gelegentlich tun und gerade das überhöhte Mutterbild schnell zu Verurteilungen führt. Doch Selbstfürsorge ermöglicht, seelisch und körperlich gesund zu bleiben bzw. hilft ggf. dabei, es wieder zu werden. Manchmal ist es gar nicht so einfach, die eigenen Bedürfnisse überhaupt (wieder) in den Blick zu nehmen. Hilfreich kann es sein, sich erst einmal Zeit zum Nachdenken zu nehmen: Wie fühle ich mich und was fehlt mir gerade? Und dann zu überlegen, durch welche Strategien für diese Dinge Platz geschaffen werden kann. Eine Not-to-do-List kann hier beispielsweise helfen: Schreibe die Dinge auf, die du eigentlich ungern erledigst und die vielleicht gar nicht wirklich wichtig sind und dir Zeit und Energie rauben. Versuche, diese Dinge nachhaltig aus dem Alltag zu streichen. Manchmal ist es auch möglich, mehr Freiräume zu erlangen, indem die Familienaufgaben gerechter verteilt werden. Eine wöchentliche Familienkonferenz kann hier helfen, bei der alle Aufgaben aufgeführt und gerecht verteilt werden.

Selbstfürsorge ist für Eltern kein Nice-to-Have, sondern eine grundlegende Voraussetzung, um selbst körperlich und psychisch gesund zu bleiben und darüber hinaus für andere sorgen zu können.

Eure

Zur Autorin:
Susanne Mierau ist Diplom-Pädagogin (Schwerpunkt Kleinkindpädagogik) und Familienbegleiterin. Sie arbeitete an der FU Berlin in Forschung und Lehre, bevor sie sich 2011 im Bereich bedürfnisorientierte Elternberatung selbständig machte. Ihr 2012 gegründetes Blog geborgen-wachsen.de und ihre Social Media Kanäle sind wichtige und viel genutzte freie Informationsportale für bedürfnisorientierte Elternschaft und tragen seit über 10 Jahren maßgeblich zur Verbreitung bedürfnisorientierter Erziehung bei. Susanne Mierau gibt Workshops für Eltern und Fachpersonal und spricht auf Konferenzen und Tagungen über kindliche Entwicklung, Elternschaft und Familienrollen.

Foto: Ronja Jung für geborgen-wachsen.de

Emotionally overtouched – Wenn es zu viel wird mit den Gefühlen

Viele Eltern kennen das Gefühl, wenn sie durch Körperkontakt und Nähe überreizt sind: Zu viel an Körperkontakt, gerade in der Zeit mit Baby oder Kleinkind, wenn das Kind quasi auf oder am Körper der Bezugsperson wohnt, weil es jetzt gerade oder generell besonders viel Nähe braucht. Die eigene körperliche Grenze scheint nicht eingehalten werden zu können und jede weitere Berührung, auch durch andere Erwachsene, wird zu viel. Wir sehnen uns nach Zeit für uns allein ohne körperliche Überstimulation. Doch nicht nur unser Körper kann überreizt sein, auch unsere Gefühlswelt.

Das Begleiten von Kindern benötigt Kraft: auf körperlicher Ebene für all die vielen Handgriffe, das Hochheben und Absetzen, das Tragen im Tuch, das Wickeln, das Füttern und insbesondere Stillen. Auch für die emotionale Begleitung von Kindern benötigen wir Kraft: für das Wahrnehmen, Verstehen und Begleiten von Gefühlen. Wir brauchen Kraft, um die noch unmittelbar und oft auch körperlich oder stimmlich ausgedrückten Gefühle auszuhalten, zu regulieren und dabei auch unsere eigenen aufsteigenden Emotionen im Zaum zu halten. Gerade um mit Ärger/Wut/Enttäuschung von Kindern umgehen zu können, muss es uns selbst gut genug gehen.

In kaum einem der vielen Bücher über den richtigen Umgang mit elterlicher Wut und dem Vermeiden von körperlicher und psychischer Gewalt ist der so bedeutende wie einfache Hinweis zu finden, dass wir für unsere eigene emotionale Ausgeglichenheit eben nicht nur beständig uns selbst reflektieren und mehr an uns arbeiten müssen, sondern dass wir nicht minder bedeutend vor allem auch Schlaf und Entspannung brauchen, damit wir gelassen mit all den Herausforderungen des Begleitens von Kindern umgehen können. In einer Studie aus dem Jahr 2006 wurde die emotionale Wirkung bestimmter Reize auf das ausgeschlafene und unausgeschlafene Gehirn untersucht. Es zeigt sich, dass genau dieselben Reize im Mandelkern des Gehirns, dem Zentrum für die Entstehung von Gefühlen, eine ganz unterschiedliche Wirkung hervorrufen, je nach Ausgeschlafenheit der Person: Starke Gefühle wie Zorn, Wut, Kampf-oder-Flucht wurden bei den Personen mit Schlafmangel um über 60 Prozent verstärkt, während die ausgeschlafenen Personen kontrollierter und gemäßigter reagierten. Vielleicht kommt es in Bezug auf das gewaltfreie Begleiten von Kindern also viel mehr darauf an, dass wir ausgeschlafen sein können, als uns bisher bewusst war.

