Kategorie: Allgemein

Die Kooperationsbereitschaft von Kindern wahrnehmen

Als Menschen sind wir soziale Wesen. Wir sind sogar in unserem Innersten, in unserem Hormonhaushalt und über unser Motivationssystem auf das Miteinander und Füreinander eingestellt – und das von Anfang an. Kooperation ist ein wesentlicher Bestandteil unseres Handelns und prägt schon das Handeln unserer Kinder: Sie wollen mitmachen, ausprobieren, helfen. Verschiedene Studien belegen, wie sehr schon Kleinkinder kooperieren und auf ein gemeinsames Ziel hin arbeiten.

Das Bindungssystem ist wesentlich mitverantwortlich für diese Kooperationsbereitschaft, denn der Umstand, dass sich ein Kind an eine Bezugsperson bindet, verspricht Sicherheit und Versorgung durch diese Bezugsperson. Kinder sind deswegen darauf ausgerichtet in ihrem Handeln, die Versorgung durch die Bezugsperson nicht zu gefährden. Sie passen sich deswegen auf vielfältige Weise an.

Kinder kooperieren viel – auch wenn wir manchmal nicht das Gefühl haben

Manchmal haben Erwachsene zwar das Gefühl, dass Kinder einfach nicht kooperieren wollen und stur ihre eigenen Ziele verfolgen, was aber daran liegt, dass das Kooperationssystem aus Sicht des Kindes gedacht werden muss. Kooperation bedeutet nicht zwangsweise, dass das Kind die Erwartungen des Erwachsenen uneingeschränkt übernimmt – und auch nicht immer. Neben dem Bestreben nach Kooperation haben Kinder auch das Bedürfnis nach Entwicklung und Lernen – manche Erwartungen und Wünsche von Erwachsenen widersprechen diesem Drang nach Lernerfahrungen, beispielsweise wenn das Kind morgens unbedingt die Jacke selbst anziehen will, der Elternteil dafür aber keine Zeit hat. Der Versuch, das Kind selbst anzuziehen, steht dann gegenüber dem Bedürfnis des Kindes. Es kommt zu einer Auseinandersetzung und das Verhalten des Kindes wird dahingehend interpretiert, dass es nicht kooperieren würde. Eigentlich wollte es das aber – nur eben mit der gewünschten Selbständigkeit.

Auch Müdigkeit, Hunger, Durst oder andere unerfüllte Grundbedürfnisse können die Kooperationsfähigkeit eines Kindes einschränken, sowie Überforderung mit einer Aufgabe oder Erwartungshaltung oder auch unklare Botschaften durch die Bezugsperson (beispielsweise solange Kinder noch keine Ironie verstehen). Jenseits hiervon kooperieren Kinder jedoch jeden Tag an vielen Stellen mit ihren Bezugspersonen. Oft passiert das unbewusst und es lohnt sich, am Ende des Tages einmal zu überlegen, an wie vielen Stellen tatsächlich Kooperation stattgefunden hat – das kann Eltern einen neuen, wertschätzenden Blick auf das Kind ermöglichen.

Wichtig: Kooperation darf nicht auf Kosten der Integrität erfolgen

Der Wunsch des Kindes nach Zugehörigkeit und Verbindung mit der Bindungsperson ist so groß, dass es diese Zugehörigkeit und Verbindung nicht riskieren will. Im obigen Beispiel des Jackeanziehens wird das Kind das Schimpfen der Bezugsperson ertragen, vielleicht wütend sein, kurz noch weniger kooperieren, vielleicht auch weinen. Danach aber wird es wieder in Verbindung gehen zu der Bezugsperson. Das Bindungssystem ist so bedeutsam für ein Kind, dass es dies nicht gefährdet und immer wieder eine Verbindung herstellt. Es bezieht Probleme und Fehler auf sich selbst und stellt in den jungen Jahren nicht die Bezugsperson infrage. Deswegen ist es so wichtig, dass Eltern und andere nahestehenden Personen auf die Integrität des Kindes achten und sich fragen: Habe ich in dieser Konfliktsituation die persönlichen Grenzen des Kindes überschritten?

Jeden Tag sind wir selbst, aber auch unsere Kinder, in einem beständigen Bemühen der Balance zwischen Integrität und Kooperation. Wenn wir merken, dass die Grenzen unseres Gegenüber übertreten oder verletzt wurden, können wir gemeinsam darüber sprechen, für das nächste Mal andere Lösungen überlegen und um Entschuldigung bitten – und damit wieder zur Kooperation zurück gelangen.

Eure

Zur Autorin:
Susanne Mierau ist Diplom-Pädagogin (Schwerpunkt Kleinkindpädagogik) und Familienbegleiterin. Sie arbeitete an der FU Berlin in Forschung und Lehre, bevor sie sich 2011 im Bereich bedürfnisorientierte Elternberatung selbständig machte. Ihr 2012 gegründetes Blog geborgen-wachsen.de und ihre Social Media Kanäle sind wichtige und viel genutzte freie Informationsportale für bedürfnisorientierte Elternschaft und kindliche Entwicklung. Susanne Mierau gibt Workshops für Eltern und Fachpersonal und spricht auf Konferenzen und Tagungen über kindliche Entwicklung, Elternschaft und Familienrollen.

Foto: Ronja Jung für geborgen-wachsen.de

Zur Autorin:
Susanne Mierau ist Diplom-Pädagogin (Schwerpunkt Kleinkindpädagogik) und Familienbegleiterin. Sie arbeitete an der FU Berlin in Forschung und Lehre, bevor sie sich 2011 im Bereich bedürfnisorientierte Elternberatung selbständig machte. Ihr 2012 gegründetes Blog geborgen-wachsen.de und ihre Social Media Kanäle sind wichtige und viel genutzte freie Informationsportale für bedürfnisorientierte Elternschaft und kindliche Entwicklung. Susanne Mierau gibt Workshops für Eltern und Fachpersonal und spricht auf Konferenzen und Tagungen über kindliche Entwicklung, Elternschaft und Familienrollen.

Foto: Ronja Jung für geborgen-wachsen.de

Kinder brauchen klare Ansprachen

Kommunikation ist ein wesentlicher Teil unseres Miteinanders und gleichzeitig fällt es uns manchmal so schwer, miteinander zu sprechen: unsere Wünsche und Erwartungen auszudrücken, uns durch Sprache abzugrenzen oder durch Sprache auf unsere Bedürfnisse aufmerksam zu machen. Während viele Kinder recht klar in ihrem Ausdruck sind, haben wir Erwachsene oft viel größere Schwierigkeiten. Manchmal aus der Angst heraus, als Elternteil unfreundlich oder nicht ausreichend rücksichtsvoll zu sein oder auch aus dem Wunsch heraus, Probleme zu umschiffen. Für unsere Kinder aber ist es wichtig, dass wir klar ausdrücken, was wir uns für uns oder von ihnen wünschen.

Erwartungen und Wünsche klar formulieren

“Könntest du vielleicht bitte den Tisch abräumen?”, “Möchtest du jetzt die Socken wegräumen?” – Was in unseren Erwachsenenohren freundlich und zugewandt klingt, ist für kleine Kinder manchmal nicht eindeutig genug. Sie können unsere Absicht nicht herausfiltern aus der Frage. Deswegen ist es wichtig, dass wir Aufforderungen und Wünsche klar formulieren. Das bedeutet nicht, dass wir deswegen unfreundlich sein müssen: Mit einer zugewandten Körperhaltung, einem netten Tonfall und freundlicher Mimik können wir klar formulieren: “Bitte räum jetzt den Tisch ab.” oder “Bitte räum die Socken jetzt weg.”

Keine doppelten Botschaften, kein Sarkasmus

Doppelte Botschaften sind für Kinder (und oft Erwachsene) ein großes Kommunikationsproblem: Hier wird eine inhaltliche Aussage mit einer anderen, widersprechenden Botschaft kombiniert: “Ich helfe dir gerne, aber das machst du alleine!”, “Sag mir, was du gemacht hast, ich bin nicht böse!” mit bösem Gesichtsausdruck und/oder drohender Körperhaltung sagen. Sarkasmus können Kinder in der Regel in der Kleinkind- und Vorschulzeit noch nicht gut verstehen und reagieren daher falsch (aber aus ihrer Perspektive richtig) auf sarkastische Äußerungen.

Keine Fragen, wenn es eigentlich keine Optionen gibt

“Was soll ich heute zum Abendessen machen?” kann eine lieb gemeinte Frage sein. Wenn das Kind aber ehrlich mit “Pommes und Burger” darauf antwortet und diese Wahl aber eigentlich keine Option ist, kann das zu Konflikten führen. Sinnvoller ist es deswegen, wenn nur dann eine offene Frage gestellt wird, wenn die Antwort des Kindes auch tatsächlich eine Option ist. Kleinkinder können zudem von offenen Fragen und zu viel Entscheidungsfreiheit überfordert sein. Hilfreicher ist dann eine Frage wie: “Möchtest du zum Abendessen Brot oder die Nudeln vom Mittagessen?”

