«Bauch frei!» – Ein Plädoyer für eine selbstbestimmte Schwangerschaft von Marlene Hellene

Schwangerschaft und Geburt sind eine besondere Zeit für Gebärende. Nicht „nur“ aufgrund der vielen (neuen) Erfahrungen, sondern auch durch die gesellschaftlichen Rahmenbedingungen, Erwartungen und Zuschreibungen. Die Autorin Marlene Hellene hat sich in ihrem neuesten Buch «Bauchfrei!» dieser Zeit gewidmet und zeichnet ein Bild jener Einflüsse nach, über die viel zu wenig gesprochen wird: Sie schreibt über Zweifel, Ängste, Schmerzen, Anstrengungen, Hebammenmangel, Übergriffigkeit, Erwartungsdruck und Gewalt. Ein aufklärendes, aufregendes Buch. In das Kapitel „Geburt“ könnt ihr hier hineinlesen:

Die Hand auf dem Bauch, der Rücken gekrümmt. Schmerzverzerrtes Gesicht. Taxi. Gib Gas, Mann! Fruchtwasser auf den Ledersitzen. Kreissaal eins ist gleich da hinten. Sie schaffen das! Pressen! Herzlichen Glückwunsch!
Freudentränen, Glück und ganz viel Liebe. Ein wenig verschmierte Wimperntusche. Ein stolzer Vater mit aufgerollten Hemdsärmeln. Ein rosafarbenes, propperes Neugeborenes. Luftballons und Konfetti.

Wäre dieses Buch ein Kinofilm, dann wäre dieses Kapitel jetzt abgeschlossen. Berührende Klaviermusik. Abspann. Ende. Bitte werfen Sie Ihre leeren Popcornverpackungen in die dafür vorgesehenen Mülleimer am Ausgang. Beehren Sie uns bald wieder.

Das Leben, das wahre, das echte schreibt andere Geschichten. Und die wenigsten Geburten, sind für ein amüsierwilliges Kinopublikum geeignet.
Wenn es um Geburten geht hat, jeder eine Meinung. Da weiß jeder etwas. Immerhin ist jeder selbst mal geboren worden. Von Mutti. Und die hat gesagt, dass es gar nicht schlimm und voll unkompliziert war. Und Rüdiger hat gehört, dass Wehen sich ähnlich anfühlen, wie starke Periodenschmerzen. Und Rüdiger muss es ja wissen. Er ist schließlich ein Mann.

Ich habe zweimal spontan, das heißt ohne einleitende Maßnahmen oder technischen Hilfsmittel, geboren. Mein erstes Kind kam sechs Wochen zu früh auf die Welt, was die meisten Leute annehmen ließ, dass die Geburt bei diesem Leichtgewicht einfach gewesen sein müsste. Mein zweites Kind kam innerhalt von neunzig Minuten zur Welt, was wiederum zu der Annahme führte, dass die kurze Dauer die Geburt praktisch zu einem Spaziergang gemacht habe. Ich werde hier nicht genauer ins Detail gehen. Ich kann nur so viel sagen: Nein! Aufgrund der Dauer der Geburt oder des Gewichts des Kindes auf den Verlauf der Geburt zu schließen, ist schon sehr kurzsichtig. Es empfiehlt sich, das sein zu lassen, wenn man niemanden verärgern oder verletzen möchte.

Aber bevor wir uns mit den Danach beschäftigen, sollten wir uns das Davor anschauen. Den Moment vor der Geburt. Wenn es losgeht. Tja, und da fangen die Fragen auch schon an. Wann geht es denn los? Woher weiß ich, dass es wirklich losgeht? Und wie unterscheide ich mögliche Vor- oder Senkwehen von Geburtswehen? Ich weiß nicht, ob Hebammen oder Ärzt:innen dazu eine allgemeingültige Antwort geben können. Eher nicht. Ich jedenfalls kann es definitiv nicht. Als es bei mir richtig losging, als die Geburtswehen einsetzten und das Kind sich auf den Weg machte, wusste ich es einfach. Ich wusste es, weil der Schmerz mich mit einer Wucht und Brachialität packte, dass alles vollkommen klar war. Die Reise hatte begonnen. Und jetzt? Was tun? Wohin gehen?