Susanne Mierau (2024): Das Schlafbuch für die ganze Familie, S.65

„Das empathische Geschlecht“ – von Anfang an zuständig für Emotionen

Gerade weiblich sozialisierte Menschen erfahren schon in der Kindheit, dass sie in besonderer Weise für die Emotionen anderer zuständig sein sollen: „das empathische Geschlecht“, „du musst verstehen…“, „nun stell dich mal nicht so an…“, „tröste mal und sei nicht zickig“. Die emotionale Zuständigkeit für das Wohlergehen anderer wird schon früh auf die Schultern gelegt und bleibt dort über die weiteren Jahre liegen, wenn schon in der Schule mehr Empathie erwartet wird, aber auch später im Job, man im Büro zuständig dafür ist, dass die anderen ihre Problem loswerden können oder man auf andere Weise dafür sorgt, dass es einen emotional gutes Klima bei der Arbeit gibt, beispielsweise dadurch, dass man für die Geburtstagsgeschenke zuständig ist, selbstgebackene Kekse und Kuchen mitbringt etc. Emotionen, das ist Frauensache – gilt noch immer an vielen Stellen.

Wer Sorgearbeit leistet, kümmert sich viel um Emotionen

Zu all diesen vielen ohnehin bestehenden Emotionsaufgaben in Job und Partnerschaft kommen dann im Falle der Elternschaft auch noch die Emotionen der Kinder. Wer mehr Care-Arbeit vollbringt, ist auch mehr mit den Emotionen der anderen Menschen beschäftigt. Eltern tragen nicht nur „Mental Load“, sondern auch „Emotional Load“. Gerade bei viel weinenden Babys sind begleitende Eltern besonders gefordert, aber auch in der Begleitung neurodiverser Kinder und/oder in der Kleinkindzeit, in der alle Empfindungen noch so unmittelbar und direkt mitgeteilt werden und es notwendig ist, dass Kinder durch ihre nahen Bezugspersonen erfahren, wie Gefühle benannt und ausgedrückt werden können, sind Eltern – und besonders die häufiger zuständigen Mütter – sehr gefordert. Neben der Co-Regulation des Kindes ist manchmal auch noch die Selbstregulation notwendig – gerade dann, wenn man selbst nicht lernen konnte, gesund mit den eigenen Gefühlen umzugehen und nun wütend wird, weil das Kind wütend ist.

Wenn zu wenig Kraft dazu führt, dass wir kindlichen Gefühlen aus dem Weg gehen

So, wie es ein Zuviel an Körperkontakt geben kann, können wir auch erschöpft sein von der Zuständigkeit für Emotionen. Gerade dann, wenn wir zu wenig Zeit haben, um unsere Kräfte aufzufüllen oder die Rahmenbedingungen für Familienleben uns keine Möglichkeiten lassen, uns auch gut um uns selbst zu kümmern, wird das Begleiten der Emotionen von Kindern manchmal zur Herausforderung. Schnell ist man verleitet, den kindlichen Emotionen aus dem Weg zu gehen: lieber nachgeben, lieber mehr Medien, als jetzt noch ein Wutanfall, lieber ein zweites Eis als Diskussionen… Was gelegentlich kein Problem ist, kann aber auf Dauer nachteilig werden, wenn Eltern aus Erschöpfung immer mehr versuchen, Diskussionen, Gefühlsausbrüchen und einem klaren Nein aus dem Weg zu gehen. Auch wenn es anstrengend ist, brauchen Kinder die Gefühlsbegleitung und müssen lernen, wie sie mit ihren Gefühlen gut und sozial umgehen können. Dies lernen sie, weil es eben auch Reibungspunkte im Alltag gibt, anhand derer Eltern aufzeigen können, wie mit Wut, Trauer, Ekel etc. umgegangen werden kann.

Emotionale Überlastung ernst nehmen

Dass wir durch all die Zuständigkeit für Gefühle (gleichzeitig mit vielen anderen Aufgaben parallel) überlastet sind, ist also nachvollziehbar. Gleichzeitig brauchen Kinder aber emotionale Begleitung und ein dauerhaftes Aus-dem-Weg-Gehen ist nicht zielführend. Wenn wir merken, dass wir dauerhaft „emotional overtouched“ sind (oder es uns aus anderen Gründen schwer fällt, Emotionen von Kindern zu begleiten), brauchen wir also Hilfe: Zeit, um zur Kraft zu kommen, ausreichend Schlaf und vor allem: langfristig nicht allein für zu viele Emotionen zuständig sein zu müssen.

Eure

Zur Autorin:
Susanne Mierau ist Diplom-Pädagogin (Schwerpunkt Kleinkindpädagogik) und Familienbegleiterin. Sie arbeitete an der FU Berlin in Forschung und Lehre, bevor sie sich 2011 im Bereich bedürfnisorientierte Elternberatung selbständig machte. Ihr 2012 gegründetes Blog geborgen-wachsen.de und ihre Social Media Kanäle sind wichtige und viel genutzte freie Informationsportale für bedürfnisorientierte Elternschaft und tragen seit über 10 Jahren maßgeblich zur Verbreitung bedürfnisorientierter Erziehung bei. Susanne Mierau gibt Workshops für Eltern und Fachpersonal und spricht auf Konferenzen und Tagungen über kindliche Entwicklung, Elternschaft und Familienrollen.

Foto: Ronja Jung für geborgen-wachsen.de