Ein typisches anderes Feld, in dem oft Fragen gestellt werden, obwohl eigentlich eine Aufforderung gemeint ist, ist das Aufräumen: “Möchtest du jetzt dein Zimmer aufräumen?”, “Kannst du jetzt dein Zimmer aufräumen?” Auch hier ist es hilfreich, eine klare Aussage zu treffen, anstatt eine Frage zu formulieren. Der Anspruch, dass ein Kleinkind allein selbständig aufräumen kann, ist oft zu hoch gegriffen. Sinnvoller ist eine klare Aussage wie “Wir räumen jetzt gemeinsam auf. Du sammelst alle Kuscheltiere ein und ich alle Bausteine.”

Uneindeutige Äußerungen führen zu Problemen

Wir wollen unsere Kinder liebevoll und respektvoll begleiten. Das bedeutet allerdings nicht, dass wir nicht eindeutig mit ihnen sprechen können. Wir schaffen es auch nicht, durch liebevolle Ansprachen Konflikte zu umschiffen, die sich daraus ergeben, dass das Kind vielleicht von unserem Wunsch oder unserer Aussage nicht begeistert ist. Im Gegenteil: Uneindeutige Äußerungen von Erwachsenen können zu größeren Konflikten führen, weil das Kind sie nicht richtig versteht, die erwachsene Person deswegen verärgert ist und es dann zum Streit kommt, weil das Verhalten des Kindes als Angriff auf der Beziehungsebene verstanden wird (“Das ist ein Machtspiel!”, “Du willst mich nicht verstehen!”) anstatt auf der Inhaltsebene (Das Kind will gerade nicht aufräumen).

Deswegen: Bedürfnisorientiertes und respektvolles Begleiten von Kindern und eine klare, eindeutige Ansprache schließen sich nicht aus. Im Gegenteil: Sie kann dazu beitragen, offen und lösungsorientiert über Probleme und Bedürfnisse zu sprechen.

Eure

Zur Autorin:
Susanne Mierau ist Diplom-Pädagogin (Schwerpunkt Kleinkindpädagogik) und Familienbegleiterin. Sie arbeitete an der FU Berlin in Forschung und Lehre, bevor sie sich 2011 im Bereich bedürfnisorientierte Elternberatung selbständig machte. Ihr 2012 gegründetes Blog geborgen-wachsen.de und ihre Social Media Kanäle sind wichtige und viel genutzte freie Informationsportale für bedürfnisorientierte Elternschaft und kindliche Entwicklung. Susanne Mierau gibt Workshops für Eltern und Fachpersonal und spricht auf Konferenzen und Tagungen über kindliche Entwicklung, Elternschaft und Familienrollen.

Foto: Ronja Jung für geborgen-wachsen.de

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Susanne Mierau ist Diplom-Pädagogin (Schwerpunkt Kleinkindpädagogik) und Familienbegleiterin. Sie arbeitete an der FU Berlin in Forschung und Lehre, bevor sie sich 2011 im Bereich bedürfnisorientierte Elternberatung selbständig machte. Ihr 2012 gegründetes Blog geborgen-wachsen.de und ihre Social Media Kanäle sind wichtige und viel genutzte freie Informationsportale für bedürfnisorientierte Elternschaft und kindliche Entwicklung. Susanne Mierau gibt Workshops für Eltern und Fachpersonal und spricht auf Konferenzen und Tagungen über kindliche Entwicklung, Elternschaft und Familienrollen.

Foto: Ronja Jung für geborgen-wachsen.de

Als Eltern streiten

Viele Eltern haben ein schlechtes Gewissen, wenn sie sich streiten. Sie fragen sich: Dürfen wir uns streiten? Ist es nicht ein Zeichen unseres Versagens als Eltern, als Paar, zu streiten? Dürfen wir uns vor dem Kind streiten oder nur heimlich? Und wie soll es gehen, heimlich zu streiten und Ärger aufzuheben, wenn das Kind erst einmal noch da ist und nicht schläft? Auch hier haben wir Bilder verinnerlicht, die es uns schwer machen können, den Alltag entspannt zu leben. Denn klar ist: Natürlich gibt es hier und da Unstimmigkeiten zwischen Erwachsenen, die auch geklärt werden müssen.

Wir haben streiten nicht gelernt

Oft haben wir noch aus der eigenen Kindheit verinnerlicht, dass Streit schlecht sei und schnell behoben werden muss: Wenn Kinder sich streiten und Erwachsene eingreifen, geht es oft mehr um die Beendigung des Streits als um wirkliche Problemklärung, bei der beide Seiten respektvoll angehört werden und es zu einer Vermittlung kommt. In unserem vollen Tagesprogramm und oft hoher Stressbelastung scheint nicht noch der Raum dafür zu sein, sich ewig mit einer Streiterei unter Kindern zu beschäftigen. Und im Streit zwischen Erwachsenen und Kind ist ein Diskurs oft nicht erlaubt, zu tief ist verankert, dass Erwachsene Recht haben müssen, um die Macht innerhalb der Familie zu erhalten und das Kind nicht zu einem Tyrannen werden darf durch Mitspracherecht.

Wir haben also ein ziemlich schlechtes Bild von Streit verinnerlicht und oft keine gesunde Streitkultur verinnerlicht, weshalb es uns auch innerhalb von Erwachsenenbeziehungen schwerfällt, gut mit Streitsituationen umzugehen.

Es geht um das Wie

Wenn es nun zu einer Meinungsverschiedenheit zwischen Erwachsenen innerhalb der Familie kommt, kann uns die fehlende Streitkultur daran behindern, einen Streit gut auszutragen oder überhaupt erst zu erlauben. Auch die verinnerlichte Angst, es könnte sich negativ auf das Kind auswirken, kann uns daran behindern, den Diskurs zu eröffnen. Der Gedanke, Streit innerhalb einer Familie wirke sich negativ auf das Kind aus, hält sich hartnäckig in unseren Köpfen. Dabei geht es auch hier – wie in vielen zwischenmenschlichen Bereichen – um das Wie und nicht um das Ob.

Werden Konflikte zwischen Erwachsenen innerhalb der Familie destruktiv ausgetragen, kann sich das durchaus negativ auf das Kind auswirken: Sie können das Gefühl der (emotionalen) Sicherheit des Kindes verringern, zu Anpasungsproblemen, psychischen Schwierigkeiten, schulischen Problemen und Problemen im Umgang mit Gleichaltrigen führen. Destruktive Konflikte mit verbaler oder körperlicher Gewalt, Feindseligkeit, Blockadeverhalten, aber auch Rückzug und Meidung sind daher nicht gut für das Familienklima und das Wohlergehen des Kindes.

Konstruktive Streitigkeiten sind aber durchaus “erlaubt” und können das Familienklima sogar verbessern. Wir streiten uns schließlich, weil es uns um etwas Wichtiges geht. Für das Kind, das ein Problem zwischen den Erwachsenen spürt oder erfährt, ist es sogar hilfreich, wenn es die Lösung dessen auch erfahren kann. Für konstruktive Streitgespräche ist es sinnvoll, dass wir einander zuhören und beide Seiten zu Wort kommen lassen. Auch wenn sich manchmal einige Themen angestaut haben, bis es zu einem Streit kommt, ist es hilfreich, nicht zu pauschalisieren, sondern bei konkreten Situationen und einem Thema zu bleiben und bei sich und den eigenen Gefühlen: erklären, wie man sich fühlt und warum das so ist ohne Beleidigungen und Abwertungen der anderen Person. Es ist hilfreich, nicht das Schlechteste zu unterstellen, sondern von der bestmöglichen Annahme des Verhaltens auszugehen und der anderen Person auch im Streit wertschätzend zu begegnen und gemeinsam eine Lösung zu finden. Manchmal findet sich nicht gleich ein passender Kompromiss, sondern wir brauchen Zeit, um eine gute Lösung zu finden.

Es ist wichtig, dass wir unseren Kindern eine gute Streitkultur beibringen, indem wir ihre Streitigkeiten begleiten und ihnen eine Hilfestellung geben beim Regeln von Konflikten. Gleichzeitig sind wir aber auch in unseren eigenen Streitigkeiten Vorbild dafür, dass sie eine neue Streitkultur verinnerlichen können.