Ich habe beide Male in einer Klinik mit angeschlossener Neonatologie (Bereich der Kinderklinik, in der sich insbesondere mit Neugeborenen und Frühgeborenen befasst wird) geboren. Bei ersten Mal hatte ich keine andere Wahl. Wer in Deutschland vor der 36. Schwangerschaftswoche entbindet, wird von Kliniken ohne Neonatologie nicht aufgenommen, da davon ausgegangen wird, dass das Neugeborene nach der Geburt die spezielle Betreuung von Fachärzt:innen bedarf. Die Entbindung zuhause oder in einem Geburtshaus kommt bei einer Frühgeburt (vor Vollendung der 37. Schwangerschaftswoche oder mit einem Gewicht von unter 2500 Gramm bei der Geburt) grundsätzlich nicht infrage. Bei meinem zweiten Kind hätte ich theoretisch überall entbinden können. Doch es zog mich an den mir vertrauten Ort zurück.

In Deutschland gilt die freie Wahl des Geburtsortes, das heißt, Schwangere können sowohl in einer Klinik als auch außerklinisch in einem Geburtshaus oder zu Hause gebären (§ 24 f des fünften Sozialgesetzbuches).
Also theoretisch. Praktisch hatte ich die bei meinem ersten Kind nicht. Aus medizinischen Gründen. Die ich respektiere. Mein Neugeborenes war auf sofortige medizinische Hilfe angewiesen. Ein anderer Geburtsort stand nie zur Debatte. Als ich Wochen vor der Geburt in die Klinik kam, hatte ich noch keine Überlegungen über den Ort der Geburt angestellt. Ich hatte keine Vorlieben, ich hatte keine Wünsche. Und ich hatte keine Ahnung. Ich kannte mich nicht aus mit den verschiedenen Möglichkeiten, wo man sein Kind auf die Welt bringen kann. Das Krankenhaus schien mir der gewöhnliche Ort dafür zu sein.
Tatsächlich ist das aber nur eine unter mehreren Möglichkeiten. Wer eine Geburt im Krankenhaus plant, hat schon hier die Wahl. Soll es ein Krankenhaus mit Kinderklinik sein oder ohne? Oder soll das Krankenhaus ein besonderes Konzept für den Kreissaal haben, wie zum Beispiel den hebammenbegleiteten Kreissaal? Darin versteht man die Geburt unter hausgeburtsähnlicher Atmosphäre, nur begleitet durch die Hebamme. Dadurch soll die Geburt natürlicher, intimer und selbstbestimmter sein.


Andere wünschen sich eine Geburt im Geburtshaus. Das ist eine von Hebammen geführte außerklinische Einrichtung. Die Geburt wird ausschließlich von der Hebamme begleitet. Ärztliches Personal steht vor Ort nicht zur Verfügung. Auch hier steht der Wunsch nach Intimität und Selbstbestimmung für viele Frauen im Vordergrund.
Häufig wird die Atmosphäre einer Klinik mit negativen Assoziationen verknüpft. Krankheit. Tod. Schmerz. Angst. Assoziationen, die für viele nicht zur Geburt ihres Kindes passen. Sie möchten eine private Umgebung. Ein freundliches, lebensbejahendes Umfeld. Aus diesen Gründen wünschen sich Schwangere häufig auch eine Geburt zuhause. In ihrem vertrauten Umfeld. In ihren privaten Räumen. Wo sie sich geschützt fühlen.


