Monat: September 2018

Bindungsorientierte Großeltern

Wenn Paare Eltern werden, werden Eltern Großeltern. Das Familiengefüge verschiebt sich, Menschen tauchen in eine neue Aufgabe ein, in andere Herausforderungen und in eine andere Position im Familiensystem. Für uns als Eltern ergeben sich neue Herausforderungen: Nicht nur, weil wir nun Eltern sind und in unsere neue Aufgabe hinein wachsen. Sondern auch, weil wir auf einmal eine andere Position unseren Eltern gegenüber einnehmen und es manchmal für diese schwierig ist, in der neuen Situation an zu kommen, loszulassen und den neuen Platz zu finden. Großeltern zu sein ist anders, als Eltern zu sein.

Was sich Eltern von Großeltern wünschen

Was wir uns von Großeltern wünschen, ist eigentlich so einfach und doch so schwer: Wir wünschen uns Unterstützung, aber keine Übergriffigkeit. Wir wünschen uns Tipps, ohne Rat“schläge“. Wir wünschen uns praktische Hilfe und anpackende Hände ohne das Gefühl zu bekommen, den Alltag selbst nicht ausreichend oder nicht gut bewältigen zu können. Wir wünschen uns ein Schulterklopfen ohne hochgezogene Augenbraue. Wir wünschen uns, dass unsere Ideen und Gedanken davon, wie unser Kind aufwachsen soll, ihre Wünsche und Gedanken sind.

Wenn wir an uns selbst denken, wissen wir, wie schwer solche Wünsche sind. Und wie schwer es uns selbst oft fällt, genau so zu sein und zu handeln anderen gegenüber. Und dennoch wünschen wir es uns jetzt und heute. Denn mit dem Eintritt in das Elternsein hat eine neue Zeit begonnen für uns, eine neue Zeitrechnung, eine neue Verantwortung. Nun sind wir es, die die Last der nächsten Generation auf unseren Schultern tragen und den Wunsch nach einer guten Zukunft für und mit unseren Kindern. Und genau dafür wollen wir alles geben und wünschen genau das von anderen.

Was Eltern seit jeher wünschen

Was wir manchmal übersehen: Unsere Eltern wollten sehr wahrscheinlich das Beste für uns – wenn ihr Weg auch anders aussah. Weil sie in einer anderen Gesellschaft lebten und für eine andere Zukunft erzogen haben. Eine, die schon wieder Vergangenheit ist. Diesen Gedanken sollten wir im Hinterkopf bewahren, wenn wir negativ über die Gedanken und Wünsche der Großeltern denken. Es hat sich viel geändert und Elternschaft heute ist anders als Elternschaft damals. So, wie wahrscheinlich auch ihre Elternschaft sich schon unterschieden hat von denen ihrer Eltern. Wir gehen voran, mit jeder Generation einen Schritt weiter. – Zum Glück, denn heute wissen wir, welche Fehler auf dem Weg der Vergangenheit liegen.

Wir wissen aus der Bindungsforschung, wie wichtig andere Wege heute sind und dennoch fällt uns schwer, andere Wege zu gehen. – Obwohl wir Eltern in unserer Generation es sind, die über das Wissen verfügen: die Elternzeitschriften lesen, Blogs, Artikel und Ratgeber. Viele von uns sind so fortgebildet in Hinblick darauf, wie Elternschaft sein sollte und doch fällt es auch uns oft schwer. Und noch viel schwerer fällt es vielleicht der Generation vor uns, die nicht beständig liest und erfährt, wie und warum heute anders gelebt wird. Die sich fragt: Hab ich denn damals alles falsch gemacht, wenn es heute anders gemacht wird? Und der es vielleicht noch viel schwerer fällt, über die eigenen Schatten der Vergangenheit zu springen. Und vielleicht nicht mal weiß, wie.

Gemeinsam gehen

„Wenn Du etwas wünschst, sprich es aus!“ Manchmal sind wir verleitet, zu denken, dass sich unsere Wünsche erfüllen, weil sie Wünsche sind. Aber im Zusammensein mit anderen ist es hilfreich, die eigenen Wünsche direkt zu benennen. Das fällt uns nicht immer einfach und manchmal sogar richtig schwer – gerade dann, wenn wir selbst oft erfahren haben, dass unsere Wünsche missachtet oder unsere Bedürfnisse übersehen wurden. Doch jetzt, in Bezug auf unsere Kinder und unsere eigenen erwachsenen Bedürfnisse ist es wichtig, zum Benennen zurückzukommen – oder es zu lernen. zu sagen „Ich brauche…“, „Es hilft mir…“ statt „Du musst…“ oder „Du solltest…“

Manches Mal mag es so sein, dass die neu gebackenen Großeltern all das mitbringen, was wir uns von ihnen wünschen. Dass sie uns genau so unterstützen, wie wir es wollen, dass sie mit ihren Enkelkindern genau so umgehen, wie wir es erträumen. Manchmal aber kann es anders sein und unsere Ideen und Vorstellungen könnten nicht weiter voneinander entfernt sein.

Es lohnt sich, den Weg gemeinsam zu versuchen, auch wenn er anfangs steinig sein mag. Es lohnt sich, zu versuchen, den anderen erst zu verstehen und dann zu erklären, warum wir heute anders leben. Es lohnt sich, weil wir als Eltern uns dieses Miteinander wünschen, weil wir Hilfe brauchen. Und, weil es für unsere Kinder schön ist, in den Großeltern weitere Bindungspersonen zu finden, die sie auf ihrem Weg begleiten. Das Familienleben in einer Großfamilie war nie immer nur rosarot und einfach. „Das Dorf“ war schon immer an vielen Stellen auch ein Zweckverbund. Manchmal ist das Erklären nicht zweckmäßig, sondern wir kommen nur über das Handeln durch zu neuen Ideen und Veränderungen.

Ideen für Großeltern, um ihnen Bindung praktisch zu vermitteln

Das Baby in einer Tragehilfe tragen lassen

Das Baby massieren lassen von Großmutter/Großvater

Ihnen das weinende Baby geben, damit sie es auf dem Arm beruhigen

Ihnen das Baby „übersetzen“: „Schau, jetzt schaut es Dich an und will spielen.“

Ihnen immer wieder vermitteln: Du kannst es nicht verwöhnen.