Eure

Zur Autorin:
Susanne Mierau ist Diplom-Pädagogin (Schwerpunkt Kleinkindpädagogik) und Familienbegleiterin. Sie arbeitete an der FU Berlin in Forschung und Lehre, bevor sie sich 2011 im Bereich bedürfnisorientierte Elternberatung selbständig machte. Ihr 2012 gegründetes Blog geborgen-wachsen.de und ihre Social Media Kanäle sind wichtige und viel genutzte freie Informationsportale für bedürfnisorientierte Elternschaft und kindliche Entwicklung. Susanne Mierau gibt Workshops für Eltern und Fachpersonal und spricht auf Konferenzen und Tagungen über kindliche Entwicklung, Elternschaft und Familienrollen.

Foto: Ronja Jung für geborgen-wachsen.de

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Susanne Mierau ist Diplom-Pädagogin (Schwerpunkt Kleinkindpädagogik) und Familienbegleiterin. Sie arbeitete an der FU Berlin in Forschung und Lehre, bevor sie sich 2011 im Bereich bedürfnisorientierte Elternberatung selbständig machte. Ihr 2012 gegründetes Blog geborgen-wachsen.de und ihre Social Media Kanäle sind wichtige und viel genutzte freie Informationsportale für bedürfnisorientierte Elternschaft und kindliche Entwicklung. Susanne Mierau gibt Workshops für Eltern und Fachpersonal und spricht auf Konferenzen und Tagungen über kindliche Entwicklung, Elternschaft und Familienrollen.

Foto: Ronja Jung für geborgen-wachsen.de

Echte Erinnerungen festhalten oder wie wir Kinder bindungsorientiert fotografieren können

Ich erinnere mich an das erste Kennen-Lernen meiner gerade geborenen Tochter und ihrer Oma. Das Kind schlief und seine Großmutter beugte sich voller Begeisterung über es und fotografierte ihm ins Gesicht. Mit Blitz. Und auch später gab es immer wieder Situationen in denen das fotografiert werden von bestimmten Menschen für meine Kinder zu großem Unwohlsein und Unsicherheit geführt hat. Situationen in denen ich das deutliche Gefühl hatte, dass das Fotografieren auf kosten der Bindung ging, zumindest auf die Art und Weise. Ich musste erst lernen, in solchen Situationen einzugreifen und die richtigen Worte parat zu haben. Zum Beispiel zu sagen: “komm, beschäftige dich doch mit deinem Enkel und ich mache ein Erinnerungsfoto von euch beiden zusammen!”.

Ich verstehe das festhalten wollen vom Klein-sein, von den Kindheitsmomenten, das Dokumentieren der Meilensteine und auch ich versuche Täglich Kindheitserinnerungen in Bildern einzufangen, für mich und für meine Kinder. Und seit vielen Jahren auch für andere Familien, denn ich bin dokumentarische Familienfotografin, das festhalten von Kindheitserinnerungen ist mein Beruf.

Das letzte, was ich sagen würde ist, “hört auf eure Kinder und Babys zu fotografieren!“. Ganz im Gegenteil! Aber ich kann ein paar Tipps geben für alle, die die Kindheitsmomente in schönen Erinnerungsfotos festhalten möchten, ohne dabei den Moment zu stören oder den Kindern das Gefühl zu geben, sie müssten in irgendeiner Weise etwas für die Kamera tun oder sein.

Keine Aufforderungen beim fotografieren

Wenn wir Bilder machen wollen, die es später schaffen uns in der Zeit zurück zu versetzen und uns zu erinnern, wie unsere Kinder in dieser besonderen Phase waren, was sie gespielt haben und welchen Gesichtsausdruck sie dabei hatten, dann sollten wir keine Aufforderungen beim fotografieren machen. Wenn wir nicht eingreifen sondern einfach still und unauffällig die Situation nebenbei fotografieren, gelingt es echte Erinnerungen einzufangen. Viele von uns sind so sozialisiert, dass wir es gewohnt sind für ein Foto zu lächeln und in die Kamera zu schauen. Und auch unsere Kinder möchten kooperieren und werden schon nach wenigen Malen “guck mal in die Kamera” oder “lächel mal in die Kamera” in die Kamera schauen und ein Lächeln aufsetzen, sobald sie eine Kamera sehen. Das nicht zu tun, bedeutet nicht, dass wir keine Portraits von unseren strahlenden Kindern mehr machen, aber es bedeutet, dass wir auch all die anderen Momente ohne zu stören dokumentieren können und dass wir, wenn wir ein Lächeln fotografieren, ein echtes Lächeln fotografieren können, das uns bestimmt ist und nicht der Kamera.

Die Kamera nicht vor dem Gesicht halten sondern durch den Bildschirm fotografieren

Die meisten haben mittlerweile eine Kamera, mit der man nicht nur durch den Sucher fotografieren kann sondern auch über den Bildschirm. Der Vorteil davon ist, dass wir nichts vor dem Gesicht haben, das den Augenkontakt stört. Wir können auch beim fotografieren weiter in Beziehung gehen, uns unterhalten und mit unseren Kindern im Moment sein. Das Fotografieren geschieht mehr nebenbei und es gelingt sogar, das Kind oder die Kinder aus Elternsicht zu fotografieren. Die verschiedenen Ausdrücke meiner Kinder, wie sie mich ansehen und meine Sicht auf sie ist definitiv etwas, an das ich mich erinnern möchte!

Frage dich: “Woran möchte ich mich erinnern”?

Wenn wir uns selbst fragen, woran wir uns erinnern möchten und auch, woran möchte ich, dass sich meine Kinder später erinnern, dann gelingt es uns besser, genau diese Momente in Erinnerungsfotos einzufangen. Es hilft, diese Dinge auch ab und zu aufzuschreiben. Zum einen ist es auch in geschriebenen Wort eine Dokumentation dieser Dinge, die uns helfen wird sie zu erinnern. Und zum anderen hilft es uns, Bilder von genau den Momenten, Situationen, Beziehungsmomenten und Eigenheiten unserer Kinder zu machen, die wir aus ihrer Kindheit erinnern möchten. Stell dir vor, du hast in 30 Jahren eine Kiste mit Fotos, die deine Erinnerung stützen an all die Details der Kindheit, die du jetzt so gern festhalten möchtest.

Kommuniziere mit den Kindern, warum du fotografierst

Meine Kinder sind es so gewohnt, nebenbei fotografiert zu werden und es ist sogar so, dass sie es nicht nur tolerieren sondern mögen. Ich denke, das liegt vor allem daran, dass ich ihnen sage, dass ich diesen Moment mit ihnen so schön finde, dass ich ihn erinnern möchte. Und dass es Momente sind, in denen ich ganz bei ihnen bin und nicht nebenbei Haushalt mache oder an vielen Dingen gleichzeitig bin, wie es so oft ist im Familienalltag. Zu sagen, es ist so schön mit euch und ich möchte mich daran erinnern ist ja eine Anerkennung und Wertschätzung. Genau wie es die Fotobücher ihrer Kindheit sind, die sie sich so gern anschauen. Es ist etwas völlig anderes zu sagen: “bitte lächel in die Kamera, ich möchte ein hübsches Foto machen” als “es ist so schön mit dir, ich möchte diesen Moment gern festhalten damit wir uns gemeinsam später daran erinnern können”.

Sei Vertrauensperson, auch beim fotografieren

Ich sehe oft einen gewissen Humor in dem fotografieren von Kindern, den ich kritisch sehe in Bezug auf die Beziehung. Und damit meine ich nicht die Art von Humor, bei der wir uns mitfreuen über den Kinderquatsch, es gibt durchaus wundervoll lustige Momente die wir auch fotografieren können. Was ich meine, ist ein Humor über Kinder, der eher ein sich lustig machen ist. Ich glaube, dass es auch beim fotografieren von Kindern durchaus zu Vertrauensbrüchen kommt. Ich erlebe das viel, wenn Kinder verzweifelt weinen und dabei fotografiert werden. Das wird oft als Vertrauensverlust erlebt, denn wie kann die Vertrauensperson ein Bild machen, wenn ich in größter Not und Verzweiflung bin? Und dieses Bild auch noch in einem Fotoalbum für alle zur Schau stellen? Es gibt auch Kampagnen die sich mit der Ethik von Kinderbildern im Internet beschäftigen, die sich mit einer ähnlichn Frage auseinander setzen. Wie würdest du dich fühlen, wenn Jemand dich in dieser Situation fotografiert? Und es veröffentlicht? Ich denke, das ist eine gute Frage, die wir uns stellen können, wenn wir Bilder von unseren Kindern machen. Und in Bezug darauf, dass wir Erinnerungen an Kindheit festhalten möchten, hilft es ungemein, wenn die Kinder uns Vertrauen und entspannt sind, auch wenn wir die Kamera dabei haben.

zur Autorin:
Marcia Friese ist Fotografin und für dokumentarische Familien- und Geburtsfotografie, fotografiert für Magazine und Fachzeitschriften, gibt Workshops für (angehende) Fotografinnen. Zusammen mit Hebamme Jule Tilgner hat sie 2019 das Buch “Mutter werden” veröffentlicht. Mehr über ihre Arbeit erfährst du hier auf ihrer Seite, auf Instagram oder Facebook.
Hier bekommst du von Marcia noch einmal 10 Tipps für bedürfnisorientierte Fotografie

Beschütze mich – warum es für Kinder wichtig ist, hinter ihnen zu stehen

Eigentlich ist es klar, dass wir als Elternteil hinter unseren Kindern stehen, sie beschützen und umsorgen. Und dennoch gibt es immer wieder Situationen, in denen es uns schwerfällt, wirklich für das Kind einzustehen. Insbesondere dann, wenn andere Personen unser Verhalten oder das des Kindes bewerten oder ein bestimmtes Verhalten vom Kind einfordern. Auf einmal verschwinden unsere Vorsätze und Forderungen oder Verhaltensweisen, die wir eigentlich nicht zulassen wollen, werden doch erlaubt. Vielleicht denken wir, dass sich das nur auf die Beziehung des Kindes zu dieser anderen Person auswirkt, aber als Bezugsperson sind wir auch hier involviert.