In Deutschland kommen 98% der Kinder im Krankenhaus zur Welt. Bei einer komplikationslosen Schwangerschaft, die bis zum Ende ausgetragen wurde, käme eine Geburt im Geburtshaus oder zuhause jedoch in Frage. Dass aber dennoch die meisten Geburten im Krankenhaus stattfinden, liegt nicht unbedingt daran, dass Schwangere kein Interesse an anderen Geburtsorten haben. Häufig liegt auch keine medizinische Notwendigkeit zugrunde. Nein, der Grund, warum die überwiegende Mehrheit im Krankenhaus entbindet, heißt Geld. Wieder einmal. Geld, dass Hebammen verdammt noch mal nicht ausreichend verdienen. Geld, das Hebammen fehlt, um die horrende Haftpflichtversicherung zu bezahlen, die sie für die Begleitung außerklinischer Geburten benötigen. Geld, dass junge Menschen davon abhält, den Beruf überhaupt zu wählen. Geld, dass dafür sorgt, dass Hebammenmangel herrscht, dass die Bedingungen für praktizierende Hebammen immer schlechter werden, sodass viele sich schweren Herzens aus dem Beruf zurückziehen. Wir erinnern uns. Über dieses traurige Resultat habe ich bereits berichtet.


Schwangere, die sich einen anderen Ort, als die Klinik für ihre Entbindung wünschen, scheitern oft kläglich bei der Suche. Hebammen, die eine Hausgeburt, eine Geburt im Geburtshaus oder eine Hebammengeburt im Kreissaal anbieten, sind entweder heillos ausgebucht oder im Umkreis der Schwangeren gar nicht erst zu finden.
Einige Schwangere finden nicht mal mehr eine Klinik, in näherer Umgebung. Immer mehr Kliniken schließen ihre Geburtsstationen wegen mangelnder Rentabilität. Sie sind zu teuer. Sie bringen zu wenig ein. Und so ist die freie Wahl des Geburtsortes für viele nur noch eine hohle Phrase.
Und das wird sich auch nicht ändern. Die Bedingungen werden eher schlechter. Jetzt schon werden Schwangere mit Wehen an der Kreisssaaltür abgewiesen. Teilweise müssen Schwangere mit Fahrtzeiten von bis zu sechzig Minuten zum nächsten Kreissaal rechnen. Wenn man bedenkt, dass die schwangere Person Angst und Schmerzen hat, ist das absolut skandalös und indiskutabel.
Dabei – und das möchte ich immer wieder betonen – geht es hier um die Geburt eines neuen Menschen. Es geht um den Erhalt der Menschheit. Eine Geburt ist ein Ereignis im Leben eines Menschen, das mit nichts zu vergleichen ist. Ein Erlebnis voller Kraft und Schmerz. Ein Erlebnis, auf das einen nichts vorbereiten kann, das man nicht zu lernen vermag. Ein Mensch bringt einen Menschen auf die Welt. Sollte eine gebärende Person dabei nicht alle Unterstützung der Welt erhalten? Sollte nicht ihr Wille, ihr Wunsch oberste Priorität haben? Sollten wir als Gesellschaft nicht dankbar sein und alles dafür geben, dass es die gebärende Person so angenehm wie möglich hat? Die Geburt eines Menschen ist mit Geld nicht zu bemessen. Geld darf beim Thema Geburt doch wirklich keine Rolle spielen. Ah, ich will schon wieder schreien, so wütend macht mich dieses Thema. Weil es wieder einmal zeigt, dass Frauen, dass Familien keine Lobby haben.
Die freie Wahl des Geburtsortes. Ein theoretisches Konstrukt, dass viele Gebärende nur noch bitter auflachen lässt.

Aber es ist nicht nur der Ort der Geburt, der Schwangeren durch rigide Sparmaßnahmen in der Geburtshilfe häufig nicht mehr frei zur Verfügung steht. Auch die Betreuung unter der Geburt wird immer schlechter. Weil das Personal fehlt. Weil das Geld nicht mehr ausreicht. Infolgedessen wird die Geburt oft unzureichend betreut. Es fehlt die Zeit, die Schwangere achtsam und behutsam unter der Geburt zu begleiten. Und damit kommen wir zu einem weiteren großen Thema, dass in den letzten Jahren immer mehr an Bedeutung gewinnt. Der Gewalt in der Geburtshilfe.
„Jetzt beeilen Sie sich mal, Ihrem Kind geht es langsam schlechter.“
„Stellen Sie sich nicht so an!“
„Das müssen Sie schon aushalten können.“
„Halten Sie gefälligst still.“
„Hilfe schreien bringt Ihnen jetzt auch nichts mehr. Da hätten Sie vor neun Monaten drüber nachdenken müssen.“
„Die Fruchtblase sollte jetzt endlich mal aufgehen. Lassen Sie mich mal ran. Was? Das tat weh? Dafür geht es jetzt schneller.“
„Kinderkriegen ist nichts für zarte Seelen.“
„Wenn Sie sich jetzt schon so anstellen, wird das nichts mehr.“

