Eigentlich ist es klar, dass wir als Elternteil hinter unseren Kindern stehen, sie beschützen und umsorgen. Und dennoch gibt es immer wieder Situationen, in denen es uns schwerfällt, wirklich für das Kind einzustehen. Insbesondere dann, wenn andere Personen unser Verhalten oder das des Kindes bewerten oder ein bestimmtes Verhalten vom Kind einfordern. Auf einmal verschwinden unsere Vorsätze und Forderungen oder Verhaltensweisen, die wir eigentlich nicht zulassen wollen, werden doch erlaubt. Vielleicht denken wir, dass sich das nur auf die Beziehung des Kindes zu dieser anderen Person auswirkt, aber als Bezugsperson sind wir auch hier involviert.
Das Bindungssystem ist ein Schutzsystem
Das Bindungssystem ist aus Sicht des Kindes ein Schutzsystem: Es dient dazu, dass die Bedürfnisse des Kindes, das sich noch nicht selbst versorgen kann, erfüllt werden. Durch diese Bedürfniserfüllung bildet das Kind ein Vertrauen aus in andere Menschen und erlebt sich als wirksam und wertvoll, weil auf seine Signale und Bedürfnisse entsprechend eingegangen wird. Dieses Vertrauen in sich und andere legt einen Grundstein dafür, wie das Kind auch zukünftig mit der Umwelt und sich umgeht. Zu den Bedürfnissen gehören dabei nicht nur beispielsweise Nahrung und Schlaf, sondern auch das Bedürfnis nach Sicherheit und der Schutz vor Gewalt in ihren verschiedenen Formen. Die Bezugspersonen sind dafür zuständig, diesen Schutz zu bieten.
Wann Bezugspersonen schützen und begleiten sollten
Wenn das Kind eine Situation erlebt, in der es Schutz beansprucht, weil es sich beispielsweise ängstigt, sollte daher eine Bezugsperson zur Seite stehen und diesen Schutz anbieten. – Und zwar unabhängig davon, ob die erwachsene Person diese Situation selbst als bedrohlich oder ängstigend empfindet.
Die Bewertung der erwachsenen Person kann sich durchaus auf das Kind auswirken: Allein durch die Körpersprache vermitteln wir, ob wir eine Situation ebenfalls als bedrohlich wahrnehmen, oder nicht. Das Kind nimmt diese Signale wahr und reagiert auf unsere Einschätzung der Situation. Negativ ist allerdings, wenn wir dem Kind die Angst oder das Schutzbedürfnis absprechen: „Jetzt stell dich aber mal nicht so an!“ oder sogar über die Angst des Kindes lachen „Haha, der will doch nur spielen!“
Es ist hilfreich, die Angst des Kindes in einer Situation, in der sie nicht begründet ist, anzunehmen und dem Kind zu vermitteln, dass es sich nicht sorgen muss. Dies aber zunächst auf dem Boden der Annahme: „Ich merke, dass du Angst hast, ich gehe mal voran.“ oder „Du möchtest nicht, dass der Hund so nah an dich herankommt, ich nehm dich auf den Arm und er darf an meiner Hand schnuppern.“
Auch in Bezug auf das übergriffige Verhalten anderer Personen ist es wichtig, dass wir gegenüber dem Kind die für die Beziehung so wichtige Schutzposition einnehmen: Wenn das Kind nicht gekitzelt werden möchte, dies der anderen Person klarmachen. Das Kind vor Körperkontakt schützen, den es nicht will wie „Küsschen geben“ oder Händeschütteln. Und auch vor psychischer Gewalt verdient das Kind Schutz, wenn andere Menschen übergriffig sind, es beispielsweise als „Heulsuse“ bezeichnen oder „Angsthasen„.
Schutz kostet manchmal Überwindung
Es ist manchmal nicht einfach, diesen Schutzauftrag zu erfüllen, der für die Beziehung so wichtig ist. Dies insbesondere dann, wenn wir als Bezugsperson selber einer unseren Bezugspersonen gegenüberstehen, die wir als Instanz erlebt haben: eigene Eltern, ältere Familienangehörige und wir uns nun, obwohl es immer eine Hierarchie gab, in der ihre Entscheidungen über unseren standen, nun entgegentreten müssen. Auch in anderen sozialen Kontexten in der Öffentlichkeit erscheint es manchmal schwer, die eigene Haltung zu vertreten und das Kind zu schützen: Zu groß ist die Angst, als schlechtes Elternteil bewertet zu werden, das in den Augen der anderen falsch erzieht. Schließlich ist das Gefühl, zur Gemeinschaft zu gehören, so wichtig für Menschen.
Dennoch: Als Bezugsperson müssen wir diese Schamgrenzen überwinden und für das Kind einstehen. Es braucht uns als sicheren Hafen, als Schutzinstanz, aus deren Sicherheit heraus es die Welt entdecken kann. Es muss darauf Vertrauen können, dass wir für dieses Kind einstehen – denn wer sollte es sonst, wenn nicht die nahen Bezugspersonen?
Eure
Zur Autorin:
Susanne Mierau ist Diplom-Pädagogin (Schwerpunkt Kleinkindpädagogik) und Familienbegleiterin. Sie arbeitete an der FU Berlin in Forschung und Lehre, bevor sie sich 2011 im Bereich bedürfnisorientierte Elternberatung selbständig machte. Ihr 2012 gegründetes Blog geborgen-wachsen.de und ihre Social Media Kanäle sind wichtige und viel genutzte freie Informationsportale für bedürfnisorientierte Elternschaft und kindliche Entwicklung. Susanne Mierau gibt Workshops für Eltern und Fachpersonal und spricht auf Konferenzen und Tagungen über kindliche Entwicklung, Elternschaft und Familienrollen.
Foto: Ronja Jung für geborgen-wachsen.de