Das Bindungssystem ist ein Schutzsystem

Das Bindungssystem ist aus Sicht des Kindes ein Schutzsystem: Es dient dazu, dass die Bedürfnisse des Kindes, das sich noch nicht selbst versorgen kann, erfüllt werden. Durch diese Bedürfniserfüllung bildet das Kind ein Vertrauen aus in andere Menschen und erlebt sich als wirksam und wertvoll, weil auf seine Signale und Bedürfnisse entsprechend eingegangen wird. Dieses Vertrauen in sich und andere legt einen Grundstein dafür, wie das Kind auch zukünftig mit der Umwelt und sich umgeht. Zu den Bedürfnissen gehören dabei nicht nur beispielsweise Nahrung und Schlaf, sondern auch das Bedürfnis nach Sicherheit und der Schutz vor Gewalt in ihren verschiedenen Formen. Die Bezugspersonen sind dafür zuständig, diesen Schutz zu bieten.

Wann Bezugspersonen schützen und begleiten sollten

Wenn das Kind eine Situation erlebt, in der es Schutz beansprucht, weil es sich beispielsweise ängstigt, sollte daher eine Bezugsperson zur Seite stehen und diesen Schutz anbieten. – Und zwar unabhängig davon, ob die erwachsene Person diese Situation selbst als bedrohlich oder ängstigend empfindet.

Die Bewertung der erwachsenen Person kann sich durchaus auf das Kind auswirken: Allein durch die Körpersprache vermitteln wir, ob wir eine Situation ebenfalls als bedrohlich wahrnehmen, oder nicht. Das Kind nimmt diese Signale wahr und reagiert auf unsere Einschätzung der Situation. Negativ ist allerdings, wenn wir dem Kind die Angst oder das Schutzbedürfnis absprechen: “Jetzt stell dich aber mal nicht so an!” oder sogar über die Angst des Kindes lachen “Haha, der will doch nur spielen!”

Es ist hilfreich, die Angst des Kindes in einer Situation, in der sie nicht begründet ist, anzunehmen und dem Kind zu vermitteln, dass es sich nicht sorgen muss. Dies aber zunächst auf dem Boden der Annahme: “Ich merke, dass du Angst hast, ich gehe mal voran.” oder “Du möchtest nicht, dass der Hund so nah an dich herankommt, ich nehm dich auf den Arm und er darf an meiner Hand schnuppern.”

Auch in Bezug auf das übergriffige Verhalten anderer Personen ist es wichtig, dass wir gegenüber dem Kind die für die Beziehung so wichtige Schutzposition einnehmen: Wenn das Kind nicht gekitzelt werden möchte, dies der anderen Person klarmachen. Das Kind vor Körperkontakt schützen, den es nicht will wie “Küsschen geben” oder Händeschütteln. Und auch vor psychischer Gewalt verdient das Kind Schutz, wenn andere Menschen übergriffig sind, es beispielsweise als “Heulsuse” bezeichnen oder “Angsthasen“.

Schutz kostet manchmal Überwindung

Es ist manchmal nicht einfach, diesen Schutzauftrag zu erfüllen, der für die Beziehung so wichtig ist. Dies insbesondere dann, wenn wir als Bezugsperson selber einer unseren Bezugspersonen gegenüberstehen, die wir als Instanz erlebt haben: eigene Eltern, ältere Familienangehörige und wir uns nun, obwohl es immer eine Hierarchie gab, in der ihre Entscheidungen über unseren standen, nun entgegentreten müssen. Auch in anderen sozialen Kontexten in der Öffentlichkeit erscheint es manchmal schwer, die eigene Haltung zu vertreten und das Kind zu schützen: Zu groß ist die Angst, als schlechtes Elternteil bewertet zu werden, das in den Augen der anderen falsch erzieht. Schließlich ist das Gefühl, zur Gemeinschaft zu gehören, so wichtig für Menschen.

Dennoch: Als Bezugsperson müssen wir diese Schamgrenzen überwinden und für das Kind einstehen. Es braucht uns als sicheren Hafen, als Schutzinstanz, aus deren Sicherheit heraus es die Welt entdecken kann. Es muss darauf Vertrauen können, dass wir für dieses Kind einstehen – denn wer sollte es sonst, wenn nicht die nahen Bezugspersonen?

Eure

Zur Autorin:
Susanne Mierau ist Diplom-Pädagogin (Schwerpunkt Kleinkindpädagogik) und Familienbegleiterin. Sie arbeitete an der FU Berlin in Forschung und Lehre, bevor sie sich 2011 im Bereich bedürfnisorientierte Elternberatung selbständig machte. Ihr 2012 gegründetes Blog geborgen-wachsen.de und ihre Social Media Kanäle sind wichtige und viel genutzte freie Informationsportale für bedürfnisorientierte Elternschaft und kindliche Entwicklung. Susanne Mierau gibt Workshops für Eltern und Fachpersonal und spricht auf Konferenzen und Tagungen über kindliche Entwicklung, Elternschaft und Familienrollen.

Foto: Ronja Jung für geborgen-wachsen.de

Versöhnung nach dem Eltern-Kind-Streit

Streit kommt in Familien vor: zwischen den Eltern, zwischen Geschwistern, zwischen Elternteil und Kind. Natürlich ist es hilfreich, Streit da, wo es geht, durch überlegtes Handeln zu vermeiden, aber er ist nicht immer so schädlich für das Familienklima, wie manchmal behauptet wird – sofern er gut ausgetragen wird. Lange Zeit wurde angenommen, dass Streit zwischen Elternteilen vermieden und wenn doch, dann nicht vor dem Kind stattfinden sollte. Untersuchungen zeigen aber, dass nur destruktive Paarkonflikte problematisch sind, die verbale oder physische Aggressivität, Blockadeverhalten, Rückzug, Meidung oder andere Feindseeligkeit beinhalten, die dazu führen können, dass beispielsweise das Gefühl der emotionalen Sicherheit des Kindes verringert wird. Konstruktive Konfliktbewältigung ist hingegen nicht von Nachteil.

Gerade wenn das Kind Zeuge des Elternkonflikts ist, ist es hilfreich, wenn es auch dessen Lösung erfährt.

Susanne Mierau “New Moms for Rebel Girls” S.193

Konstruktive Problemlösung ist hilfreich

So, wie bei Streitigkeiten in der Paarbeziehung, ist es auch bei Streitigkeiten zwischen Geschwistern wichtig, dass der Konflikt konstruktiv gelöst wird. Und auch bei Streitigkeit zwischen Eltern und Kind kommt es auf konstruktive Lösungen an: In einem familiären Streit geht es darum, die Perspektive der anderen Person einzunehmen, zu verstehen und eine gemeinsame, sinnvolle Lösung zu finden. Durch einen konstruktiven und gerechten Umgang mit Konflikten in der Familie kann das Kind lernen, diese Problemlösungstrategie auch auf außerfamiliäre Situationen zu übertragen – eine wichtige Fertigkeit für das weitere Leben.

Zudem ist es im Rahmen des Bindungssystems wichtig, dass die nahen Bezugspersonen als sichere, wissende und starke Begleitung dem Kind eine Orientierung bieten. Gerade dann, wenn das Kind im Baby-, Kleinkind- oder auch noch Vorschulalter nicht konkret benennen kann, wie es sich fühlt, was es gerade als Problem wahrnimmt, ist es wichtig, dass sich die Bezugsperson in das Kind hineinversetzt und versucht, die Ursache wertfrei zu ergründen, um dann eine Lösung zu finden.