Manchmal ist das nicht einfach, den Weg gemeinsam zu gehen. Es kann hilfreich sein, Wünsche genau auszusprechen: „Bitte bring uns eine gekochte Suppe vorbei.“ „Du hilfst mir sehr, wenn Du mir aus der Drogerie etwas mitbringst.“ „Es freut das Baby und hilft ihm, eine Beziehung zu Dir aufzubauen, wenn Du es trägst.“ Bindungsorientierte Großelternschaft beginnt genau da, wo auch bindungsorientierte Elternschaft beginnt: Auf Augenhöhe, mit dem Ernstnehmen der Gefühle und Bedürfnisse des anderen. Und dann zu sehen, wie gemeinsam ein guter Weg gefunden werden kann. Das bedeutet, von beiden Seiten ein wenig entgegenzukommen und sich in der Mitte zu treffen. Das bedeutet, Signale zu übersetzen und zusammen nach Lösungen zu suchen. Das bedeutet, den anderen erst einmal anzunehmen und dann zu erklären, wie es heute anders geht. Möglichkeiten aufzeigen, statt Handlungen zu erwarten.

Auf diese Weise können wir nach und nach zusammen kommen, vereint in dem Wunsch nach dem besten für das neue Kind und mit wachsendem Verständnis dafür, dass „das Beste“ heute anders ist als damals.

Es gibt Konstellationen, in denen sehen wir, dass wir keine gemeinsame Lösung finden in der ein oder anderen Sache. In einigen Situationen ist es ausreichend, sich gegenseitig nur zu akzeptieren. Und es gibt Familienkonstellationen, in denen die Differenzen unüberbrückbar sind und es keinen weiteren Weg gibt, als getrennte Wege zu gehen. Das ist in Ordnung. Jede Familie geht ihren Weg. Aber wenn wir uns Unterstützung und Hilfe wünschen, müssen wir uns heute erst einmal zusammen auf den Weg begeben, um ein neues Bewusstsein für Großelternschaft zu entwickeln.

Eure

 

Susanne Mierau ist u.a. Diplom-Pädagogin (Schwerpunkt Kleinkindpädagogik), Geburtsvorbereiterin, Familienbegleiterin und Mutter von 3 Kindern. 2012 hat sie „Geborgen Wachsen“ ins Leben gerufen, das seither zu einem der größten deutschsprachigen Elternblogs über bindungsorientierte Elternschaft gewachsen ist. Sie ist Autorin diverser Elternratgeber, spricht auf Konferenzen und Tagungen, arbeitet in der Elternberatung und bildet Fachpersonal in Hinblick auf bindungsorientierte Elternberatung mit verschiedenen Schwerpunkten weiter.  

Wenn das Leben intensiv beginnt – Hilfe für Eltern mit Babys auf der Intensivstation

Manchmal kommt es ganz anders als geplant. Susanne Bürger hat genau dies erlebt: Die Geburt ihres zweiten Kindes verlief anders als gedacht und nach kurzer Zeit haben sie sich auf der Intensivstation wiedergefunden und es standen Operationen an. Im Interview berichtet sie, was an Kliniken fehlt, wie Familien in einer solchen Situation unterstützt werden sollten und warum sie ein Buch zu diesem Thema geschrieben hat.

1. Susanne, Du hast das Buch „Wenn das Leben intensiv beginnt“ geschrieben, ein Elternbegleitbuch für die Zeit in der Kinderklinik. Wie kam es dazu?

Ratgeber und Fachbücher begleiten mein eigenes Leben immer schon. Fehlendes Wissen oder Lösungsideen bei eigenen Themen habe ich mir immer aus Fachbüchern/Ratgebern geholt. Ich lese selbst unheimlich gerne und viel und meine Regale sind schon immer gut gefüllt. Für mich war das immer eine Ressource, wenn gerade im Gespräch keine Person mit Rat zu Seite stehen konnte. Mir selbst  gab das immer ein gutes Gefühl. So war es auch schon in meiner ersten Schwangerschaft, daß ich zwei Stillbücher hatte, anschliessend Bücher zu gesunder Beikost, Bücher zu kindlichen Entwicklungsschritten,etc.. Besonders interessierten mich immer schon die Themen Beziehung und Bindung, da ich selbst in der Generation geboren wurde, in der man die Babys noch in Säuglingszimmer legte und alle 4 Stunden der Mama zum Fläschchen geben brachte. In der 2. Schwangerschaft wollte ich mich noch etwas besser auf die Geburt vorbereiten und habe mit Hilfe der „Hypnobirthing-CD“ und des Buches eine schöne Geburt erlebt. Relativ schnell stellte man bei unserem Sohn in der Klinik jedoch fest, dass er zur weiteren Behandlung in eine Kinderklinik verlegt werden musste. 48 Stunden nach der Geburt fanden wir uns morgens um 6 in einem kleinen Zimmer mit der diensthabenden Ärztin wieder, die uns erklärte, dass unser Sohn schon auf dem Weg in den OP sei. Sie wollte jetzt noch schnell die Formalitäten klären. Ich war einfach auf „ sowas“ nicht vorbereitet. Es gab in den Untersuchungen in der Schwangerschaft keine Anzeichen einer Erkrankung. Ich hatte einfach nicht damit gerechnet, daß ein Kind, das scheinbar gesund mit einem guten Apkar-Wert geboren wird, trotzdem schwerwiegende Erkrankungen haben und bekommen kann. Aus heutiger Sicht kann ich nicht mehr sagen, warum ich so naiv dachte. Da uns aber nun drei längere Klinikaufenthalte mit drei großen Operationen bevorstanden, hat mich das komplett aus der Bahn geworfen und es dauerte ein paar Tage bis ich außer Weinen wieder etwas denken konnte. Eltern schalten dann in eine Art „ Funktionsmodus“. Mein Mantra war nur noch: Ich mache das hier, aber ich will es bestmöglichst tun!“ Aber wie geht dieses „ Bestmögliche“? Da wir kein Einzelfall waren, da es ja mehrere Kinderkliniken in Deutschland gibt und um uns herum ja auch andere Eltern saßen, musste es ja auch wie zu allem Bücher dazu geben. Fehlanzeige…Ich fand das nochmal erneut schlimm nicht auf meine alte Ressource zurückgreifen zu können. Viele Frauen haben sowieso Schuldgefühle und isolieren sich mit Schamgefühlen. Es gibt viel Bücher darüber, warum Bonding direkt nach der Geburt so wichtig ist, über die Vorteile des Stillens und vor allem aber der Bedeutung der Nähe zum Baby. Das natürlichste Grundbedürfnis von Nähe und Elternsein wird in Kliniken aus medizinischen Gründen allein nicht immer möglich sein. Aber was können Mütter in Kliniken tun, die vom ersten Tag an, nur Milch abpumpen dürfen, vielleicht gerade nicht bei ihrem Baby schlafen können, teilweise nicht mal in den Arm nehmen dürfen…Was können diese Mütter trotzdem tun und was macht Sinn, wenn man es nicht kennt und selbst gerade nicht richtig nachdenken kann….Ein Jahr nachdem bei uns die emotionalen Wunden dieser Zeit immer besser heilten, habe ich beschlossen, dass ich es weiterhin nicht richtig finde, dass es kein einziges Buch für Eltern gibt, dass mehrere Themenbereiche in einem kleinen Kompendium abdeckt. Das Wissen um Selbstcoachingmethoden, wie ich mir selbst Kraft geben kann und meine Ressourcen stärke, ist kein Wissen, daß in der Breite vorhanden ist. Da ich selbst viel Energie daraus gezogen habe, meine mir bekannten Coachingmethoden für mich anzuwenden, ist es mir ein großes anliegen, das Wissen auch anderen zugänglich zu machen. Ich habe viele betroffene Eltern interviewt und viele Fachleute befragt, was sie Eltern aus ihrem Fachbereich empfehlen würden und tara…das Buch war endlich geboren! 