Sie haben einige dieser Sätze selbst gehört? Ich auch. Und ich habe sie nicht vergessen. Und auch den körperlichen Schmerz nicht, der an manchen Stellen vermeidbar gewesen wäre. Durch Geduld, durch Feinfühligkeit. Unter der Geburt erleben viele Gebärende das Gefühl des Ausgeliefertseins. Das Gefühl, alleine zu sein. Das Gefühl: Die gegen mich. Du musst schneller sein. Du musst stärker sein. Du musst besser sein.
In der Geburtshilfe ist der Fokus sehr stark auf das Wohl des Kindes ausgerichtet. Das Befinden der Mutter scheint zweitrangig. Dabei ist gute Geburtsthilfe in erster Linie Frauenrecht.

Während der Geburt meiner Tochter wurde ich ohnmächtig. Der Schmerz hat mich überwältigt, der Körper hat die Stopptaste gedrückt. Die sich immer wieder eng zuziehende Blutdruckmanschette an meinem Oberarm holte mich zurück in die Wirklichkeit. Sofort fragte ich, wie es meinem Kind ginge. Die Antwort lautete: „Ihrem Kind geht es gut, nur Ihnen nicht.“ Und sie machte mich glücklich. Diese Antwort. Weil auch mir mein eigenes Befinden völlig gleichgültig geworden war. Es galt, mein Kind unbeschadet zu gebären. Zu jedem Preis. Koste es, was es wolle.
Die gesamte Schwangerschaft über hatte ich gelernt, dass es nicht um mich geht. Ich war nur die Hülle für einen kostbaren Schatz.
Als ich in der 31. Schwangerschaftswoche mit Wehen in die Klinik kam, wurde schnell alles getan, um zu verhindern, dass mein Kind jetzt schon zu Welt kommt. Bettruhe. Wehen hemmendes Medikament intravenös. Engmaschige CTG-Kontrollen. Was jedoch nicht geschah, war, dass sich jemand um mich kümmerte. Um meine Ängste. Um meine Fragen. Ich lag tagelang in meinem Krankenhausbett und wusste nicht, was mit mir geschah. Ich wusste nicht, wie es weitergehen sollte, wie lange ich noch bleiben müsste, was der Plan vorsah. Irgendwann machte der Chefarzt seine große Aufwartung. Älterer Herr. Professor. Doktor. Stethoskop und Gottgefühl. So stand er vor meinem Bett. Sein Anhang bestand aus einer Menge weiß bekittelter Menschen. Ärzte und Studenten. Krankenschwestern. Ich würde die Ärzte, die Studenten und die Krankenschwestern ja gerne gendern. Aber leider war die Geschlechterverteilung so wie geschrieben. Classic. Dennoch. Ich war froh über diesen Besuch. Endlich könnte ich Fragen stellen, Ängste äußern. Endlich kümmerte sich jemand um mich. Und so fragte ich frohen Mutes, wann ich nach Hause dürfe.
„Sie dürfen jederzeit nach Hause. Wenn Sie wollen, dass Ihr Kind stirbt.“ BÄÄÄÄM! Sagte er und verschwand. Eine der Krankenschwestern streichelte beim Rausgehen mit verschämtem Blick mein Bein. Das Geschehene war ihr merklich unangenehm. Aber Widerspruch stand ihr nicht zu.
Sprache kann Waffe sein. Sprache kann aber auch Trost sein. Es liegt einzig an uns, was wir zu geben bereit sind.

