Konflikte gibt es in allen sozialen Gruppen und auch in Familien. Und gerade dann, wenn verschiedene Bedürfnisse aufeinander treffen und wenn Kinder mit unterschiedlichen Fähigkeiten, sich in andere Personen hinein zu versetzen, zusammen sind und vielleicht auch noch jedes für sich versuchen, die vorhandenen Ressourcen an Materialien und auch an emotionalen Ressourcen größtmöglich zu beanspruchen, kann es zu Streit kommen. Manchmal sind es auch äußere Ursachen, die in Geschwisterstreit entladen werden. Konflikte sind normal, auch wenn wir in einem romantisierten Bild von Kindheit und Familie immer davon ausgehen, Geschwister sollten sich nicht streiten und Familie sollte rein harmonisch sein. Die Wahrheit aber ist: Geschwister streiten sich. Und sie dürfen sich auch streiten. Die Frage lautet daher nicht: Geschwisterstreit ja oder nein. Sondern: Geschwisterstreit ja, aber wie?
Die falsche Grundannahme der Eltern: Streit ist schlecht
Die meisten Eltern kennen den Impuls, sofort einzugreifen, wenn sich Geschwister streiten: Eine Alternative wird vorgeschlagen, eine Ablenkung geboten, das Streitobjekt einfach kurzerhand entfernt, das ältere/stärkere Kind zur Rücksicht ermahnt… Wenn sich Kinder streiten, ist das anstrengend für uns: Es ist laut, es zehrt an uns. Dies umso mehr, wenn wir selber keine Streitkultur hatten und als Kinder zur Stille und Anpassung ermahnt wurden. Das ist die eine Seite des Streits. Betrachten wir den Streit aber aus der anderen Perspektive, aus dem Blickwinkel der Entwicklungsmöglichkeiten, die dahinter stehen, sehen wir mehrere Möglichkeiten:
- Ein Streit gibt die Möglichkeit, Emotionen zu offenbaren und auszuleben, Wut auszudrücken. Kinder dürfen wütend sein, Kinder müssen wütend sein dürfen.
- Ein Streit gibt Kindern die Chance, sich mit den Wünschen anderer auseinander zu setzen: Zwei Meinungen, zwei Bedürfnisse prallen aufeinander. Kinder erfahren: Mein Gegenüber denkt nicht wie ich.
- Ein Streit gibt Kindern die Chance, Verhandlungen zu üben: Erst ich, dann Du – oder umgekehrt. Natürlich geht das erst, wenn die Beteiligten in einem Alter sind, in dem einige Bedürfnisse aufgeschoben werden können.
- Ein Streit gibt Kindern die Chance, Kompromisse zu finden: Auf Deine Weise nicht, auf meine Weise nicht, also brauchen wir eine andere Lösung. Auch hier gilt: Das ist erst dann möglich, wenn beide Teilnehmer*innen dazu kognitiv fähig sind.
- Ein Streit gibt kleinen Kindern die Chance, durch die Begleitung der Eltern dazu befähigt zu werden, die oben angeführten Kompetenzen für spätere Streitsituationen zu erwerben – wenn sie von Anfang an gut begleitet werden.
- Ein Streit gibt den Eltern die Chance, aktuelle Bedürfnisse der Kinder zu sehen: Gibt es immer wieder Streit um das Spielzeug des großen Geschwisterkindes und zeigt das vielleicht, dass das kleine Geschwisterkind den aktuellen Spielangeboten entwachsen ist und neue Angebote braucht? Gibt es immer wieder Streit um die Aufmerksamkeit und Zuwendung von Eltern und ein Kind fühlt sich zu wenig gesehen?