2. Die Geburt Deines zweiten Sohnes und der anschließend lange Klinikaufenthalt waren eine schwere Zeit für Dich. In Deinem Buch schreibst Du, dass die medizinische Versorgung oft sehr gut ist in Kliniken, aber es fehlt an anderen Dingen. Was ist Dir persönlich und im Gespräch mit anderen aufgefallen: Woran mangelt es besonders in der Begleitung von Familien in dieser Situation?

Ja das ist so, wir haben eine wunderbare medizinische Versorgung in Deutschland. Auch wir hatten das Glück von einem großartigen Kinderchirurgen die Operationen durchführen zu lassen. Ich möchte auch ausdrücklich dafür werben, sich dies bei allen Missständen und der Diskussion zum Thema Pflegenotstand und Notstände in Kliniken in den Medien trotzdem vor Augen zu halten. Viele Eltern von (Extremst-)Frühchen oder Babys, die schon früh operiert werden müssen, werden das bestätigen. Es ist unglaublich, was medizinisch möglich ist. Jeder Arzt und jede Pflegekraft tut jeden Tag ihr Bestes zum Wohle der Allerkleinsten. Die andere Seite ist, dass heute Kinder sehr gute Lebenschancen haben, die noch vor 20 Jahren eine geringe bis keine Erwartung gehabt hätten. Allerdings ist es auch so, dass so individuell jedes Kind und sein Start ins Leben verläuft, so individuell sind auch die Persönlichkeiten der Eltern. Eltern, die in Kinderkliniken neben den Betten von verkabelten Babys sitzen, denen mehrere Infusionsschläuche gelegt wurden und bei denen immer irgendein Gerät piept, müssen aus meiner Sicht psychosozial aufgefangen werden. Es gibt Kliniken, die in dem Bereich vorbildlich unterwegs sind. Aber das sind noch nicht alle und ich würde mir eine flächendeckende Unterstützung für die Eltern wünschen. 

Die meisten dieser Eltern haben längere Fahrtzeiten zu einer spezialisierten Kinderklinik, was dazu führt, dass oft die Mutter unter der Woche komplett alleine beim Baby auf der Station sitzt. Ohne soziales Umfeld in der Nähe, den Partner und weitere eventuelle Kinder entfernt. Die zusätzliche Trennung zu der Kliniksituation ist sehr belastend. Ich habe keine einzige Mutter kennengelernt, die nicht in tiefer Sorge und Verzweiflung am Bettchen sitzt. Ich habe im Rahmen des Buches mit einigen Pflegekräften gesprochen, die gerne alle mehr Zeit für die Mütter hätten. Aber die auch ehrlicherweise sagen, dass der Job auf der Neonatalen Intensivstation eine so hohe Konzentration erfordert und ein Teil der Arbeit, den die Patienteneltern gar nicht mitbekommen (die rechtliche Dokumentationspflicht) einen nicht zu unterschätzenden Anteil ihrer Arbeitszeit einnimmt. Zeiten, die sie lieber für längere Gespräche mit den Eltern nutzen würden. Dazu kommt ebenso, dass Pflegekräfte hochspezialisiert ausgebildet sind, aber nicht für den Bereich der psychosozialen Hilfestellung. Mütter, die tiefe Traurigkeit, Schuldgefühle oder/und Scham fühlen, brauchen eine professionelle Begleitung. Während unserer Aufenthalte gab es einen katholischen Seelsorger, den man ansprechen konnte. Aber was ist, wenn ich zur Kirche keinen Zugang habe? Mit einem Mann nicht sprechen möchte oder kann? Oder durch meine Religion habe ich zur katholischen Kirche keinen Zugang? Ich hatte wie viele Frauen nach Geburten zum Beispiel auch das verlangen so etwas wie ein „Wochenbett“ zu erleben. Gerne hätte ich einfach mal nur die Beine hochgelegt, um mich von der Geburt zu erholen. Es gab Gartenstühle, die man leicht zurückklappen konnte. Frauen nach Kaiserschnitten dient das nicht unbedingt zur körperlichen Genesung, wie ich in vielen Fällen miterleben konnte. Wenn aber in reinen Kinderkliniken, medizinische Höchstleistung für die Allerkleinsten vollbracht wird, ist für die Mütter wenig Raum. Das ist besonders bei einer Verlegung in eine reine Kinderklinik zu spüren, die nicht mit der Geburtsklinik zusammenhängt. Viele der interviewten Mütter hätten sich vor allem gewünscht, daß sie einen Ansprechpartner haben, mit dem sie Ängste, Sorgen und Nöte hätten besprechen können und der ihnen vielleicht auch in eher sachlich/medizinisch geprägten Gesprächen mit dem Arzt zur Seite steht oder auch danach nochmal zur Verfügung steht. 

3. Wie sieht für Dich eine optimale Versorgung aus, wenn Kinder in die Klinik müssen? 

An erster Stelle steht natürlich die medizinische optimale Versorgung der Allerkleinsten. Alle Kliniken sind zwar daran interessier einen bindungsorientierten Aufenthalt vor allem zur Mutter zu ermöglichen, aber räumliche Möglichkeiten allein sind nicht überall gleich. Hier gibt es es noch Optimierungsbedarf. In meiner Klinik der Zukunft müsste Müttern überall die Möglichkeit zur Unterbringung in Nähe der Babys gewährleistet werden. Auf der Neointensiv sind Übernachtungen nicht möglich. Ich betone auch ausdrücklich, dass in der Kliniksituation der eigene Schlaf auch extrem wichtig ist und man sich diese Ruhephasen auch gönnen soll. Ich würde mir aber wünschen, dass es grundsätzlich mehr Unterbringungsmöglichkeiten in Elternzimmern in der Klinik oder in der fußläufigen Nähe geben sollte. Nähe ist zum Gesunden so wichtig für das Kind und entstresst sowohl Kinder als auch Mütter. Es ist unnötig seine Fahrtzeit zur Klinik wegen fehlender Betten auf der Autobahn jeden morgen zu verbringen. Zeit, in der man besser beim Kind sein könnte. Eltern werden heute überall in die Versorgungs- und Pflegezeiten mit eingebunden und sind kein Fremdkörper auf Station. Das begrüße ich sehr, da gerade diese Zeiten mit dem Baby nicht einfach nur eine „Wickelzeit“ oder „abgepumpte Milch sondieren“ ist, sondern ebenso in den Bindungsaufbau fällt wie ausserhalb der Klinik und daher extrem wichtig ist! 

