Wir haben ziemlich feste Vorstellungen davon, wie sich Mädchen und Jungen, Frauen und Männer in unserer Gesellschaft zu verhalten und zu bewegen haben. Auch wenn immer wieder betont wird, dass wir schon längst gleichberechtigt wären, sprechen Statistiken eine andere Sprache. Männlichkeits- und Weiblichkeitsnormen sind festgelegt und wirken sowohl auf Jungen, als auch Mädchen in vielfacher Weise negativ. In ihrem kürzlich erschienenen Buch „Gegen Frauenhass“ beschreibt Rechtsanwältin und Aktivistin Christina Clemm nachdrücklich, wie Mädchen und Frauen weltweit, aber auch hierzulande unter ökonomischer, psychischer und physischer Gewalt leiden und welche patriarchalen Strukturen und Männlichkeitsbilder dahinter stehen. Sie betont (2023, S.226) „Gegen Sexismus und Frauenhass muss auf allen Ebenen, so früh wie möglich und mit vielen Ressourcen, Fantasie und Mut gekämpft werden. Dabei reicht es nicht, sich den Unterdrückungsmechanismen entgegenzustellen, Menschen müssen befähigt werden, Geschlechtergerechtigkeit zu verstehen und dafür einzutreten. Dies fängt bei der Erziehung, der Bildung an.“
Was wir in jungen Jahren lernen, ist wichtig für die folgende Generation. Wir müssen also nicht nur Mädchen anders begleiten, stärken und den Weg für Gleichberechtigung ebnen, sondern auch unsere Söhne anders erziehen. Zugegeben: Es wird dauern, bis eine neue Generation Männer herangewachsen ist. Deswegen müssen wir mehrgleisig fahren: unsere Töchter stärken, den Gewaltschutz und die Strafverfolgung von Gewalttaten erhöhen und die Bilder von „Männlichkeit“ verändern.
Susanne Mierau „New Moms for Rebel Girls“, S. 214f.
Schluss mit Abhärtung gegenüber Gefühlen
Noch immer dominieren Vorstellungen von einer bestimmten Art von Männlichkeit die Erziehung. Oft ist es uns nicht einmal bewusst, dass wir versuchen, Jungen eher „abzuhärten“, indem wir ihnen den Zugang zu bestimmten Emotionen verwehren. „Jetzt stell dich nicht so an!“, „Jungs heulen nicht!“, „Du musst dich eben mehr durchsetzen, wenn du etwas willst!“ sind typische Sätze, die wir Jungen entgegenbringen. Auch dass wir bei ihnen viel bereitwilliger annehmen, dass sie Konflikte gewaltvoll lösen und ihnen deswegen bei Konflikten weniger Begleitung und gewaltfreie Alternativen aufzeigen, ist weit verbreitet: „Jungs sind eben so, die regeln das unter sich schon!“
Gerade die Gefühlsregulation ist aber ein wichtiger Baustein der Entwicklung: Wenn wir lernen, dass es hilfreich ist, dass bestimmte Gefühle von anderen Menschen mitreguliert werden, dass man überhaupt alle Gefühle haben darf und wie man gesund mit ihnen umgeht, können wir diese Offenheit für uns selbst nutzen, aber auch anderen Menschen entgegen bringen. Gefühle sind ein Ausdruck von Bedürfnissen, die dann zu Handlungen führen: Wenn Menschen nicht lernen, welche Bedürfnisse in welchen Gefühlen zum Ausdruck kommen (und andersherum), wenn sie nicht lernen können, die passenden, sozialverträglichen Handlungen daraus abzuleiten, damit sie ihre Bedürfnisse befriedigen können, stellt das für den Einzelnen, aber auch die Gruppe, ein Problem dar, weil diese Handlungen uns alle betreffen.
Was bedeutet das also? Wir müssen aufhören, Jungen den Zugang zu wesentlichen Gefühlen zu verwehren und ihnen erlauben, alle Gefühle zuzulassen und sie passend begleiten. Anlässe, um über Gefühle zu sprechen, gibt es jeden Tag: Nach jeder Auseinandersetzung (die zwischen Kindern durchaus normal sind), können wir darüber sprechen, was wohl die andere Person gefühlt haben mag. Darüber hinaus können wir – Mütter wie Väter – über unsere eigenen Gefühle sprechen und zeigen und erklären, wie wir mit ihnen umgehen.
Kooperation statt Konkurrenz
Gerade der Konfliktbereich ist ein wichtiges Themenfeld in der Begleitung von Jungen. Wie schon erwähnt, sollten sie Konfliktlösungen jenseits von verbaler und körperlicher Gewalt erfahren können. Dafür brauchen sie Unterstützung und Anleitung. Gleichzeitig werden sie oft auch bewusst in Wettbewerbs- und Konkurrenzsituationenn gebracht, die bei Jungen als selbstverständlich betrachtet werden. Nicht selten werden in Wettbewerbssituationen zudem gleichgeschlechtliche Gruppen gebildet, die das Gegeneinander der Geschlechter betonen „Jungs gegen Mädchen!“ anstatt mit gemischten Gruppen ein besseres Miteinander zu gestalten und diese Konkurrenzsituation aufzuheben. Durchaus müssen Wettbewerbssituationen nicht gänzlich ausgeschlossen werden, aber durch eine Balance von Wettbewerb und Kooperation, gepaart mit gemischten Wettbewerbsgruppen, kann ein anderes Miteinander gestaltet werden als in aufgeteilten und ausschließlichen Wettbewerbsangeboten.
