„Die Alten wussten, dass das Herz eines Menschen, der sich der Natur entfremdet,
hart wird.
Sie wussten, dass mangelnde Ehrfurcht, Wertschätzung von allem Lebendigen und allem,
was da wächst, bald auch die Ehrfurcht und Wertschätzung vor den Menschen absterben
lässt.
Deshalb war der Einfluss der Natur, der die jungen Menschen feinfühlig machte, ein
wichtiger Bestandteil ihrer Erziehung.“
Luther Standing Bear, Lakota, 1868 – 1939
Die Natur als wichtiger Bestandteil der Erziehung – ist sie das auch heute noch? Werfen wir einen Blick auf die Gesellschaft von heute, so scheint das nicht mehr der Fall zu sein. Und das „einen Blick darauf werfen“ ist bereits ein Indiz dafür. In den Pisa-Wunderländern in Asien sind über 90% der Kinder kurzsichtig. Das ist kein Zufall. Sie sind im Schnitt weniger als eine halbe Stunde draußen. Und draußen, im Sonnenlicht passiert etwas mit den Augen der Kinder, was wie eine Bremse für Kurzsichtigkeit wirkt: Intensives Licht wirkt dem Wachstum des Auges entgegen. Das kindliche Auge braucht pro Tag mehr als 2 bis 3 Stunden helles Licht (kein helles Tablet-Licht, sondern natürliches, helles Licht!), damit es sich nicht in die Länge streckt und weiterhin in die Ferne scharf sehen kann. Das scharfe Auge gehört zu einem Leben draußen in der Natur dazu. Und schlechtere Augen sind nur eine von vielen gesundheitlichen und psychischen Auswirkungen, die eine Abkehr von der Natur zur Folge hat.
Altes Wissen zugänglich gemacht
Doch es gibt eine Bewegung, die immer größer wird und die die Natur als Bestandteil der Erziehung wieder entdeckt: Die Wildnispädagogik.
Wildnispädagogik tauchte als Begriff erstmals 2002 auf und ist immer noch relativ unbekannt. Mit ihren Inhalten beschäftigen sich jedoch immer mehr Wildnisschulen, die Seminare und Camps anbieten, um das Wissen und die Zusammenhänge der Natur weiterzutragen.
Sie alle orientieren sich an den traditionellen Lehrmethoden der nordamerikanischen Ureinwohner. Die Linie der Wildnispädagogik lässt sich direkt zu einem der letzten Scouts der nordamerikanischen Ureinwohner zurückverfolgen. Es waren drei Männer, die mit der Wildnispädagogik von heute das Wissen und die Kenntnisse der Ureinwohner von damals einer breiteren Masse zugänglich machten.
Einer der drei war der wohl letzte nordamerikanische Ureinwohner, der ein Leben in völliger Freiheit außerhalb der Reservate des »Weißen Mannes« lebte. Er tat dies noch Jahrzehnte nachdem die Bundesbehörden den Tod des „letzten“ frei lebenden Ureinwohners – Ishi, dem letzten Überlebenden der Yana – 1916 beklagt hatten. Sein Name war Stalking Wolf. Er lebte ein Leben abseits der Zivilisation und war dennoch nah dran. Er beobachtete die Weißen, wusste um ihren Lebensstil, beherrschte alle möglichen Überlebenstechniken, und hatte ein umfassendes Wissen um die verschiedensten amerikanischen Ökosysteme, weshalb er in keinerlei Weise auf die Zivilisation angewiesen war.
Stalking Wolf war in seinen 70er Jahren, als er auf seinen Schüler und geistigen Erben Tom Brown jr. traf. Tom war gerade am Fluss spielen und suchte nach uralten Versteinerungen, als Stalking Wolf in sein Leben trat. Er war zu diesem Zeitpunkt ein Junge von sieben Jahren, und die Verkörperung einer Vision, die Stalking Wolf über seinen legitimen Erben viele, viele Jahre vorher, erschienen war. Tom und ein verwandter Junge von Stalking Wolf im gleichen Alter wie er, erhielten in den folgenden zehn Jahren eine umfassende Ausbildung zum Scout, wie sie seit Jahrhunderten viele Kinder dieser Erde erhielten.