Psychosoziale Hilfsangebote für Eltern müssten vielfältiger sein. Elternrunden, in denen man sich zusammenfinden kann, die geleitet sind, können genauso ein Ansatz sein, wie Elternberater auf den Stationen. Mehr Menschen, die Mut machen, und mit denen man über Sorgen, Ängste Nöte reden kann. Anleitungen wie man Kraft tankt im Klinikalltag und wie man seine Ressourcen aktiviert, die jeder hat. Von all dem wünsche ich mir in Zukunft viel mehr. 

Es bedarf mehr Personen, die ausschliesslich diesen Bereich abdecken und das wäre meine Vision für die moderne zukunftsorientierte Kinderklinik. Ein immer noch großes Tabuthema spreche ich im Buch auch an: Hospiz- und Sterbebegleitung. Wer bereitet Eltern darauf vor, wenn ihr Baby vielleicht nicht überleben wird. Trauer- oder Hospizbegleiter müssten mit jeder Kinderklinik in engem Austausch stehen und ebenso auf Abruf da sein.

4. Was können wir als Gesellschaft bzw. jede*r einzelne tun, wenn eine Familie im Familien- oder Freundeskreis in eine solche Notsituation kommt? Gibt es Hilfen, die auch Außenstehende anbieten können?

Da sein! Im Rahmen der eigenen Kompetenzen und Möglichkeiten seinen Teil anbieten. Das sozial funktionierende Netz ist überlebenswichtig. Eltern sollte ermöglicht werden, jede freie Minute beim Baby zu sein. Das heißt für alle drum herum, jede Kleinigkeit bewirkt in der Summe das Große. Wenn ich zu weit weg wohne, kann ich durch Telefonate und motivierende Gespräche, die Eltern stärken. Wenn ich NachbarIn bin, kann ich Einkäufe mit übernehmen, Wäsche, Geschwisterkinder betreuen, alles was an lästigen Alltagsdingen anfällt. Manchmal ist es die mit gekochte Mahlzeit. All dies sind Dinge, zu denen oft die letzte Kraft fehlt. Mir brachte eine Mutter aus der Kita Blumen in die Klinik in der Mittagspause, habe mich da sehr gefreut! Sollte ich warum auch immer, zu weit weg wohnen und nicht aktiv unterstützen können. Selbst ein Gutschein für eine Putzfee, Massage, Essengehen und was einem gut tut, kann der Familie in dem Fall helfen. Selbst Tankgutscheine können bei der Fahrerei zur Klinik und zurück für viele eine große Entlastung sein. Man sollte die Eltern vor allem mit seinen eigenen Themen und Sorgen nicht weiter schwächen. Damit meine ich eher die Personen, die enger dran sind. Eltern sind in diesen Situationen nicht in ihrer Kraft. Es ist der falsche Zeitpunkt darüber zu sprechen, wann sie gedenken, dass Baby taufen zu lassen. (Berichtete mir eine Mutter)   Eltern brauchen Menschen, die sie stärken, die ihnen gut zu reden und ihnen immer wieder aufs Neue versichern, daß sie die Kraft haben das zu schaffen. Wenn man sich im Krankenhaus um eine aufgelöste Freundin oder Mutter/Schwiegermutter kümmern muß, entzieht das den Eltern Kraft, die sie für das Baby benötigen. Aus eigener Erfahrung ist mir hier etwas Persönliches noch wichtig. Wir leben in einer Leistungsgesellschaft und schaffen Alles und sind es oft gar nicht mehr gewöhnt um Hilfe bitten zu müssen. Es ist uns unangenehm und viele haben es verlernt das soziale Netz um Hilfe zu bitten. Gerade Frauen, die jobmässig so geprägt sind, könnte es nicht leicht fallen um Hilfe zu bitten. Frauen die dann in solche Notsituationen geraten, sollte man vielleicht nochmal fragen, wenn man auf die erste Frage, wie man helfen kann, nicht direkt eine konkrete Antwort erhält. 

Susanne Bürger arbeitet seit 2011 selbständig als systemisch ausgebildeter Coach und wingwave-Coach. Nach der Geburt ihres zweiten Kindes und den anschließenden Krankenhausaufenthalten hat sie das Elternbegleitbuch „Wenn das Leben intensiv beginnt“ geschrieben.

vonguteneltern: Bindung ist ein Regenbogen der Möglichkeiten

Für eine gute Bindung musst Du stillen, musst Du Stoffwindeln benutzen, musst Du… Für eine gute Bindung solltest Du feinfühlig auf die Signale Deines Kindes reagieren. Für die einen ist das Tragetuch dabei gut, für die anderen Stoffwindeln, für wieder andere das Abhalten. Das Handwerkszeug für eine gute Bindung kann ganz unterschiedlich aussehen. Darüber habe ich bei Anja hier geschrieben.

vonguteneltern: Interviews gesucht zu „Stillen ist bunt“

Ich habe drei Kinder gestillt und jede Stillgeschichte ist ein wenig anders, hat einen anderen Beginn, ist anders verlaufen, hatte ein anderes Ende – auch zeitlich. Wenn ich mir die Stillgeschichten der Frauen meiner Umgebung ansehe, sehe ich auch hier: Stillen ist immer wieder ganz unterschiedlich. Unter „Stillen ist bunt“ berichtet Hebamme und IBCLC Anja hier davon, wie unterschiedlich das Stillen ist und sammelt verschiedene Stillgeschichten, um zu zeigen: Es gibt nicht den einen weg, sondern viele verschiedene.

„Nein, meins!“ – Ich will genau dieses Spielzeug JETZT!

Zwei Kinder sitzen im Sandkasten, eines von ihnen spielt mit einem kleinen Trichter und lässt den Sand hindurch rieseln in eine kleine Wasserschüssel, wo der Sand sich sogleich mit Wasser voll saugt und zu Matsch wird. Wie hypnotisiert sieht das andere Kind einen Moment zu, steht dann auf, geht hinüber, und reißt den Trichter aus der Hand. Es entsteht ein Streit um den Trichter – beide wollen ihn haben. Aber steht wirklich der Besitz hinter diesem Streit? Eine ähnliche Situation, die sich oft in Kinderzimmern von Geschwistern abspielt: Das kleine Kind sieht dem größeren Geschwisterkind beim Spielen zu, rennt zu ihm, reißt das Spielzeug aus der Hand, rennt weg, spielt kurz damit und wirft es dann achtlos in die Ecke. Was passiert hier?