Das ist manchmal gar nicht so leicht: Unsere eigenen Empfindungen können uns dabei im Weg stehen, objektiv auf die Situation zu blicken. Auch verinnerlichte Glaubenssätze (beispielsweise dass Konflikte Machtkämpfe wären und Eltern immer Recht behalten müssen, damit sie ihre Autorität nicht verlieren) können es erschweren, konstruktiv mit einem Konflikt umzugehen.

Versöhnung nach dem Streit

Neben der Lösung des konkreten Problems ist es hilfreich, wenn nach dem Konflikt auch die Beziehungsebene noch einmal thematisiert wird: Es kann besprochen werden, dass es einen Streit gab, gemeinsam eine Lösung gefunden wurde und viele Gefühle daran beteiligt waren. Dass es Streit gibt, ist normal. Das sollten auch Kinder erfahren und nicht Angst oder Vermeidungsverhalten in Bezug auf Streitigkeiten entwickeln, weil sie in der Familie tabuisiert werden. Der Fokus auf die Beziehungsebene vermittelt: Streit kommt vor, aber ich habe dich mit deinen Bedürfnissen gesehen und verstanden und bin trotz unserer unterschiedlichen Meinung für dich da und suche mit dir eine Lösung, damit es uns besser geht. Das Kind kann noch einmal nachvollziehen, was passiert ist und bekommt vermittelt, dass eine Beziehung von Offenheit und Respekt gelebt wird.

Nicht immer ist eine Lösungsfindung schnell und einfach. Manchmal muss ausprobiert werden, was funktioniert und was nicht. So dauert es manchmal mit der Beseitigung des Streits etwas. Die Versöhnung muss auch nicht daraus bestehen, dass beide Seiten wieder gute Laune haben, sondern daraus, anzuerkennen, dass es verschiedene Perspektiven und Empfindungen gab und man als Bezugsperson dennoch sicher zur Verfügung steht und das Kind weiterhin liebt. Das Kind hat auch das Recht, nicht sofort wieder gute Laune haben zu müssen. Manchmal braucht es etwas Zeit, bis der Ärger wirklich verflogen ist. Auch das ist in Ordnung. Das Kind sollte wissen, dass es sich jederzeit vertrauensvoll an die Bezugsperson wenden kann mit seinen Gefühlen, da wir als Erwachsene die Schutz- und Regulationsfunktion für das Kind erfüllen und dies auch im Konfliktfall tun.

Eure

Zur Autorin:
Susanne Mierau ist Diplom-Pädagogin (Schwerpunkt Kleinkindpädagogik) und Familienbegleiterin. Sie arbeitete an der FU Berlin in Forschung und Lehre, bevor sie sich 2011 im Bereich bedürfnisorientierte Elternberatung selbständig machte. Ihr 2012 gegründetes Blog geborgen-wachsen.de und ihre Social Media Kanäle sind wichtige und viel genutzte freie Informationsportale für bedürfnisorientierte Elternschaft und kindliche Entwicklung. Susanne Mierau gibt Workshops für Eltern und Fachpersonal und spricht auf Konferenzen und Tagungen über kindliche Entwicklung, Elternschaft und Familienrollen.

Foto: Ronja Jung für geborgen-wachsen.de

Elternvergleiche: Bei anderen geht alles besser!

Auf dem Spielplatz wandert der Blick zu den anderen Eltern und wir beobachten, wie sie die Wutsituation mit ihren Kindern meistern. In Social Media betrachten wir die Familienalltage der anderen und stellen vielleicht hier und da fest, dass es dort scheinbar viel toller ist, viel mehr Angebote gibt – und diese tollen Geburtstagstorten, die backen wir selbst auch nie. Wir vergleichen uns mit anderen und mit dem Alltag anderer Menschen in ähnlichen Lebenssituationen. Und auch wenn das Vergleichen mit anderen durchaus normal und sogar ein Teil der normalen Entwicklung von Menschen ist, macht uns der beständige Vergleich nicht selten auch das Leben schwerer.

Auf der anderen Seite… ist das Gras ganz anders

Andere Familien leben ein anderes Familienleben. Momentaufnahmen daraus können auf uns eine starke Wirkung haben, weil wir unseren Fokus oft auf die positiven Aspekte der anderen Familie legen – insbesondere auf Social Media werden diese durch die bewusste Auswahl dessen, was gezeigt wird, auch hervorgehoben. Im Vergleich nehmen wir uns und unseren Alltag dann als mangelhaft wahr. Wir verlieren den Blick auf unsere Stärken und Ressourcen und werten uns selbst ab, weil wir Dinge anders machen bzw. diese Vergleichsfamilie Dinge tut, die wir selbst nicht machen.

Wir vergessen dabei, dass Familien nicht gleich sind. Wir haben unterschiedliche Familiengeschichte, unsere Kindheit und unser Aufwachsen unterscheiden sich. Vielleicht haben wir verschiedene Werte vermittelt bekommen und/oder wurden in besonderer Weise religiös geprägt. Wir leben in unterschiedlichen sozioökonomischen Verhältnissen, in unterschiedlichen Familienkonstellationen in der Stadt oder auf dem Land. In unseren Familien kommen unterschiedlich viele Menschen mit verschiedenen Temperamentsdimensionen zusammen. Kurz: Familie ist nicht gleich Familie. Was in einer Familie richtig und stimmig sein kann, ist es in einer anderen vielleicht nicht.

Dass wir selbst Dinge anders machen als andere, spricht deswegen nicht gegen unsere Lebensweise, sondern wahrscheinlich sogar eher dafür: Wir nehmen wahr, was unsere Familie braucht, was wir geben können und gestalten daraus unseren Alltag. Je nach eigenen Themen und Erfahrungen mag es vielleicht sein, dass uns selbst das Begleiten der Wut des eigenen Kindes schwerfällt, während bei der anderen Familie, die wir neidvoll beim Umgang mit dem schreienden Kind beobachten, das Trösten und der Umgang mit Nähe vielleicht ein schwieriges Thema sind. Während wir uns fragen, warum es bei uns einfach nicht so wie anderen funktioniert, dass wir “nur mal eben bis 10 zählen und dann die Wut gut begleiten können”, haben wir vielleicht eine ganz andere Strategie, um uns selbst zu beruhigen – die auch ganz anders sein darf.

Statt Vergleichen: Inspiration holen

Das Vergleichen von Handlungen, Situationen und Ritualen anderer Familien kann sich negativ auf uns auswirken, wenn wir uns dann im Vergleich als mangelhaft wahrnehmen. Langfristig ist es sinnvoll, sich immer wieder vor Augen zu führen, dass jede Familie auf sie angestimmte Familienrituale und Umgangsformen braucht und ein Vergleich nicht nur nicht sinnvoll, sondern aufgrund der so unterschiedlichen Situationen auch gar nicht machbar ist. “Jede Familie geht ihren eigenen Weg” ist ein Mantra, das wir uns immer wieder aufsagen sollten. Hilfreich ist es hierfür auch, sich die Besonderheiten, Bedürfnisse und Rituale der eigenen Familie ganz bewusst vor Augen zu führen: Wer sind wir alle und was brauchen wir? Warum machen wir die Dinge so, wie wir sie machen? Ein ressourcenorientierter Blick lenkt uns auf unsere eigene Aktivität, auf unsere Fähigkeiten und Familienkompetenzen.

Mit einem positiven Blick auf uns selbst können wir dann dort Inspiration einholen, wo es für uns hilfreich ist, anstatt andere Wege als Druck zur Veränderung wahrzunehmen.

Eure

Zur Autorin:
Susanne Mierau ist Diplom-Pädagogin (Schwerpunkt Kleinkindpädagogik) und Familienbegleiterin. Sie arbeitete an der FU Berlin in Forschung und Lehre, bevor sie sich 2011 im Bereich bedürfnisorientierte Elternberatung selbständig machte. Ihr 2012 gegründetes Blog geborgen-wachsen.de und ihre Social Media Kanäle sind wichtige und viel genutzte freie Informationsportale für bedürfnisorientierte Elternschaft und kindliche Entwicklung. Susanne Mierau gibt Workshops für Eltern und Fachpersonal und spricht auf Konferenzen und Tagungen über kindliche Entwicklung, Elternschaft und Familienrollen.