Die Soziologin Christina Mundlos hat ein Buch geschrieben „Gewalt unter der Geburt“. Darin spricht sie von fast jeder zweiten Frau, die Gewalt unter der Geburt erlebt hat. Dass überhaupt darüber gesprochen wird, ist neu. Und gut. Denn auch hier befinden wir uns wieder einmal in der Tabuzone. Zum Glück gibt es ein Mittel gegen Tabus. Das Darüber- Sprechen. Tabus hassen das. Dann brechen sie.
Es muss unbedingt darüber aufgeklärt werden, dass derartige Sätze, derartiges Verhalten des medizinischen Personals eben nicht zur Geburt dazu gehören. Es muss so nicht sein. Ganz im Gegenteil. Nur, weil Gewalt (Und lassen Sie uns es endlich so benennen. Nicht unfreundlicher Ton. Nicht ruppiges Benehmen. Nicht schlechte Manieren. Gewalt!) in der Geburtshilfe eine lange schreckliche Tradition hat, ist sie dennoch nicht zu tolerieren, ist sie dennoch kein zwingender Bestandteil. Egal, ob „wir da alle durchmussten“ oder ob „das Kind uns am Schluss für alles entschädigt“ (Was es übrigens nicht tut. Das ist auch nicht seine Aufgabe). Zum Glück schleicht sich so langsam ein Wandel in das Bewusstsein unserer Gesellschaft. Weil Gebärende nicht mehr stumm bleiben. Nicht mehr tolerieren. Das zeigt unter anderem der Rose Revolution Day am 25. November. Betroffene Frauen legen Rosen vor Geburtskliniken, vor Kreissaaltüren nieder. Als sichtbares Zeichen. „Ich habe hier etwas Schlimmes erlebt, und das nehme ich nicht länger hin.“ Und die Vielzahl der Rosen zeigt: Ihr seid nicht länger allein mit euren Erlebnissen. Wir sind viele.

Vordergründig ist es das fehlende Geld, dass dafür sorgt, dass Geburtsstationen schließen müssen, dass eine eins-zu-eins Betreuung durch eine Hebamme unter der Geburt nicht möglich ist, dass weniger Zeit bleibt für einen natürlichen Geburtsvorgang und schneller interveniert wird, dass das medizinische Personal gestresst und desillusioniert ist. Dass es zu Gewalt und Verletzungen kommt. Nun, aber warum fehlt das Geld? Warum wird eine Fluggesellschaft mit Milliarden unterstützt, während in ländlichen Gebieten kaum noch Geburtshilfe angeboten wird? Der Ursprung kennt nur einen Grund: Misogynie. Und damit muss Schluss sein! Gute Geburtshilfe ist Frauenrecht, ist Menschenrecht. Jede einzelne Person auf diesem Planeten hat ein Interesse daran, dafür einzustehen. Wir müssen darüber sprechen. Wir müssen laut werden. Wir müssen aufbegehren.

*

Man denkt, man kann nicht mehr. Man sagt, man kann nicht mehr. Und. Man kann nicht mehr. Keine Sekunde. Keinen Millimeter. Und trotzdem. Trotzdem macht man weiter. Denn es gibt kein Zurück. Es gibt keine Alternative.

Es sind diese Sätze, die mein Denken, mein Fühlen unter den Geburten am besten beschreiben. Es ist keine Kraft mehr übrig. Der Schmerz ist nicht auszuhalten. Lasst mich hier zurück. Doch der Körper übernimmt. Die Wehen kommen, egal wie sehr du flehst, und das Kind bahnt sich seinen Weg aus dir heraus.
Eine Geburt ist eine Extremsituation. Für den Körper. Für die Seele. Man wird mit Schmerzen konfrontiert, von denen man nicht dachte, dass man sie ertragen könnte. Man entwickelt eine Stärke, die man seinem Körper nie zugetraut hätte. Und man lernt seine eigenen Grenzen völlig neu kennen. Nämlich, in der Form, dass es sie nicht gibt. Man ist praktisch grenzenlos in seiner Kraft, in seiner Stärke, im Ertragen. Weil es sein muss. Muss. Muss. Muss.