Das belebte Objekt

Wenn sich Kinder um einen Gegenstand streiten, denken wir oft, dass es um den Besitz geht. Wir denken, das andere Kind möchte dieses andere Ding haben, möchte es besitzen und wir regen dazu an, Sachen zu teilen, weil wir denken, es würde darum gehen, sich einen Gegenstand auszuleihen. Wenn der Gegenstand dann den Besitzer oder die Besitzerin gewechselt hat, ist das Interesse an dem Gegenstand auch oft schon verloren. „Aha, es ging nur darum, den eigenen Willen durchzusetzen!“ sind Eltern dann oft verleitet zu denken. Oft aber geht es, gerade bei Babys und kleinen Kindern, nicht um den Besitz und auch nicht darum, den eigenen Willen durchzusetzen, sondern um die Erfahrung, die dahinter steht. Dieses Wissen, das Verstehen des Kindes, kann verändern, wie wir mit einer solchen Situation umgehen und das Kind betrachten. Und selbst dann, wenn es manchmal um das Besitzen geht, lohnt sich ein Blick auf die wirklichen Gründe dahinter, warum Besitz ein wichtiges Thema für Kinder ist.

Entwicklungsressourcen

Das Kind, das den Trichter haben möchte, sieht das andere Kind, sieht wie es Freude hat bei dem Spiel und dass es damit eine spannende Erfahrung macht. Es sieht, dass das Kind etwas lernt, experimentiert. Genau das möchte es auch: lernen und experimentieren, sich weiter entwickeln, einen Entwicklungsvorteil erwerben. Wie so oft geht es auch hier um Ressourcen, dieses Mal um Entwicklungsressourcen. Es ist also keine böse Absicht des Kindes, es ist kein Machtspiel, sondern ein innerer Entwicklungsdrang, der hinter dem Verhalten steht.

Genau das erkennen wir auch dann, wenn das Kind das Spiel auf einmal beendet und das Spielzeug achtlos zur Seite wirft. Oft passiert das dann, wenn es dieses Spiel, das es gesehen hat, nicht nachahmen kann, wenn es nicht die gleiche Erfahrung damit machen kann wie das andere Kind. Vielleicht, weil es dafür noch zu klein ist, wie oft bei Geschwistern zu beobachten ist: Eben sollte es dieses Spielzeug noch unbedingt sein, nun ist es schon nicht mehr interessant, wo es doch endlich in der Hand gehalten wird.

Warum nur „teilen“ oft nicht hilft

Das andere oder größere Kind nur zum Teilen aufzufordern, bringt deswegen meist keinen Erfolg in einer solchen Streitsituation: Denn nur durch den Besitz des Gegenstandes wird der eigentliche Wunsch hinter dem „Habenwollen“ nicht erfüllt. Im schlechtesten Fall sind durch die Aufforderung des Teilens zwei Kinder frustriert: Das Kind, das teilen soll (und seinen Besitz abgeben muss, der für das ältere Kind sehr wichtig ist, siehe unten) und das Kind, das mit dem Gegenstand eigentlich nichts anfangen kann.

Hilfreich ist deswegen, wenn wir das andere Kind begleiten im Experimentieren damit oder von Anfang an Alternativen anbieten können bspw. bei Spielsachen, die doppelt vorhanden sind. Eltern, die sowieso mitspielen und im Sandkasten eine eigene Schaufel haben, können ihre Schaufel als Alternative anbieten. Andere Kinder zum Teilen aufzufordern, ist oft schwierig, denn es ist wichtig, auch sie nicht aus ihrem Spiel und ihrer aktuellen Entwicklung heraus zu reißen. Sie brauchen einen geschützten Raum, in dem sie sich in Ruhe beschäftigen dürfen und gerade unter Geschwistern ist es auch wichtig, eigenen Besitz zu haben, der nicht geteilt werden muss.

Besitz

Besitz ist in der Vorschulzeit etwas, das die eigene Position in der Gruppe stärkt oder auszeichnet. Geht es im Wegnehmstreit nicht um das Ausprobieren, kann auch der reine Besitz eine Rolle spielen. Auch hier geht es aber wieder um eine Entwicklungsressource und nicht um eine böse Absicht: Zu sehen, wohin ich gehöre, wie ich mich in der Gruppe bewege und welche Stellung ich habe. Manchmal nehmen Kinder anderen Kindern Dinge weg, um diese soziale Position zu hinterfragen und auszumachen. Auch dies ist normal und wichtig.

Kreativer Umgang mit Konfliktsituationen

Wie immer in Streitsituationen ist es gut, Kinder auch eigene Möglichkeiten und Lösungen finden zu lassen. Manchmal ist dies nicht möglich, und wir müssen eingreifen, um zu unterstützen. Langfristig ist es hilfreich, den Kindern zu vermitteln, dass nach gewünschten Dingen gefragt werden kann. Auch hier ist das Vorbildverhalten der Eltern wieder wichtig: Nehmen wir Dinge einfach aus der Hand oder fragen oder bitten wir zuvor?

Teilen ist ein wichtiger Meilenstein der Entwicklung, aber das freiwillige Teilen erwerben Kinder erst im Laufe der Zeit – es ist, wie viele andere Dinge, eine Frage der Entwicklung.

Deswegen ist es so wichtig, Kinder gut zu begleiten, sie anzuregen, aber nicht zu bestimmen. Wir können ein „gleich“ anbieten, ein „ausleihen“ oder auch einfach vermitteln: Es ist vollkommen in Ordnung, dass Du dieses Ding nicht teilen möchtest, wenn es so wichtig ist. Wir können erklären, dass beispielsweise nicht teilbare Dinge nicht auf den Spielplatz mitgenommen werden, um Konflikten vorzubeugen. Und wir können selber Vorbild sein im Teilen und dem Umgang mit eigenen Dingen, gerade wenn ein Kind etwas von uns Erwachsenen „einfach“ wegnimmt.

Betrachten wir solche Streitsituationen also wohlwollend einmal durch die Augen der Kinder. Dann wird uns klar, dass hinter solchen Streitsituationen keine böse Absicht steckt, kein Fehlverhalten und keine „schlechte Erziehung“, sondern dass sie vollkommen normal und wichtig sind für die kindliche Entwicklung. Und mit diesem Wissen wird es schon leichter.