Sie hatten wohl Glück, dass ihre Eltern ihr Tun draußen nicht als „Unsinn“ abtaten und sie gewähren ließen. Tom Brown wurde ein junger Wilder. Nach seiner zehnjährigen Lehre bei Stalking Wolf wanderte er weitere zehn Jahre durch Amerika – fernab von dem Hamsterrad und den Zwängen der amerikanischen Zivilisation des späten 20. Jahrhunderts. Schließlich wurde er zum besten Freund der Polizei. Denn nur er schaffte es, die spurlos verlorenen Vermissten zu finden, die Verbrecher aufzuspüren sowie scheinbar unklärbaren Kriminalfällen zu lösen.
Im Südosten der USA gründete er schließlich eine Schule „The Trackerschool“, mit der er den Grundstein einer weltumgreifenden Bewegung legte. Seinen Schüler Jon Young leitete er auf die gleiche Weise wie Stalking Wolf einst ihn selbst zum Scout an. Young ist der dritte im Bunde, dem wir heute diese Bewegung zu verdanken haben. Er hat die Wildnispädagogik schließlich gesellschaftskonform werden lassen. Sein Handbuch „Mit dem Coyote-Guide zu einer tieferen Verbindung zur Natur“ enthält die notwendigen Grundlagen der Wildnispädagogik und ist das Standardwerk für alle, die sich mit diesem Thema näher beschäftigen wollen.
Uraltes Naturwissen in die heutige Gesellschaft einbringen
Wichtig ist aber, dass die Wildnispädagogik nicht zum Ziel hat, Kinder und Erwachsene zu wilden Wesen werden zu lassen, die fernab der Zivilisation im Untergrund leben. In den zahlreichen Wildnisschulen, von denen es in Deutschland mit die größte Bewegung in Europa gibt, wird lediglich an das alte Wissen angeknüpft. Es werden nicht nur Überlebenstechniken gelehrt, sondern vor allem die Vermittlung eines ökologischen Bewusstseins; eine Weltanschauung, die Respekt und Ehrfurcht vor der Natur bewahrt und ein Leben mit der Erde lehrt.
Mit ihrer Arbeit sorgen sie dafür, dass Eltern und Erziehungsberechtigte das an die Hand bekommen, was abhanden gekommen ist. Ein Gefühl und ein Gespür, wie die Natur ein Bestandteil der Beziehung zu den Kindern sein sollte. Damit die Wertschätzung für alles Lebendige, für unseren Planeten, weitergetragen werden kann. Von unseren Kindern, für unsere Enkel.
„Deshalb war der Einfluss der Natur, der die jungen Menschen feinfühlig machte, ein wichtiger Bestandteil ihrer Erziehung.“
Ich blicke mich um in dieser Gesellschaft und sehe, dass die Natur kein selbstverständlicher Teil der Erziehung/Beziehung zu den Kindern mehr ist. Ich blicke auf mich selbst und meine Familie und sehe, dass auch hier bei uns die Natur noch keinen genügenden Platz in unserem Familienleben hat. Ich lese viel, bilde mich fort, eigne mir theoretisches Wissen an. Doch in der Praxis, im alltäglichen Leben, fällt es mir schwer, dieses Wissen umzusetzen und an mein Kind weiterzugeben. So kam es zu meiner Recherche über Wildnisschulen. Ich suche nach einem Ort, an dem wir alle, groß und klein, Erfahrungen machen dürfen. Wo wir unseren Weg finden dürfen, um eine noch stärkere Verbindung zur Natur zu erleben.
Ich glaube, dieser Sommer führt uns in eine Wildnisschule. Um zu lernen, was die Natur für uns bereithält und wie wir sie in unseren Alltag und in die Beziehung mit unserem Kind noch besser mit einbinden können.
Habt ihr bereits Erfahrungen mit Wildnisschulen gemacht? Welche Programme haben euch gut gefallen, was würdet ihr weiterempfehlen?
Veronika hat Biologie, Naturschutz und Landschaftsplanung studiert und ist Mutter einer Tochter. In ihrer Kolumne „Naturorientiertes Aufwachsen“ berichtet sie von Wegen, auf denen Kindern die Liebe und der Respekt zur Natur als Samenkorn mitgegeben werden können. Mehr über Veronikas Arbeit und ihre aktuellen Texte zu grünen Themen findet ihr auf ihrer Homepage, Instagram oder Twitter.