Doch jede gebärende Person erlebt die Geburt anders.
Grob gesagt, gibt es zwei Arten, ein Kind auf die Welt zu bringen. Vaginal oder per Kaiserschnitt.
Die Kaiserschnittrate lag in Deutschland im Jahr 2018 bei knapp 30 Prozent. Das heißt jede dritte Person hat per Kaiserschnitt entbunden. Im Jahr 1991 lag die Rate noch bei rund 15 Prozent. Selbst mathematisch weniger begabte Menschen wie ich erkennen: Die Rate hat sich in den letzten dreißig Jahren verdoppelt. Was ist da los?
Erstmal vorweg: Die Möglichkeit des Kaiserschnitts ist eine großartige medizinische Errungenschaft. Der Kaiserschnitt hat viele, viele Leben gerettet. Frauenleben. Kinderleben.
Dennoch hat der Kaiserschnitt einen schlechten Ruf. Aus Gründen. Guten Gründen. Schlechten Gründen.

Schauen wir mal hin. Warum ist der Kaiserschnitt kritisch zu betrachten?
Ein Kaiserschnitt ist gut und wichtig, wenn er notwendig ist. Aus medizinischen Gründen, aus psychologischen Gründen, aufgrund der Entscheidung der Gebärenden. Ein Kaiserschnitt, der vorgenommen wird, ohne dass eine dieser Notwendigkeiten dezidiert vorliegt, kann jedoch zum Problem werden. Häh? Aber warum sollte ein Kaiserschnitt vorgenommen werden, wenn er nicht zwingend nötig ist? Tja. Ich wiederhole mich wirklich ungern, und ich will auch niemanden langweilen, aber wieder steckt dahinter eins: Geld. Eine komplikationslose vaginale Geburt wird gegenüber dem Krankenhaus schlechter vergütet als ein Kaiserschnitt. Ein Kaiserschnitt hat einen Zeitaufwand von zwanzig bis dreißig Minuten. Eine vaginale Geburt kann hingegen Stunden bis Tage dauern. Nachts, an Wochenenden und Feiertagen. Das heißt: Viel mehr Aufwand und weniger Planbarkeit für geringe Vergütung. Superschlecht. Für das Krankenhaus gibt es nämlich wirtschaftlich keinen Anreiz eine vaginale Geburt zu fördern. Der sowieso schon bestehende Personalmangel und die Angst bei einer vaginalen Geburt, bei der auch nur das minimalste Risiko zu befürchten ist, möglicherweise Schadensersatzzahlungen zu riskieren, tut sein Übriges.
Ein Kaiserschnitt ist eine Intervention in den Geburtsverlauf, und er kann Folgen haben. Frauen sind bei einem Kaiserschnitt einer dreimal höheren Gefahr ausgesetzt zu sterben, als bei einer vaginalen Geburt. Es kann zu Thrombosen kommen, übermäßigem Blutverlust, Wundheilungsstörungen, Infektionen, Verwachsungen etc. Und auch für das Neugeborene sind möglicherweise Folgen zu erwarten. Zum Beispiel leiden per Kaiserschnitt geborene Kinder häufiger unter Atemproblemen und Anpassungsstörungen. Außerdem erhöht sich bei diesen Kindern geringfügig das Risiko für Allergien, Asthma und Zuckererkrankungen, was möglicherweise mit dem fehlenden Kontakt des Kindes mit der Keimflora im Geburtskanal zu erklären ist.
Absolut aber nicht außer Acht zu lassen sind die psychischen Folgen, die ein Kaiserschnitt als Geburtsintervention, als Vorgabe durch ärztliches Personal, für die gebärende Person haben kann.
„Ich habe es nicht geschafft.“ Das waren die Worte, die eine Freundin nach der Geburt ihres Kindes durch Kaiserschnitt zu mir sagte. Nicht geschafft. Versagt. Und da ist sie wieder. Die Scham. Die Scham, die besonders in der Schwangerschaft ein so großes Thema ist. Ich habe bewusst bisher den Begriff der natürlichen Geburt vermieden. Dabei wird dieser mit vaginaler Geburt gleichgesetzt. Ist überall zu lesen. Synonym. Doch was ist dann der Kaiserschnitt? Eine unnatürliche Geburt? Nicht normal? Und somit auch gleich nicht richtig. Schlechter? Eine Geburt zweiter Klasse? Da zeigt sich mal wieder die Macht der Sprache. Würde gar nicht mehr von einer natürlichen Geburt im Gegensatz zur vaginalen gesprochen, wäre das schon ein erster Schritt. Manche haben schon damit begonnen. Bauchgeburt nennen sie den Kaiserschnitt. Und das finde ich perfekt. Weil es nämlich das wichtige Wort Geburt beinhaltet. Ein Kaiserschnitt ist eine Geburt. Nicht mehr und nicht weniger. Eine Geburt aus dem Bauch heraus.
Wenn diese Art der Geburt aber Frauen wie ein Unfall zustößt, ohne, dass sie ein Mitspracherecht haben, ohne, dass sie die Gründe verstehen, ohne absolute Notwendigkeit und vor allem gegen den Willen der Gebärenden, dann ist es nicht die richtige Art der Geburt für diese Person. Dann kann sie psychische Folgen haben. Depressionen. Störung der Bindung zum Kind. Trauer. Posttraumatische Belastungsstörung. Stillprobleme. Das Gefühl des Betrogenwerdens um das Erlebnis der vaginalen Geburt.