Foto: Ronja Jung für geborgen-wachsen.de

Spüren der Wut vor dem Ausbruch – Konflikte in der Familie ruhiger begleiten

Die meisten Eltern kennen wohl jene Situation: Das Kind tut etwas, das von den Erwachsenen nicht gewünscht ist. Auch wenn wir uns im Alltag vornehmen, auf eine bestimmte Art auf Konflikte zu reagieren, klappt das nicht immer. Manchmal scheinen wir “aus dem Nichts” dann doch zu stark zu reagieren und schreien und schimpfen. Wir entschuldigen uns, es tut uns danach leid und wir nehmen uns fest vor, es beim nächsten Mal anders zu machen. Doch manchmal geht es wieder und wieder in eine andere als die vorgenommene Richtung. Eine Hilfe, um aus diesem wiederkehrenden Verhalten aussteigen zu können, kann sein, sich nicht nur beständig auf andere Konfliktlösungen zu fokussieren, sondern die Selbstwahrnehmung zu stärken: Was passiert mit mir gerade? Wie steigt die Wut in mir hoch und wie finde ich den Punkt zum Absprung?

Selbstwahrnehmung ist nicht einfach

Viele Eltern haben in der eigenen Kindheit keinen guten Zugang zur Selbstwahrnehmung ausbilden können, da die Eigenwahrnehmung durch Erziehungsmethoden an einigen Stellen unterdrückt wird: in Bezug auf die körperliche Selbstwahrnehmung (“Geh mal auf Toilette, du musst bestimmt!”/alle Kinder gehen zu bestimmten Zeitpunkten auf Toilette, “Das tut doch nicht weh!”), aber auch in Bezug auf die emotionale Selbstwahrnehmung (“Das ist nicht schlimm!”, “Da musst du nicht weinen!”, “Mädchen dürfen nicht so wütend sein!”). Diese fehlende Selbstwahrnehmung kann es uns heute schwer machen, ein gutes Gespür für sich und die eigenen Bedürfnisse zu haben. Wie fühlt es sich an, wenn ein Gefühl aufsteigt bevor es riesengroß ist, wie fühlt sich beispielsweise Empörung an, bevor sie zu einer großen Wut wird?

Gefühle wahrnehmen

Wenn wir uns vornehmen, in Konfliktsituationen anders reagieren zu wollen, ist es nur ein kleiner Aspekt dieses “anders”, dass wir uns überlegen, wie wir konkret reagieren wollen. Wesentlich ist es, unsere Selbstwahrnehmung zu verbessern, damit wir überhaupt anders reagieren können – nämlich bevor die Wut uns selbst überrollt. Es ist wichtig, in Konflikten in sich hineinzuspüren: Wie fühle ich mich? Was löst dieser Konflikt in mir aus? Wenn wir genau auf uns achten, können wir auch an unserer körperlichen Reaktion spüren, wie es uns geht: Schlägt das Herz schneller? Hat sich die Atmung verändert? Auf die eigenen körperlichen Reaktionen zu achten, kann ein guter Hinweisgeber für Gefühle sein. Durch die Aufmerksamkeit auf den eigenen kröperlichen Reaktionen fällt es uns auch leichter, im Hier und Jetzt zu bleiben.

Nächster Schritt: den Gefühlen auf den Grund gehen

Wenn wir ein Gespür für unsere Gefühle bekommen, können wir besser in Konfliktsituationen aussteigen: Wir spüren, dass wir schneller atmen, unser Herz klopft und merken dadurch, dass wir wirklich wütend werden. Jetzt können wir aus der Situation aussteigen und uns beruhigen: Tief in den Bauch atmen, erklären, dass man kurz hinaus muss,…

Im nächsten Schritt können wir dann betrachten, woher diese Gefühle eigentlich kommen, um dann zu lernen, dass es beispielsweise unsere Bewertung einer Situation sein kann, die uns wütend macht. Diese Bewertung speist sich vielleicht aus eigenen früheren Erfahrungen, aber im Jetzt und Hier ist es eine andere Situation, die nicht bedrohlich ist und wir deswegen vielleicht gar nicht mit Wut reagieren müssen. Wenn wir verstehen, woher das Gefühl kommt, woraus es sich entwickelt, mit welchem Bedürfnis es in Verbindung steht, können wir nochmals intensiver daran arbeiten, die Ursache für ausufernde Konfliktsituationen zu vermindern.

Dieses Hineinspüren und Erlernen der eigenen Wahrnehmung braucht Zeit. Es geht oft nicht von heute auf morgen, die Selbstwahrnehmung zu verbessern. Aber wir können bewusst damit anfangen, auch schon in Situationen jenseits der Wut: Lenken wir unser Augenmerk immer mal wieder bewusst auf uns und unsere Gefühle: Wie fühle ich mich jetzt gerade und woher kommt dieses Gefühl? Zu welchem Bedürfnis gehört mein Gefühl und wie kann ich dieses (und andere) im Alltag gut befriedigen?

Eure

Zur Autorin:
Susanne Mierau ist Diplom-Pädagogin (Schwerpunkt Kleinkindpädagogik) und Familienbegleiterin. Sie arbeitete an der FU Berlin in Forschung und Lehre, bevor sie sich 2011 im Bereich bedürfnisorientierte Elternberatung selbständig machte. Ihr 2012 gegründetes Blog geborgen-wachsen.de und ihre Social Media Kanäle sind wichtige und viel genutzte freie Informationsportale für bedürfnisorientierte Elternschaft und kindliche Entwicklung. Susanne Mierau gibt Workshops für Eltern und Fachpersonal und spricht auf Konferenzen und Tagungen über kindliche Entwicklung, Elternschaft und Familienrollen.

Foto: Ronja Jung für geborgen-wachsen.de

Die Eingewöhnung nach dem Temperament des Kindes ausrichten

Eigentlich wissen wir, dass Kinder unterschiedlich sind und über verschieden ausgeprägte Temperamentsdimensionen verfügen. Und dennoch kommt es immer wieder vor, dass wir doch versuchen, sie in bestehende Schemata zu pressen, die scheinbar für alle Kinder gelten sollen. So finden wir immer wieder starre Richtlinien in Bezug auf den Schlaf von Kindern, in Bezug auf die Beikost und eben auch in Bezug auf die Eingewöhnung. In all diesen Bereichen sind Eltern verunsichert, wenn ihre Kinder nicht in das starre Schema passen und manchmal wirkt sich die fehlende Einpassungsfähigkeit dann auch auf das eigene Empfinden aus: Mache ich meine Sache als Elternteil falsch? Habe ich irgendwo einen groben Fehler gemacht, weil das Kind nicht nach Plan xy macht? Gerade auch bei der Eigewöhnung sind viele Eltern verunsichert, wenn sie anders als erwartet läuft und fragen sich, ob etwas “mit ihrer Eltern-Kind-Bindung nicht stimmt”.

Da stimmt was mit der Bindung nicht!

Wenn sich ein Kind wahlweise besonders schnell oder besonders langsam von den Bezugspersonen löst, wenn es wahlweise besonders forsch auf neue Personen und Situationen zugeht oder besonders abwartend ist, wird dies schnell der Bindung zugeschrieben: “Was, das Kind ist so schüchtern/so kontaktfreudig, da stimmt doch was nicht bei denen!” Natürlich wirken sich Bindungsmuster auch auf das Verhalten aus und die Art der Interaktion des Kindes mit der Umwelt. Durch die Art, wie wir mit unseren Kindern umgehen, erleben die Kinder die sie umgebende Welt als sicher/gehen vertrauensvoll auf Neues zu bis hin zu unsicher/ängstlich. Dennoch ist die Art der Beziehung zu den nahen Bindungspersonen nicht der einzige Einfluss auf das Verhalten des Kindes.

Das Temperament nimmt Einfluss auf das Verhalten

In der Temperamentsforschung wurden von der amerikanischen Kinderpsychiaterin Stella Chess und ihrem Mann Alexander Thomas in einer Längsschnittstudie schon in den 80er Jahren verschiedene Temperamentsdimensionen identifiziert, auf denen sich Menschen in unterschiedlicher Ausprägung bewegen: Aktivitätsniveau, Rhythmus, Ablenkbarkeit, Erstreaktion bei Neuem, Anpassungsfähigkeit, Ausdauer und Aufmerksamkeit, Reaktionsintensität, Sensitivität, Stimmungsqualität.

Diese Temperamentsdimensionen nehmen Einfluss auf das alltägliche Verhalten, aber eben auch auf Eingewöhnung im Kindergarten. Gerade die Dimensionen “Anpassungsfähigkeit” und “Erstreaktion bei Neuem” wirken sich entscheidend aus auf die Eingewöhnung, aber auch die Abweichung vom bisherigen Rhythmus kann für ein Kind, das einen besonders regelmäßigen Rhythmus einfordert, zunächst herausfordernder sein als für ein Kind, das ohnehin weniger einen regelmäßigen Rhythmus benötigt (das dann vielleicht aber Schwierigkeiten damit haben kann, wenn es viele und enge Rituale in der Kita gibt). Auch der Umgang mit den neuen Reizen im Kindergarten (beispielsweise durch Gruppengröße und Lautstärke) kann bei Kindern unterschiedlich sein.