Eure

 

Kleine Abenteurer*innen, ab in die Wildnis! – Warum Kinder die Natur nicht nur zum Spielen brauchen

Das Dickicht reicht uns bis zu den Schultern. Die Beine sind zerkratzt, die Haare sind zerzaust und unserer Kleidung sieht man den Kampf durchs Unterholz an. Wir schlagen uns mit Stöcken durch das hohe Gras. Ich voran, mein Bruder hinterher. Wir sind mitten in der Wildnis, auf dem Weg zu unserer selbstgebauten kleinen Hütte.

Die stärksten Erinnerungen an meine Kindheit sind die Abenteuer, die ich draußen erlebt habe. Viele davon auf dem Bauernhof bei meinem Opa oder auf dem großen Gelände der Gärtnerei von Freunden. In beiden Orten haben mein Bruder und ich viele, viele Wochenenden verbracht. Und unter der Woche streiften wir in der Stadt durch die Wildnis. Hier trafen sich die Kinder der Straße, hier wurde gekämpft und gebaut, gespielt und geträumt.

Die Trampelpfade unserer Kindheit sind im Buschwerk nur noch für den zu erahnen, der ihre verschlungenen Wege kannte. Längst ist die nächste Generation Kinder groß genug für neue Abenteuer auf dem 500 Meter langen, schmalen Wildnisstreifen.

Doch von Abenteurern ist weit und breit nichts zu sehen. Kein Hämmern dringt aus dem Buschwerk, das den Bau eines Unterschlupfs verraten würde. Kein Indianer-Heulen deutet auf Clan-Kämpfe der verschiedenen Häuserreihen an. Kein Rascheln und Stapfen im grünen Dschungel. Wo sind die Kinder? Dürfen sie dort nicht spielen? Wollen sie dort nicht spielen? Ich tippe mal auf ersteres: Kinder alleine in der Natur, das würde mir als Mutter heute auch den Schweiß auf die Stirn treiben. Und trotzdem sehe ich meine Tochter, wenn sie etwas älter ist als ihre jetzigen zwei Jahre, dort spielen. Weil Natur der Stoff ist, aus dem Erinnerungen gemacht sind. Weil wir Spaß hatten an den Abenteuern und unglaublich viel gelernt haben. Und vor allem, weil das Spielen in der Natur so viel mehr ist, als nur ein Spiel.

Die flurbereinigte Kindheit behindert die kindliche Entwicklung

Für Kinder ist das Spielen in der Natur nicht einfach eine nette Ergänzung zum Alltag. Nein, für Kinder ist das Sein in der Natur essenziell. Kinder entwickeln sich in der Natur. Hier stoßen sie auf Freiheit und kommen mit Unmittelbarkeit in Berührung. Sie erleben Widerstand und gleichzeitig einen Bezug zu ihrer Umwelt und sich selbst. Und mit diesen Quellen, die in keiner künstlichen Welt nachzustellen sind, bauen Kinder das Fundament, das sie durchs Leben trägt. Die Stunden, die die Kinder in der Natur verbringen, sind reine Entwicklungszeit.

Kinder spielen nicht mit Matsch, sie lernen mit Matsch

Bis die Menschen in Mittel-und Nordeuropa vor 4.000 bis 5.000 Jahren sesshaft wurden, lebten wir Menschen in und mit der Natur. Ein großer Teil der Zeit spielte sich draußen ab. Die Kinder mussten dabei auf ihrem Weg zum Großwerden starke und vielverzweigte Wurzeln ausbilden, die ihr Fundament zum Großwerden darstellen. Wurzeln bilden die Kinder auch heute noch aus. Lernen tun sie täglich.Aber zu 99% passiert das in unserer heutigen Zeit in geschlossenen Räumen. Der Kinderarzt und Autor Herbert Renz-Polster spricht von einem „Flurbereinigten Modell“ der Kindheit.

Den Kindern steckt die Natur aber noch immer im Blut. Im freien Spiel träumen sie sich in uralte Motive. Sie spielen mit Stöcken und imitieren Jagdszenen. Sie bauen Höhlen und Zelte, verstecken sich und suchen Schutz. Sie spielen stundenlang an einem Bach, stauen Wasser auf, vermischen es mit Erde. Sie matschen, kleben und bauen. Und ein Abend am Lagerfeuer, mit Stockbrot, heißen Gesichtern und kalten Rücken ist eine magische Erfahrung für Kinder. All diese Erfahrung sind es, die Kinderaugen abends leuchten lassen: „Heute haben wir ein Abenteuer erlebt“.

Doch Kinder spielen nicht einfach so zum Spaß. Sie lernen, sie arbeiten richtig für ihre Entwicklung, während sie ihre Sinne trainieren. Sie verfeinern ihren Einsatz von Körperkraft und Koordination, während sie auf Bäume klettern und auf rutschigen Steinen balancieren. Und Spielforscher beschreiben, dass Vorschulkinder in der freien Natur die Hälfte ihrer Zeit mit Zählen und dem Erforschen von Formen, Mustern und dem Sortieren verbringen. Sie machen sich mit den Grundkonzepten der Mathematik und Physik vertraut. Natürlich wissen sie das nicht und das ist auch nicht wichtig. Aber für uns Erwachsene mag es wichtig sein, das zu wissen. Kinder spielen nicht ohne Grund. Sie lernen im Spiel. Dabei schöpfen sie den Reichtum aus, den die Natur ihnen für ihre Entwicklung bietet.

Zeit und Raum schenken – unter freiem Himmel

In unserer Erziehung achten wir darauf, dass die Phantasie und Kreativität bei unseren Kindern nicht zu kurz kommt, dass sie empathisch mit anderen Menschen und Lebewesen umgehen, dass sie selbstsicher sind und im Falle eines Risikos richtig handeln. All das lässt sich mit Stofftieren und auf asphaltierten Höfen nicht planbar anerziehen. Aber all das finden Kinder draußen. Wir sollten wieder mehr auf die Fähigkeiten ihrer eigenen Entwicklung vertrauen. Sie sind hungrig nach Abenteuern und suchen sich dabei ihre Nahrung. Sie haben eine Intuition dafür, was sie für ihre Entwicklung benötigen und sind mit Feuereifer dabei, sich das notwendige Handwerkszeug zum Aufwachsen in ihrem Spiel anzueignen.

Doch dafür brauchen Kinder Zeit und Raum. Beides Dinge, die heute Mangelware sind. Statt stundenlang draußen zu spielen, gehen wir mit den Kindern „mal für eine Stunde raus“. Wir blockieren die Räume, in denen Kindern ihre Spiele gestalten wollen. Wir haben einen Ort im Sinn, wenn wir mit den Kindern nach draußen gehen. Und dieser Ort ist nicht die verwilderte Brachfläche, auf der es keine Bank zum sitzen, keine Kommunikation mit anderen Eltern und – für uns Eltern – auch wenig zu sehen gibt. Doch es sind genau diese verwilderten Brachen oder die vergessenen Ecken der Planer auf Spielplätzen oder Parks, die die Kinder so magisch anziehen. Hier suchen und finden sie Nahrung für ihre Entwicklung in ihrem Spiel.

