Kürzlich wurde ich auf dem Spielplatz von einer Mutter angesprochen – das passiert nicht selten. Sie erzählte mir davon, dass sie sehr glücklich sei, dass es ihr gelungen wäre, einen anderen Weg einzuschlagen als ihre Eltern es in der Erziehung taten und wie wunderbar es sei, bindungsorientiert mit dem Kind zu leben, denn die Auswirkungen dieser Lebenseinstellung wären enorm und sie würde von allen Seiten auch dafür gelobt werden, was für ein ausgeglichenes und freundliches Kind sie habe (obwohl paradoxerweise viele auch kritisieren würden, was sie im einzelnen tut wie das lange Stillen, das Schlafen im Familienbett). Sie dankte mir für meine Bücher, die sie begleitet hätten bei diesem Weg. Und obwohl ich mich sehr geschmeichelt fühlte von den lieben Worten, musste ich ihr auch sagen, dass wahrscheinlich sehr viel von dem, wie ihr Kind ist und sich verhält, einfach aus dem Kind heraus kommt. Dass sie mit ihrer Lebensart das Kind wunderbar unterstütze in seinem Sein und es nicht in eine Richtung zwänge, gegen die es sich aufbäumen müsste, aber letztlich eben besonders auch das Temperament des Kindes das ausmachen würde und es sicherlich auch viele Familien gäbe, die auch so leben und dennoch Kinder hätten, die viel wilder und weniger ruhig und besonnen wären.
Jedes Kind ist anders
Jedes Kind ist anders. Ich weiß nicht, wie oft ich diesen Satz schon geschrieben habe. Und mir selbst gesagt, denn auch hier ist jedes Kind anders. Mein erstes Kind war zweifelsfrei eines, mit dem man stundenlang in einem Café sitzen konnte – und kann. Mein zweites Kind hingegen kann stundenlang durch ein Museum laufen oder im Wald Dinge entdecken – es ist lieber in Bewegung. Bei meinem dritten Kind wird sich noch zeigen, welche Aktivitäten es besonders lieben wird, aber sein Temperament tritt bereits zutage und weist den Weg, in welche Richtung es gehen wird.
„Auch wenn wir durch unseren Erziehungsstil Einfluss nehmen auf die Ausgestaltung des kindlichen Temperaments und sich auch die Erfahrungen, die das Kind im Laufe des Lebens sammelt, darauf auswirken, bleibt eine bestimmte Grundmelodie des Temperaments das ganze Leben lang erhalten.“ habe ich erst kürzlich in meinem Buch geschrieben. Die Temperamente von Kindern werden unterschiedlich beschrieben: gehemmt, ungehemmt, einfach, schwierig. Schon Hippokrates teilte die Temperamente ein in Cholerik, Sanguinik, Phlegamtik, Melancholik und nach ihm wurden diese Bezeichnungen weiter verwendet von Kant, Schiller, Goethe. Diese grobe Einteilung ist heute überholt. Thomas & Chess haben schließlich 9 unterschiedliche Temperamentsdimensionen benannt, die heute genutzt werden und Unterschiede im Aktivitätsniveau, Erregbarkeit, Tröstbarkeit benennen. Manche Menschen sind extrovertierter, andere introvertierter. Wir alle haben unsere spezielle Art – und dies schon von Anfang an. Einige Kinder lieben die körperliche Nähe und das Kuscheln besonders, andere weniger und brauchen mehr Raum für sich, beispielsweise beim Schlafen oder Tragen. Manche Kinder sind wilder, andere ruhiger. Manche sind lauter, andere leiser.
Eigene Erfahrungen nicht verallgemeinern
Es gibt nicht „DAS Kind“, sondern Kinder. Wir können und sollten nicht von einer Erfahrung, von einem Kind auf alle schließen. Wir können nicht sagen: Kinder sind so und so und deswegen müssen Eltern sich so und so verhalten. Es kommt in der Elternschaft darauf an, die richtige Passung zu finden von Elternteil zu jedem einzelnen Kind. Es gibt keine Patentrezepte, sondern nur die individuelle Lösung mit Kindern umzugehen. Für die einen ist mehr Nähe wichtig, für die anderen mehr Weite. Manche brauchen Ruhe zum Einschlafen, andere Geräusche. Oft sind wir verführt davon – gerade wenn wir ein sehr ausgeglichenes, ruhiges Kind haben – zu sagen: Ja, da habe ich ja ganz schön viel richtig gemacht und allein durch meine tolle Erziehung ist das Kind genau so. Aber damit erkennen wir nicht an, wie das Kind wirklich ist und dass es von sich aus eine tolle Persönlichkeit hat, die wir nur begleiten. Kinder sind keine Gefäße, die wir füllen – auch nicht mit Erziehung. Sie bringen ihre Art, ihr Temperament mit und wir sind dafür zuständig, diese Art zu erkennen und angemessen darauf einzugehen. Wenn ein Kind wild und ungestüm ist und nicht gerne still am Tisch sitzt, bedeutet das nicht, dass die Eltern es falsch erzogen hätten. Es bedeutet, dass das Kind diese Art hat und Eltern damit umgehen müssen. Wenn ein Kind als Baby viel weint, bedeutet es nicht zwangsweise, dass die Eltern etwas falsch machen oder Signale nicht berücksichtigen. Es kann auch einfach sein, dass dieses Kind viel empfindsamer ist als andere. Wir sollten uns immer wieder daran erinnern, dass unsere eigene Erfahrung unsere eigene Erfahrung ist und die anderer Familien ganz anders sein kann.
Der Erziehungsstil ist dennoch wichtig
Ja, der Erziehungsstil ist wichtig. Es ist wichtig, wie wir mit unseren Kindern umgehen und dass wir – unabhängig vom Temperament des Kindes – feinfühlig sind. Das angeborene Temperament entwickelt sich in Abhängigkeit von der Interaktion mit der Umwelt zu Persönlichkeitseigenschaften. Es ist wichtig, dass wir Bedürfnisse (die je nach Kind verschieden sein können) sensibel wahrnehmen und darauf reagieren. Eine sichere Bindung entsteht da, wo wir feinfühlig diese Bedürfnisse wahrnehmen und darauf reagieren – aber die angemessene Reaktion kann ganz unterschiedlich sein, wie auch das geäußerte Bedürfnis. Deswegen ist es wichtig, dass wir von außen andere nicht verurteilen: Dass wir nicht sagen: Die trägt ihr Baby weniger, deswegen gibt sie ihm zu wenig Nähe und ist eine schlechte Mutter. Oder dass wir verurteilen, weil ein anderes Kind weniger ordentlich am Tisch sitzt, denn vielleicht ist das einfach nicht das, was seinem Temperament entspricht. Jedes Kind ist anders, jede Familie ist anders und es treffen in jeder Familie verschiedene Temperamente aufeinander. Ein bindungsorientierter Lebensstil ist immer richtig und hilfreich – welches Temperament das Kind auch immer hat – aber die Ausgestaltung dessen kann ganz unterschiedlich aussehen.
Eure