Das Kümmern erlernen
Eng zusammen mit der emotionalen Entfremdung steht die Entfremdung des Umsorgens. Schon in der Auswahl von Spielmaterialien legen viele Eltern früh fest, was geeignetes Spielzeug für Jungen und Mädchen wäre. Oft wird dabei argumentiert, Mädchen und Jungen würden „von Natur aus“ mit bestimmten Sachen lieber spielen. Die Neurowissenschaftlerin Lise Elliot hat die Unterschiede zwischen den Geschlechtern untersucht und erklärt in ihrem Buch „Wie verschieden sind sie?“, dass es durchaus Unterschiede zwischen den Geschlechtern gibt, diese aber sehr gering und der Einfluss der Kultur wesentlich größer ist: Es müssen nicht alle Kinder gleichermaßen mit Puppen und Autos spielen und sie dürfen persönliche Vorlieben haben, aber wir sollten sie nicht per se aufgrund unserer Geschlechtszuschreibung von einem Spielbereich fernhalten: „Geh mal zu den anderen Jungen in die Bauecke!“.
Das Entfremden vom Umsorgen erstreckt sich zudem über wesentlich mehr als „nur“ die Spielzeugauswahl. Es betrifft auch die Frage, ob wir Jungen eher aus den sozialen Nahräumen wegschicken – „Los, geh draußen was spielen!“ oder ihnen die Chance geben, zu Hause beteiligt zu sein bei Care-Arbeiten wie der Essenszubereitung, die gleichzeitig auch soziale Interaktion und Kooperation bedeuten. Wir wissen, dass das Einbinden von Kindern in die Hausarbeit ein Aspekt der Entwicklung psychischer Widerstandsähigkeit (Resilienz) sein kann, da sich Kinder als selbstwirksam und wichtig für die Gruppe erleben, wenn sie innerhalb der Gruppe (altersentsprechend) für wichtige Aufgaben eingebunden werden. Gleichzeitig werden Jungen aber weniger in Hausarbeiten involviert als Mädchen. Gerade wenn es mehrere Kinder unterschiedlichen Geschlechts in einer Familie gibt, ist es sinnvoll, die Verteilung von Aufgaben noch einmal genauer anzusehen und zu überprüfen, ob diese tatsächlich gerecht verteilt sind.
Vorbilder in der Familie
Zentral für eine neue Art der Erziehung ist nicht nur das, was wir mit den Kindern tun, sondern auch das, was sie von uns als Vorbild erfahren. New Girls und New Boys brauchen nicht nur New Moms, sondern ganz besonders auch New Dads, die ihnen ein Vorbild darin sind, über Gefühle zu sprechen, die sie beim Kümmern um andere sehen und erleben, die Care-Arbeit selbstverständlich und bereitwillig übernehmen, die andere Menschen nicht wegen ihres Geschlechts abwerten und sich aktiv gegen die Abwertung anderer stellen. Hier gibt es noch erheblichen Spielraum, da Väter weiterhin – obwohl sie statistisch betrachtet mehr Sorgearbeit übernehmen wollen – es doch nicht tun und auch weiterhin weniger Elternzeit nehmen.
Gerade das Verhalten von Eltern einander gegenüber – ob nun innerhalb einer Paarbeziehung oder bei getrennten Eltern – ist ein wichtiges Vorbild für Kinder: Gehen diese nahen Bezugspersonen respektvoll miteinander um? Wie streiten und versöhnen sie sich? In der Kindheit erlernen wir Muster von Schuldzuweisungen, Rache, Bestrafung etc. in Konfliktsituationen, die unser Bild von nachhaltig prägen können. Werden Konflikte konstruktiv gelöst, ist das für Kinder nachhaltig hilfreich.
Wir brauchen nicht nur „New Moms for Rebel Girls“, wir brauchen auch ein Umdenken in Hinblick auf die Erziehung von Jungen. Wir brauchen New Dads, die sich um Jungen wie Mädchen modern, gefühlvoll und achtsam kümmern und ihnen ein Vorbild sind im Alltag. Hierdurch kann es uns gelingen, Gesellschaft zu verändern und Kindern ein gesünderes Aufwachsen zu ermöglichen jenseits von festen Rollenzuschreibungen, die ihnen auf allen Seiten schaden.
Eure
Zur Autorin:
Susanne Mierau ist Diplom-Pädagogin (Schwerpunkt Kleinkindpädagogik) und Familienbegleiterin. Sie arbeitete an der FU Berlin in Forschung und Lehre, bevor sie sich 2011 im Bereich bedürfnisorientierte Elternberatung selbständig machte. Ihr 2012 gegründetes Blog geborgen-wachsen.de und ihre Social Media Kanäle sind wichtige und viel genutzte freie Informationsportale für bedürfnisorientierte Elternschaft und kindliche Entwicklung. Susanne Mierau gibt Workshops für Eltern und Fachpersonal und spricht auf Konferenzen und Tagungen über kindliche Entwicklung, Elternschaft und Familienrollen.
Foto: Ronja Jung für geborgen-wachsen.de