Es gibt also viele Bereiche, in denen Kinder auf verschiedenen Ebenen vor Herausforderungen stehen können, die sich darauf auswirken, wie schnell sie sich in die neuen Rahmenbedingungen einpassen können. Dies macht deutlich, dass Kinder sowohl eine unterschiedliche Zeitspanne brauchen können, um sich in der neuen Situation einzufinden, als auch unterschiedliche Arten der Begleitung, die ihre jeweiligen Bedürfnisse anerkennen.

Umgang mit dem Temperament nimmt Einfluss auf das Kind

Die Art der Interaktion der Umwelt mit den jeweiligen Temperamentsdimensionen nimmt starken Einfluss auf die Entwicklung des Kindes. Gerade Kinder mit extremen Ausprägungen von einzelnen Temperamentsdimensionen brauchen eine gute Unterstützung, damit sie lernen, damit gut umzugehen und sich keine langfristigen Nachteile entwickeln – das gilt sowohl zu Hause, als auch in der außerfamiliären Betreuung, beispielsweise wenn Kinder Schwierigkeiten haben in der Reaktionsintensität und deswegen viel und angemessene Begleitung von Emotionen benötigen. Diese an das jeweilige Temperament angepasste Begleitung sollte bereits in der Eingewöhnung beginnen und dann im pädagogischen Alltag fortgeführt werden. Hierfür ist es wichtig, dass bereits in der Eingewöhnung genügend Zeit vorhanden ist, um das Kind zu beobachten und die einzelnen Ausprägungen zu verstehen.

Eure

Zur Autorin:
Susanne Mierau ist Diplom-Pädagogin (Schwerpunkt Kleinkindpädagogik) und Familienbegleiterin. Sie arbeitete an der FU Berlin in Forschung und Lehre, bevor sie sich 2011 im Bereich bedürfnisorientierte Elternberatung selbständig machte. Ihr 2012 gegründetes Blog geborgen-wachsen.de und ihre Social Media Kanäle sind wichtige und viel genutzte freie Informationsportale für bedürfnisorientierte Elternschaft und kindliche Entwicklung. Susanne Mierau gibt Workshops für Eltern und Fachpersonal und spricht auf Konferenzen und Tagungen über kindliche Entwicklung, Elternschaft und Familienrollen.

Foto: Katja Vogt

Glück ist, wenn man so geliebt wird, wie man ist

Dürfen wir dich zu Beginn dieses Artikels zu einer kleinen Reflexion einladen?

Gehe in Gedanken in deine Kindheit und Jugendzeit zurück. Denke an deine engsten Bezugspersonen: deine Eltern, Großeltern oder andere Menschen, die wichtig waren. Welche Erwartungen an dich hast du von wem gespürt? Welche davon konntest du erfüllen, welche nicht? Welchen versuchst du heute noch zu entsprechen? Wie musstest du sein, was musstest du tun, um Liebe und Anerkennung zu erhalten? Und wie hat dich das geprägt?

Wenn du dich mit diesen Erfahrungen beschäftigst, wirst du vielleicht merken, dass sie einen großen Einfluss auf dein Selbstwertgefühl hatten und haben.

Was ist das “Selbstwertgefühl”?

Der Sozialpsychologe Morris Rosenberg definierte 1965 Selbstwertgefühl als eine Haltung oder Einstellung, die wir uns selbst gegenüber einnehmen. Seiner Definition zufolge empfindet sich eine Person mit hohem Selbstwertgefühl als «gut genug»; er glaubt, dass er als Mensch wertvoll ist und kann sich mit seinen positiven und negativen Facetten annehmen – ohne sich deswegen als etwas Besonderes zu sehen oder zu erwarten, dass andere ihn bewundern.

Für die Entwicklung unseres Selbstwertgefühls ist es entscheidend, welche Beziehungserfahrungen wir mit anderen machen. Wenn wir uns geliebt, geborgen, gesehen und angenommen fühlen, wächst unser Selbstwertgefühl. Fühlen wir uns zurückgewiesen, abgelehnt oder kritisiert, macht sich jemand lustig über uns oder zeigt sich verächtlich, dann leidet unser Selbstwertgefühl.

Unser Selbstwertgefühl kann aber nicht nur mehr oder weniger hoch sein, es kann auch mehr oder weniger stark an Bedingungen geknüpft sein.

Wenn Kinder und Jugendliche die Erfahrung machen, dass sie auf eine bestimmte Art und Weise sein oder sich verhalten müssen, um Wertschätzung und Zuneigung zu erfahren, bildet sich ein an Bedingungen geknüpftes Selbstwertgefühl aus. Ein Kind kann beispielsweise erleben:

  • Ich werde geliebt, wenn ich Leistung zeige, gute Noten und sportliche Erfolge erziele.
  • Ich bin nur dann liebenswert, wenn ich brav bin und meinen Eltern gehorche.
  • Damit mich meine Eltern annehmen können, muss ich mich den religiösen Überzeugungen meiner Familie anschließen.
  • Um Liebe und Anerkennung nicht zu verlieren, muss ich darauf achten, immer schlank, gutaussehend und vorzeigbar zu sein.
  • Liebe muss man sich verdienen, indem man besonders hilfsbereit ist und sich für andere aufopfert.

Natürlich finden wir es alle schön, wenn wir Erfolge erzielen, gut aussehen oder anderen Menschen helfen können und reagieren verunsichert, wenn dem nicht so ist. Problematisch wird es, wenn das Selbstwertgefühl so stark an bestimmte Bedingungen geknüpft ist, dass Kinder, Jugendliche und Erwachsene in eine regelrechte Krise stürzen, wenn sie diese für einmal nicht erfüllen können. Wenn sie sich bei einer schlechten Note gleich als Versager abstempeln und sich jede Prüfung anfühlt, als ginge es um Leben und Tod. Wenn sie sich schuldig fühlen, sobald sie eine Bitte ausschlagen oder für ihre Bedürfnisse einstehen. Wenn sie sich als bösen Sünder sehen, weil sie sich „schmutzigen Gedanken“ hingegeben oder unchristlich verhalten haben. Wenn sie sich nicht mehr um einen anderen Menschen kümmern können und sich deswegen als Nichtsnutz oder wertlos empfinden. Wenn sie befürchten, dass ihre Freunde sie nicht mehr mögen oder sie nie eine/n Partner/in finden werden, wenn sie ein, zwei Kilo zunehmen.

Wie Erwartungen uns den Blick auf unsere Kinder verstellen

Hand aufs Herz: Wir alle haben bestimmte Bilder und Erwartungen im Kopf, wünschen uns, dass unsere Kinder bestimmte Eigenschaften, Interessen oder Werte zeigen und reagieren vielleicht auch enttäuscht, wenn unsere Kinder nicht so sind. Vielleicht möchten wir, dass unser Kind besonders sozial und einfühlsam ist und sind irritiert, wenn es sich als dominanter Rowdy zeigt und gerne mit Waffen spielt. Manchmal verstellen uns unsere Wünsche auch den Blick auf das Kind. Sehr treffend drückt das Familylab-Leiter Matthias Volchert aus: „Kann ich dich noch sehen wie du bist, oder bestimmen meine Erwartungen schon mein Bild von dir?“

Ein Kinderbuch greift dieses Thema auf

So geht es auch Jaron, dem jungen Fuchs in unserem Buch „Jaron auf den Spuren des Glücks“. Dieser könnte sich sehr viel Schöneres vorstellen, als am Sonntagmorgen bei einem Fußballspiel auf dem Platz zu stehen. Nur leider hat sein Vater das Gefühl, dass ihm der Sport guttun und ihm dabei helfen wird, mehr Biss und Durchhaltevermögen zu entwickeln:

«Dieses blöde Fußball! Warum muss ich da hin? Vielleicht könnte ich sagen, dass ich krank bin…», denkt Jaron. Aber da schallt ihm bereits ein aufgeregtes «Morgen, Sportsfreund!» entgegen. Papa Fuchs steht am Herd und wendet Pfannkuchen – etwas, das er nur zu besonderen Anlässen tut.

Jaron lässt sich auf seinen Stuhl plumpsen, hängt sich über die Tischplatte und legt den Kopf auf die Arme. 

Ein Turm aus Pfannkuchen schiebt sich in sein Blickfeld. Der Ahornsirup läuft an den Rändern herunter und bedeckt die Himbeeren und die Sahne auf dem Teller. Jarons Lieblingsgericht! Doch heute starrt er mit einem Kloß im Hals auf den süßen Turm, der ihm unendlich groß erscheint. «Ich schaff das nicht», murmelt er.