Streit zulassen und richtig interagieren
Geschwisterstreit ist daher nicht per se schlecht. Problematisch wird er dann, wenn eine Auseinandersetzung immer sofort unterbunden wird und Gefühle und Probleme nicht wirklich verbalisiert werden dürfen: „Du sollst Dich nicht immer mit Deinem Bruder streiten!“ „Jetzt vertragt Euch sofort wieder!“
Konflikte sind deswegen normal, auch wenn wir in einem romantisierten Bild von Kindheit und Familie immer davon ausgehen, Geschwister sollten sich nicht streiten und Familie sollte rein harmonisch sein
Und auch dann, wenn wir als Eltern ungünstig in den Streit eingreifen und auf eine falsche Weise vermitteln wollen: In einer Konfliktsituation sehen wir schnell, dass das größere Kind dominiert – geistig oder körperlich und sind schnell dazu verleitet, einzugreifen zugunsten des kleineren Kindes: „Nun gib ihm doch schon kurz Dein Spielzeug, das kannst Du ja wohl mal kurz teilen!“ Schnell entwickeln sich Muster, dass das größere Kind immer zurückstecken muss. Oder es dominiert der Gedanke: „Das müssen die unter sich klären, damit sie was lernen!“ Wenn jedoch ein schwächeres Kind auf ein überlegenes Kind trifft, befördert dieses Verhalten nur das Gewinnen des Stärkeren und ein vermittelnder Lerneffekt und Empathie bleiben zugunsten des „Recht des Stärkeren“ auf der Strecke.
Wenn Kinder streiten und in solch unterschiedlichen Entwicklungsphasen sind, dass ein Kind immer unterlegen ist, oder die kognitive Entwicklung beider Kinder noch sehr unterschiedlich ist, benötigen sie deswegen eine Begleitung im Streit, die nicht verurteilt, nicht wertet, sondern in der Vermittlung unterstützt:
- Situation nicht bewerten: Als Erwachsener waren wir vielleicht nicht bei der Entwicklung des Streits dabei, wir kennen die Vorgeschichte nicht. Es ist wichtig, nicht Partei für eines der beiden Kinder zu ergreifen. Besser: „Ich war nicht dabei, erzählt mir jeder, was passiert ist.“
- Keine Vorverurteilung: „Hast Du wieder Streit angefangen mit Deiner großen Schwester?“
- Wiederholen dessen, was die Kinder sagen: „Du sagst, er hat dein Heft mit Absicht heimlich angemalt. Er sagt, er hat es angemalt, weil er es so schöner findet.“
- Anregen zur Perspektivübernahme: „Was glaubst Du, warum hat er/sie das gemacht?“ „Was glaubst Du, wie geht es ihm/ihr jetzt?“ Bei Kindern, die das noch nicht können, die Reaktionen des anderen Kindes oder dessen Gefühle übersetzen: „Ich sehe, dass er jetzt ganz traurig ist und weint, weil er das nicht wollte.“
- Lösungsideen finden lassen, Kompromisse vorschlagen, die die Rechte beider Kinder respektiert, nicht urteilen, weil ein Kind älter/größer/stärker ist, sondern objektiv bleiben. Nicht einfordern, dass ein Kind unbedingt nachgeben muss, weil es ja größer ist/schon verstehen muss, dass…
- Nicht vom Konflikt ablenken oder versuchen, ihn lustig zu machen. Manchmal können Situationen spielerisch umschifft werden, aber nicht immer. Und es sollte auch nicht immer sein. Die Kinder haben ein für sie ernstes Thema zu besprechen.
- Manchmal finden sich keine für alle zufrieden stellenden Lösungen. Und zu einem Streit gehört es auch dazu, mit Frustration umzugehen. „Dein Bruder möchte Dir das Buch nicht geben, es ist seins. Komm doch her, ich nehm Dich in den Arm, wenn Du magst.“ Die Wut und Trauer begleiten, so lange sie anhält und dann zusammen Alternativen finden. „Jetzt geht es Dir besser? Wir können jetzt Dein Bagger-Buch ansehen.“
Und wie macht Ihr das in Konfliktsituationen?
Eure
Demnächst: Wenn Geschwister streiten Teil 2 – Kampf oder Balgen?