Es gibt aber auch viele Gründe, den Kaiserschnitt, die Bauchgeburt zu feiern.
Wie gesagt, er rettet Menschenleben. Allein dafür verdient er schon richtig viel Applaus. Was er aber noch tut ist, Schwangeren eine Wahl zu geben. Es gibt medizinische Gründe für einen Kaiserschnitt, es gibt psychologische Gründe, es gibt diverse andere Gründe. Und alle sind sie relevant. Und alle gehen sie Dritte nichts an. Und vor allem ist keiner dieser Gründe zu verurteilen.
„Too posh to push.“ Dieser Satz, der mit „zu fein zum Pressen“ übersetzt werden kann, grassierte irgendwann durch die (insbesondere englische und amerikanische) Medienlandschaft. Er wurde immer wieder in großen Lettern auf Klatschblättertitelseiten gedruckt, wenn bekannt wurde, dass irgendeine prominente Person per Kaiserschnitt entbunden hatte. Menschen tippten diesen Satz mit gierigen Fingern und sensationslustig geweiteten Augen in ihre Tastaturen. Menschen, die keine Ahnung hatten, aus welchen Gründen die betreffende Frau auf diesen Weg entband. Sie wussten nicht, ob dies ihrem Wunsch entsprach, welche medizinischen Hintergründe dahintersteckten. Sie wussten nicht, wie es der Frau mit dieser Geburt ging. Sie wussten nicht, ob sie traurig war oder froh. Sie wussten nicht, wer über den Geburtsverlauf entschieden hatte. Sie wussten nichts. Nichts. Nichts. Nichts. Und doch schrieben sie. Weil sie Arschlöcher waren. Halt, für dieses Ausdrucksweise möchte ich mich entschuldigen. Sie waren respektlose, geldgeile Arschlöcher.
Es gibt schwerwiegende körperliche Gründe für einen Kaiserschnitt. Es gibt schwerwiegende psychische Gründe für einen Kaiserschnitt. Wer aber glaubt, Schwangere entscheiden sich für einen Kaiserschnitt, weil dies der „einfachere Weg“ ist, hat mal wieder keine Ahnung. Bei einem Kaiserschnitt wird die Frau lokal oder per Vollnarkose narkotisiert. Danach wird ein zehn bis fünfzehn Zentimeter langer Querschnitt am Unterbauch angesetzt. Dieser Schnitt durchtrennt Haut, Fettgewebe, Körperhülle und die Vorderwand der Gebärmutter. Die Fruchtblase wird geöffnet und das Kind durch die Öffnung herausgezogen, während oberhalb des Schnittes eine weitere Person auf den Bauch drückt. Das Vernähen der Wunde dauert zwanzig bis dreißig Minuten. Am Ende hat man eine Narbe von acht bis zehn Zentimetern. Das erste Mal aufstehen können Frauen nach einem Kaiserschnitt in der Regel am nächsten Tag. Und dieses Aufstehen ist schmerzhaft. Sehr schmerzhaft. Und dieser Schmerz wird die ersten Tage zum ständigen Begleiter. Schließlich handelt es sich bei einem Kaiserschnitt um eine Bauch-OP. Einer großen Bauch-OP. Jeder Person, die per Kaiserschnitt entbunden hat, bleibt zu hoffen, dass ihr Schmerzmittel in rauen Mengen angeboten wird. Die Narbe ist nach ungefähr drei Wochen verheilt. Die durchtrennten Musekelfasern und Nerven brauchen bis zur kompletten Regeneration bis zu einem Jahr.
Klingt das wie ein leichter Weg? Ein Prozedere für Faule? Eben!