Wir wussten oder ahnten zumindest, dass Natur wichtig ist für Kinder. Jetzt wissen wir auch, dass sie nicht nur wichtig für ihr Spiel, sondern essenziell für ihre Entwicklung ist. Und wir sollten versuchen, für unsere Kinder wieder ein Stück weit Richtung Natur zu gehen.

Ein naturorientiertes Aufwachsen ist auch heute noch möglich, auch als Stadtkind. Wie das geht, welche Hindernisse es geben kann und was „Natur“ in Deutschland alles ausmacht, darüber erzähle ich euch in den nächsten Folgen dieser Kolumne. Damit meine Tochter bald Spielkamerad_innen findet, um mit ihnen durch die Wildnis zu stromern. Immer auf der Suche nach neuen Abenteuern.

Veronika hat Biologie, Naturschutz und Landschaftsplanung studiert und ist Mutter einer Tochter. In ihrer Kolumne „Naturorientiertes Aufwachsen“ berichtet sie von Wegen, auf denen Kindern die Liebe und der Respekt zur Natur als Samenkorn mitgegeben werden können.  Mehr über Veronikas Arbeit und ihre aktuellen Texte zu grünen Themen findet ihr auf ihrer Homepage, Instagram oder Twitter.

 

Unser Weg mit einem Schreibaby – „Meine Tochter brauchte gefühlt immer mehr von allem: mehr Milch, viel mehr Nähe“

Schreibabys, Babys mit starken Bedürfnissen, High Need Babys – noch immer sind diese Themen oft mit Scham besetzt, es gibt viele Vorurteile und falsche Informationen. In der Reihe „Unser Weg mit einem Schreibaby“ wollen wir dieses Thema aus der Nische holen, Menschen sensibilisieren und betroffene Eltern unterstützen.
Hier berichtet Stephanie über ihren Weg mit einem „Schreibaby“: Ein Baby, das immer etwas mehr brauchte von allem. Wenn Du über Deine Erfahrung berichten möchtest, schreib an [email protected]

1. Stephanie, Deine Schwangerschaft startete nicht ganz so, wie es bei den meisten anderen. Welche Hindernisse musstet Ihr am Anfang überwinden?
Ja das stimmt, nach einer langen Kinderwunschzeit mit einigen Steinen, startete meine Schwangerschaft mit Blutungen. Wir hatten die erste Zeit permanent Angst dieses kleine Wunder zu verlieren.

2. Nach dieser schweren Zeit, ging es aber glücklicherweise ganz anders weiter: Wie hast Du die restliche Schwangerschaft und Geburt erlebt?
Die Schwangerschaft war schön und ich hatte wenig Probleme. Wir freuten uns unendlich auf unsere Tochter. Ich sang ihr jeden Abend ein Schlaflied vor und mein Mann cremte den Bauch ein. Als es langsam Richtung Ende der Schwangerschaft ging, wurde ich nervös weil sich meine Tochter nicht drehen wollte. In der 37. SSW sagte der Arzt mir, das ich sie auch in Steißlage bekommen könnte und ich beschäftigte mich gar nicht mehr wirklich mit einem Kaiserschnitt. Für mich bzw. uns war auch völlig klar, dass sie nicht geholt werden sollte, sie sollte sich auf den Weg machen wenn sie soweit ist. Die Wehen kamen und wir gingen, rückblickend betrachtet vielleicht zu früh, ins Krankenhaus. Dort ließ man uns eigentlich in Ruhe. Ich und mein Mann arbeiteten uns gemeinsam durch die Wehen. Durch die Steißlage wird in die Geburt am Anfang ja kaum eingegriffen weil die Kraft am Ende zur Geburt des Kopfes benötigt wird. Letztendlich verbrachten wir die nächsten über 30 Stunden in diesem Krankenhaus mit Wehen, die mal ganz regelmäßig aller 5 Minuten kamen aber auch Zeiten wo nur aller 10-15 Minuten eine Wehe kam. Irgendwann war ich so am Ende, weil ich auch permanent brechen musste, dass ich mir nicht mehr vorstellen konnte mein Kind normal zu gebären. Ich bat um einen Kaiserschnitt, meine Tochter sollte somit am selben Tag wie mein Papa geboren werden. Für mich war der Kaiserschnitt eine Erlösung, nicht das was ich wollte aber doch irgendwie richtig. Meine Tochter war perfekt, mein Mann hielt sie für mich und ließ sie auch die erste Stunde nicht aus den Augen und Armen, auch zu jeglichen Untersuchungen begleitete er sie. Dann kamen die beiden mit der Hebamme zu mir und das Stillen klappte vom ersten Moment an und es war die ganz große Liebe. Durch die tolle Vorbereitung im Geburtsvorbereitungskurs unserer Hebamme, wussten wir genau was wir beim Stillen beachten mussten und was erste Hungeranzeichen des Babys sind.

3. Als Ihr nach dem Kaiserschnitt dann nach Hause kamt: Wie ging es Dir und Euch? Wie ist Deine Tochter bei Euch zu Hause angekommen?
Uns ging es hervorragend, natürlich hatte ich Schmerzen aber wir hatten eine tolle Hebamme, die uns schon im Geburtsvorbereitungskurs sagte, dass das Wochenbett fürs Bett gedacht ist, dass man die erste Woche wirklich nur im Bett bleiben sollte und der Mann möglichst am Anfang seine  Elternzeit nehmen soll. Durch den Kaiserschnitt konnte ich am Anfang wirklich nicht so gut Laufen und so übernahm mein Mann das Spazieren. Zu diesem Zeitpunkt konnte er noch stundenlang mit unserer Tochter im Kinderwagen spazieren gehen. Die Nächte waren von Anfang an durchstillt. Sie zeigte, wie schon im Krankenhaus, die ersten Hungeranzeichen und so könnten wir prompt reagieren. Sie ließ sich nicht ablegen, geschweige den weglegen aber wir genossen es und sie schlief abwechselnd auf mir oder meinem Mann tagsüber. Nachts versuchte ich sie immer in ihr Beistellbett zu legen aber diese 10 cm Abstand gefielen ihr nicht. Nichts was ich für den Anfang als ungewöhnlich bezeichnen würde. Unser Stillen klappte super gut, so als ob wir beide noch nie etwas anderes gemacht hätten. Am Anfang war alles „normal“.