«Du musst ja nicht alle essen», antwortet Papa Fuchs. «Zwei oder drei Pfannkuchen reichen sicher.» Der Vater klopft ihm auf die Schulter und setzt sich mit einer Tasse Kaffee zu Jaron an den Tisch. «Ist vielleicht sowieso besser. Mit vollem Magen rennt es sich nicht gut. Und wir wollen ja, dass du fit bist heute.»

Leider kann Jaron auch in seiner Mannschaft nicht auf Rückhalt zählen. Nachdem er im Finale den entscheidenden Elfmeter verschossen hat, schließen ihn seine Kameraden vom gemeinsamen Eisessen aus und machen sich über ihn lustig.

“Nicht gut genug” zu sein begleitet uns oft lebenslang

In Seminaren und Beratungen mit Eltern und Fachpersonen merken wir immer wieder, dass das Gefühl, nicht zu genügen, erstaunlich viele Menschen seit der Kindheit begleitet.

Sie haben deutlich gespürt, dass sie für ihre Eltern, Lehrkräfte, aber auch Gleichaltrige zu laut, zu schüchtern, zu anstrengend, zu empfindlich, zu faul, zu ehrgeizig, zu unsportlich, zu dick oder zu uncool waren. Einige haben erlebt, dass sie für ihre Eltern etwas Besonderes sein müssen: Die Beste Schülerin, ein Spitzensportler – und man die Aufmerksamkeit der Eltern vor allem dann bekommt, wenn man aus der Masse herausragt. Manche fühlten sich nicht angenommen, weil sie nicht das ersehnte Geschlecht hatten, dem gängigen Rollenbild eines „richtigen Jungen“ oder eines „richtigen Mädchens“ nicht entsprachen oder vom Charakter her dem Expartner schmerzlich ähnelten, den die Mutter oder der Vater verteufelte. Einige hatten erlebt, dass ihre Eltern immer wieder davon sprachen, wieviel sie für die Kinder geopfert hatten, wie anstrengend die Vater- oder Mutterschaft für sie ist – und man als Kind dieses Opfer nur durch ganz viel Dankbarkeit und Angepasstheit aufwiegen kann.

Warum fällt uns bedingungslose Liebe manchmal so schwer?

Ein unabhängiges Selbstwertgefühl nimmt uns den Druck, immer etwas tun oder uns den Erwartungen anderer anpassen zu müssen, um geliebt zu werden.

Es entsteht, wenn Kinder und Jugendliche von verschiedenen Bezugspersonen immer wieder erfahren dürfen, dass sie auch dann geliebt und angenommen werden, wenn sie nicht deren Vorstellungen entsprechen.

Vielleicht geht es dir wie uns und es fällt dir auch nicht immer leicht, dein Kind im Alltag so anzunehmen, wie es ist? Vielleicht ertappst du dich auch manchmal dabei, wie dich dein Kind nervt, wie du deine Enttäuschung nicht verbergen kannst oder dein Mutter- oder Vaterherz vor lauter Stolz anschwillt, wenn dein Kind deine (unbewussten) Erwartungen erfüllt oder sogar übertrifft?

Auch wenn sich die Forderung, sein Kind bedingungslos zu lieben, in vielen modernen Elternratgebern wiederfindet, so ist sie doch relativ neu.

Es ist hilfreich, wenn wir uns vergegenwärtigen, dass dieses Konzept aus der Psychotherapie stammt. Beschrieben hat es als erster der humanistische Therapeut Carl Rogers, der Begründer der Gesprächspsychotherapie. Er ging davon aus, dass Menschen lernen können, sich selbst anzunehmen und schwierige Erfahrungen zu integrieren, wenn sie dabei von einem empathischen, authentischen und wertschätzenden Gegenüber begleitet werden. Dabei macht es sich der Therapeut zur Aufgabe, vorurteilsfrei zuzuhören.

Das ist natürlich in einem professionellen therapeutischen Setting deutlich einfacher als in engen, persönlichen Beziehungen. Um es mit einem plakativen Beispiel auszudrücken: Die Aussage „ich bin fremdgegangen“ ist für den Therapeuten einfacher zu ertragen als für die Partnerin.

Je enger die Beziehung zu unserem Gegenüber ist, je mehr sein Verhalten unser eigenes Leben beeinflusst und je stärker wir uns emotional mit jemandem verbunden fühlen, desto anspruchsvoller wird es, unbedingte Liebe zu zeigen.

Im Gegensatz zu einem neutralen Therapeuten haben wir Hoffnungen und Wünsche für unsere Kinder. Wir wollen das Beste für sie und ihnen ein glückliches Leben ermöglichen. Abhängig davon, wie wir aufgewachsen sind, haben wir sehr fixe Überzeugungen, was dazu nötig ist und welche Eigenschaften uns das ermöglichen. Entsprechend schnell läuten unsere Alarmglocken, wenn die Kinder vom vermeintlich „richtigen“ Weg abkommen: Manche Eltern sind so stark mit dem Schulerfolg ihrer Kinder identifiziert, dass sie vor Prüfungen schlaflose Nächte haben; andere geraten in Panik, wenn sich das Kind phasenweise „asozial“ verhält oder fürchten gleich um das Seelenheil des Kindes, wenn es sich von bestimmten Werten und religiösen oder politischen Überzeugungen ablöst.

Bedingungslose Liebe ist ein Geschenk

Wenn Eltern erkennen, dass bedingungslose Liebe wichtig ist, machen sie daraus zum Teil eine absolute Forderung: Du musst dein Kind stets annehmen und bedingungslos lieben!

Daraus leiten sie ab, dass sie nie wütend oder enttäuscht reagieren dürfen, schimpfen verboten ist und man sich sogar schuldig fühlen muss, wenn man sein Kind gelobt hat – schließlich ist doch auch das eine Form der Manipulation?

Bedingungslose Liebe wird plötzlich zu einem komplexen Regelwerk, an das man sich mit aller Verbissenheit halten muss, um keine schlechte Mutter, kein schlechter Vater zu sein.

Ohne es zu merken, tappt man erneut in die Falle der bedingten Wertschätzung: „Ich bin als Mutter oder Vater nur dann liebenswert, wenn ich alles richtig mache, meinem Kind gegenüber keine „negativen“ Gefühle zeige und es auf keine Art und Weise „manipuliere“.“

Wenn wir unseren Kindern bedingungslose Liebe schenken möchten, ist es hilfreich, wenn wir bei uns selbst beginnen und uns mit einer annehmenden und akzeptierenden Haltung begegnen.

Dazu dürfen wir uns bewusst machen: „Auch ich darf Fehler machen, ab und zu unangemessen reagieren, Gefühle haben, die mir nicht immer pädagogisch korrekt erscheinen – und kann trotzdem eine liebevolle Mama, ein liebevoller Vater sein.“

Anstatt uns selbst abzuwerten oder in Schuldgefühlen zu versinken, können wir uns annehmen und gleichzeitig Verantwortung für unsere Gefühle übernehmen. Das gelingt uns besser, wenn wir ehrlich mit uns sind und hinterfragen, welche Bilder, Wünsche und Bedürfnisse hinter unseren Reaktionen stehen:

  • „Jetzt habe ich meine Kinder wieder angeschrien. Es bringt mich so auf die Palme, wenn sie sich zoffen! Ich habe gedacht, mit einem zweiten Kind sei unser Familienglück perfekt. Ich habe mir das so schön vorgestellt, wenn sie immer einen Spielgefährten zu Hause haben – aber jetzt streiten die beiden pausenlos und sind eifersüchtig aufeinander. Ich merke gerade, dass mich das enttäuscht und ziemlich traurig macht.“
  • „Wenn ich sehe, dass mein Sohn so wenig für die Schule tut und ihn schlechte Note überhaupt nicht jucken, versetzt mich das in Rage! Wenn ich ehrlich bin, kriege ich es mit der Angst zu tun, dass er sich seine Zukunft verbaut und ich schuld daran sein werde, wenn ich das zulasse.“
  • „Mein Kind ist schon wieder so dominant und kommandiert die anderen rum. Am liebsten würde ich es von seinem hohen Ross herunterholen oder ihm die kalte Schulter zeigen! Es ärgert mich so, wenn sich Menschen über andere stellen, das weckt ganz viele schlechte Erinnerungen in mir. Ich habe immer darunter gelitten, wenn andere so bossy mit mir umgegangen sind.“

Zu dem Autor und der Autorin:
Fabian Grolimund ist Psychologe und Autor. Stefanie Rietzler ist Psychologin und Autorin. Ihr neues Kinderbuch Jaron auf den Spuren des Glücks” geht der großen Frage nach dem Glück nach, das manchmal in kleinen Dingen steckt. Zudem schreiben beide regelmäßig für das Schweizer Elternmagazin Fritz+Fränzi. Mehr erfahren Sie unter mit-kindern-lernen-ch  

Foto: Ronja Jung für geborgenwachsen.de