Was brauchen Kinder für ein glückliches Aufwachsen? Sie wollen gesehen werden als der Mensch, der sie sind. Sie brauchen Bezugspersonen, die sie anerkennen, ihre Bedürfnisse wahrnehmen, richtig interpretieren und dann passend darauf antworten. Das klingt einfach, ist es dann aber oft im Alltag doch nicht. Denn es ist gar nicht so einfach, sich auf einen anderen Menschen einzulassen, auf seine Signale, aber auch auf dieses enge Miteinander. Schnell verlieren sich Eltern in Einzelfragen, statt das große Ganze der Beziehung im Blick zu behalten.
Den Erziehungsstil gestalten
Kinder brauchen eine feinfühlige Begleitung. Das bedeutet nicht, dass wir alle Entscheidungen vorsichtig und zart treffen müssen, sondern dass Eltern sehen müssen, was dieses Kind an Begleitung braucht: Ist es eher schüchtern und braucht Unterstützung und Ermutigung, sich den Herausforderungen des Alltags zu stellen, damit es lernt, sich gut in der Welt zurechtzufinden? Oder ist es eher temperamentvoll und braucht Erklärung und etwas Beruhigung, um gute Beziehungen aufzubauen und andere nicht zu überfordern? Was ist gerade der Entwicklungsraum des Kindes, wie kann ich es darin unterstützen zu lernen, was es gerade lernen will und wo braucht es vielleicht Hilfe, um sich dem zuzuwenden?
Wir können uns vorstellen, dass Feinfühligkeit in der Mitte liegt zwischen den Extremen der Kontrolle und der Unresponsivität. Kontrolle meint, dass wir nicht auf die Bedürfnisse und Möglichkeiten des Kindes achten, sondern als Eltern einen ganz genauen Plan haben, den wir durchziehen – unabhängig davon, was das Kind nun will. Da Kinder das Bindungssystem für Kinder äußerst bedeutsam ist, passen sie sich diesem kontrollierendem Verhalten nach und nach an und geben ihr eigenes Selbst auf. Unresponsivität meint, dass auf die Bedürfnisse und Möglichkeiten des Kindes wenig reagiert wird und wenig Interesse an den Bedürfnissen des Kindes besteht. Dem Kind fehlt echte (emotionale) Zuwendung, aber auch Anleitung und Unterstützung und es verinnerlicht, dass es keine besondere Zuwendung von den Bezugspersonen bekommt und keine Bedeutung hat.
Freiheit geben in einem stabilen Rahmen
Wenn wir darüber sprechen, dass Kinder sowohl Führung und Unterstützung, als auch Freiheit brauchen, meinen wir, dass genau diese feinfühlige Balance notwendig ist. Regeln und Strukturen können Halt geben und zeigen dem Kind, dass dort eine stabile Bezugsperson gegenüber ist, die eine grobe Vorstellung von der Welt hat, an der sie sich orientiert und gewillt ist, dem Kind durch die eigene Stabilität diese Welt näher zu bringen, weil sie das Kind wertschätzt und sich wünscht, dass das Kind gut in der Welt zurecht kommt und sich darin sicher fühlen kann. Gleichzeitig erkennt die Person auch das Bedürfnis nach Autonomie und Kontrolle des Kindes an und sieht, an welchen Stellen der Freiraum gegeben werden kann für das eigene Tun und Erforschen, damit das Kind sich als wirksam in dieser Welt erfährt und spürt, dass es die Welt mit seiner Stimme und seinem Handeln beeinflussen kann.
Das Kind erhält also Freiheit in einem stabilen Rahmen. Dieser Rahmen muss mit der Zeit und der fortschreitenden Entwicklung des Kindes wachsen: je mehr Fertigkeiten das Kind erwirbt, desto größer sollte er werden, damit es sich Neuem zuwenden kann. Die Eltern und andere Bezugspersonen sollten im Blick haben, welche Fähigkeiten das Kind gerade hat und wie es diese ausbauen kann, so dass es weder über-, noch unterfordert ist. Es kann sich erproben und weiß, dass es dennoch immer auf die sichere Bezugsperson zurückkommen kann.
Es ist schwer, im oft an Aufgaben vollen Alltag einen Blick auf das Kind zu haben. Der Stress unserer Zeit drängt und oft zu einem eher kontrollierendem Verhalten: „Wir haben jetzt keine Zeit dafür!“, „Nein, du machst das jetzt nicht, ich mach das!“. Auch die Angst davor, dass das Kind sich nicht gut genug entwickeln und vielleicht schlechtere Zukunftschancen haben könnte, kann uns zu mehr Kontrolle verleiten, weil wir bestimmte Lernaufgaben vorschieben, das Kind eher schulisch fördern wollen, statt die grundlegenden Entwicklungsbereiche des Kindes zu ermöglichen durch Eigenaktivität. Auf der anderen Seite kann uns der Stress und die Erschöpfung des Alltags auch dazu verleiten, dass wir (unbewusst) froh sind, wenn wir uns nicht mit dem Kind auseinandersetzen müssen: Wir ziehen uns zurück und überlassen dem Kind die Führung, weil wir zu erschöpft sind und uns mit den Grenzen nicht auseinandersetzen wollen oder einen weiteren Streit heute nicht aushalten, wodurch das Kind langfristig nicht genug Feedback und Orientierung bekommt. Auch Mengen an Spielzeug oder Medien dienen manchmal nicht dem dosierten Entertainment, sondern werden eher genutzt, um selbst Ruhe zu haben. Auf Dauer ziehen wir uns auch damit aus der Beziehungsarbeit, die das Kind eigentlich braucht.
Alle Eltern haben im Alltag mal mehr kontrollierende Anteile, mal mehr unresponsive. Solange sich aber ein feinfühliger roter Faden zeigt, ist das kein Problem. Natürlich ist unser Alltag nicht immer gleichbleibend und manchmal durchleben Familien schwierige Phasen, in denen Erwachsene weniger feinfühlig sein können. Wenn wir allerdings merken, dass – gerade durch den Einfluss der vielen Anforderungen unserer Zeit – wir immer mehr in das ein oder andere Extrem neigen, ist Unterstützung notwendig.
Eure
Zur Autorin:
Susanne Mierau ist Diplom-Pädagogin (Schwerpunkt Kleinkindpädagogik) und Familienbegleiterin. Sie arbeitete an der FU Berlin in Forschung und Lehre, bevor sie sich 2011 im Bereich bedürfnisorientierte Elternberatung selbständig machte. Ihr 2012 gegründetes Blog geborgen-wachsen.de und ihre Social Media Kanäle sind wichtige und viel genutzte freie Informationsportale für bedürfnisorientierte Elternschaft und tragen seit über 10 Jahren maßgeblich zur Verbreitung bedürfnisorientierter Erziehung bei. Susanne Mierau gibt Workshops für Eltern und Fachpersonal und spricht auf Konferenzen und Tagungen über kindliche Entwicklung, Elternschaft und Familienrollen.
Foto: Ronja Jung für geborgen-wachsen.de