Eine Geburt ist kein Wettbewerb. Kein Wettrennen um Ruhm und Ehre. Kein Anlass, um Punkte zu sammeln. Eine Geburt ist eine Geburt. Aus dem Bauch heraus. Vaginal. Ob kurz oder lang, mit großem oder kleinem Kind, mit Interventionen oder ohne, zuhause oder in der Klinik, schwer oder einfach, zum ersten oder achten Mal, laut oder leise. Eine Geburt ist eine Geburt ist eine Geburt ist eine Geburt.

Unvergessen. Ich erinnere mich. An jeden Satz an jedes Wort. An die Schmerzen. Die Kraft. Die Anstrengung. Wie meine Grenzen verschwammen, ich die Kontrolle verlor. Ich rieche das Desinfektionsmittel, sehe die Gesundheitsschuhe der Hebamme, das harte Laken auf dem Kreissaalbett. Höre ihre Stimmen. Spüre die Nadel im Arm, die Hände der Ärztin. Schmecke den lauwarmen Krankenhaustee und mein eigenes Erbrochenes. Und ich fühle. Die Erschöpfung, die Verzweiflung. Die Angst. Die Brachialität und Wucht. Die Wehen, wie Wellen. Nicht zu stoppen. Unbeeindruckt von meinem Flehen.
Und dann. Der Moment, als ich Dir zum ersten Mal in die Augen sah. Ganz dunkel waren sie. Du schautest mich an. Ganz ruhig. Irgendwie wissend. Und dieser Blick überfuhr mich. Knipste ein Licht in mir an. Weckte mich auf. Glück durchflutete mich und Stolz. Ich wollte schreien. „SEHT HER. SEHT ALLE HER. DAS IST MEIN KIND. IN MIR GEWACHSEN. DAS HABE ICH GEMACHT. DAS HABE ICH GEBOREN!“
Adrenalin durchflutete mich wie eine Droge, und ich war vollkommen high. Wie angekommen. Endlich, nach einer langen beschwerlichen Reise. Am Ziel. Du warst da, als hätte ich schon immer auf dich gewartet. Als hätten wir uns schon immer gekannt. Als sollte es schon immer so sein. Und ich konnte nicht fassen, dass die Erde sich einfach so weiterdreht, die Vögel zwitschern, die Sonne scheint, Autos hupend im Stau stehen, Kinder in der Schule sitzen, Menschen Wäsche waschen. Dass sie schlafen, essen, träumen, streiten, arbeiten, sich küssen. Dass sie Gurken und Brot einkaufen, und den Hund ausführen. Ins Handy starren oder ihre Steuererklärung machen. Konnte nicht verstehen, dass die Welt nicht stillt steht. Nur kurz. Um sich zu verbeugen. Vor Dir. Und vor mir.

aus:
Marlene Hellene, Bauch frei
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Zur Autorin:
Marlene Hellene, geboren 1979, begeistert auf Twitter und Instagram mit ihren Texten und Tweets. Texte der Autorin erscheinen u. a. in der SZ und regelmäßig in der Brigitte Mom. Ihre Bücher „Man bekommt ja so viel zurück“ und „Zu groß für die Babyklappe“ waren Bestseller. Sie lebt mit ihrer Familie in Karlsruhe.

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