4. Das erste Anzeichen dafür, dass Deine Tochter anders als andere Dir bekannte Babys war, hast Du also am Stillen festgemacht?
Ja sie trank gut aber auch gefühlt permanent und irgendwann um die 8. Woche fing sie an meine Brust anzuschreien. Ab diesem Zeitpunkt fand sie nur, wir nennen es liebevoll „schuppelnd“ also quasi wackelnd, in den Schlaf. Stundenlang hopste ich auf dem Pezziball, trugen wir sie auf dem Arm im Fliegergriff oder gingen mit dem Tragetuch spazieren, was aber nicht selten darin endete, dass wir sie versuchten abzulegen und letztendlich wachte sie doch immer auf. Irgendwann stillte sie nur noch im Liegen, also musste ich unterwegs immer mit ihr zum Wickeltisch gehen und sie so stillen, anders funktionierte es einfach nicht, auch zu Hause stillten wir nur noch so. Sie zeigte keine frühen Hungeranzeichen mehr sonder schrie immer sofort los und ließ sich kaum beruhigen.

5. Wann wurde bei Euch der Alltag schwieriger und wie gestaltete er sich?
So ungefähr 2 Wochen bevor mein Mann wieder arbeiten musste, sie musste immer bewegt werden. Stehen bleiben oder Sitzen ging nicht, Stillen ging nur noch im Liegen. Ohne meine Hebamme, die mich dazu ermutigte durchzuhalten und auch eventuelle Blockaden abklären zu lassen, hätte ich wahrscheinlich viel eher aufgehört zu Stillen. So haben wir bis 2,5 zum Einschlafen gestillt und erst in diesem Sommer, auf meinen Wunsch hin, aufgehört. Mein Mann schlief ein Jahr auf dem Sofa weil er früh immer extrem zeitig auf Arbeit pendeln musste und meine Tochter nachts permanent aufwachte und schrie und sich manchmal einfach durch nichts beruhigte oder stundenlang wach war oder durchstillte. Sie fuhr nicht gern Auto, ich sang manchmal gefühlt um mein Leben, weil dass das Einzige war, was sie im Auto etwas beruhigte. Leider dachten wir zu diesem Zeitpunkt auch, dass wir die 25 km zu unseren Eltern jedes Wochenende fahren müssten. Ich hatte das Gefühl nicht zu genügen und wir hatten immer wieder das Gefühl etwas falsch zu machen, etwas Entscheidendes zu übersehen. Meine Tochter brauchte gefühlt immer mehr von allem, mehr Milch, viel mehr Nähe. Am schlimmsten waren die Stimmen von außen, die uns wirklich nur helfen wollten aber mich eigentlich nur verunsicherten und das war für uns nicht wirklich besser. Am Anfang beruhigte mich meine Hebamme noch weil sie noch unter 3 Monaten war aber irgendwann sagte auch sie, dass wir das beim Orthopäden überprüfen lassen sollten und dieser fand dann Blockaden, unter anderem auch im Halswirbel, das sogenannte KISS (Kopfinduzierte Symmetriestörung) Ich kann nicht sagen ob es ihr wirklich half, sie blieb trotzdem immer unzufrieden, wollte nur auf den Arm und selbst im Tragetuch gefiel es ihr nicht wirklich und um jeden Schlaf mussten wir kämpfen. Sie ist nie einfach mal eingeschlafen. Mit einem Jahr sollte sie eigentlich in die Krippe kommen aber wir entschieden uns sie zu einer Tagesmutter zu geben, bei ihr konnte sie sich langsam eingewöhnen und auch an Mittagsschlaf ohne Stillen gewöhnte sie sich bei ihr durch viel Nähe. Jetzt ist sie mittlerweile im Kindergarten und es funktioniert wunderbar. Eine Krippe wäre trotzdem nichts für sie gewesen, sie mochte noch nie große Menschenmengen.

6. Wie hat Euer Umfeld auf Eure viel weinende Tochter reagiert?
Sie haben versucht eine Lösung zu finden. Entweder man dachte sie hat Bauchweh (Nummer 1 Grund) oder es war das Stillen oder wir waren einfach zu weich und hätten sie abhärten müssen. Das kam für uns nicht in Frage und darauf haben wir uns heute erst ein High Five gegeben, weil wir zum Glück diese Hebamme hatten, die uns auf den Bedürfnisorientierten Weg gebracht hat. Heute finde ich es einfach furchtbar, dass niemand einfach dieses Kind so akzeptiert hat wie es war und so konnte auch ich es lange nicht akzeptieren. Auch unsere Vorstellungen passten nicht mit der Realität zusammen. Wir haben vor der Geburt viel Sport zusammen gemacht und nach der Geburt dachten wir, wir können sie einfach mitnehmen und sie mit dem Kinderwagen in eine Ecke stellen und trainieren, weil ging ja bei anderen auch. Viele haben uns nicht verstanden, weil gefühlt alle Kinder in unserer Umgebung entspannt und zufrieden waren. Ein totaler Tiefpunkt war eine Familiengeburtstagsfeier, da war ein anderes gleichaltriges Baby und das guckte nur rum und unsere Tochter schrie im Fliegergriff. Eigentlich hätten wir einfach gehen sollen aber wir dachten halt, irgendwie muss der Alltag doch normaler werden. Auch wenn Freunde zu Besuch waren schrie sie und ich musste mit ihr in einen ruhigen Raum gehen. Ehrlich gesagt, hätte ich vor meiner Tochter, auch gedacht, dass die Eltern da wohl was falsch machen.

7. Nun ist sie schon 3 Jahre alt. Wie ist Euer Alltag heute?
Das Thema Schlaf ist weiterhin ein Empfindliches, wenn in unserem Viertel irgendwo ein Kind weint, denken wir prompt, dass es unseres ist. Sie findet auch heute noch sehr schlecht in den Schlaf und wacht häufig auf, es ist aber schon viel besser wie früher. Außerdem ist sie so ein emphatischer und glücklicher kleiner Mensch. Sie geht so offen auf Leute zu und hat schon früh morgens ein Lächeln auf den Lippen. Ich würde trotzdem sagen, dass sie auch heute noch herausfordernder ist als andere Kinder, diese gewisse Unzufriedenheit hat sie auch heute noch. Sie braucht einfach ein bisschen mehr von allem. Aber durch vieles Lesen verstehen wir unsere Tochter, sie ist einfach etwas ganz besonderes und hat uns in unserer Entwicklung so viel weiter gebracht! Ich bzw. wir haben so viel auch über uns gelernt aber wir haben auch wirklich ein kleines Babytrauma davon getragen.

Weitere Erfahrungsberichte gibt es hier:
Unser Weg mit einem Schreibaby – Julia von familiengarten berichtet
Unser Weg mit einem Schreibaby – Nina, ihr Baby und Reflux
Unser Weg mit einem Schreibaby – Sarah und ihr Weg nach traumatischer Geburt