Wie viele Tränen habe ich in der Elternschaft schon geweint? Aus Erschöpfung, Wut, Überlastung, Glück, Trauer, Versagensgefühlen? Wie oft war ich wohl verzweifelt? Es sind so viele Momente, in denen die Tränen über meine Wangen gelaufen sind: bei den Geburten – aus Freude, Glück, Angst, Schmerz -, in der Zeit mit einem kleinen Baby – aus Überforderung, Müdigkeit, Erschöpfung, Liebe, Glücksgefühl -, in der Zeit mit größeren Kindern – aus Sorge, vor Lachen, aus Kummer, aus Überwältigung. Immer wieder gibt es diese Momente, in denen Tränen ihren Raum haben. Und ihn haben müssen, denn auch die Tränen gehören dazu. Ich erinnere mich daran, wie ich weinend am Fenster stand mit meinem schreienden Baby und nicht wusste, was ich tun soll, um es zu beruhigen. Erinnerungen an das Gefühl der Scham dabei, der Angst, der Überlastung, der Sorge. Ich erinnere mich an die Tränen der Erleichterung, nachdem mein Kind auf dem Schulweg verschwunden war und ich es wieder in den Armen hielt. So viel Liebe, so viel Angst.
Manches Mal habe ich mich geschämt für meine Tränen. War verärgert darüber oder besorgt. Vor den anderen Menschen, aber auch vor meinen Kindern. Durfte ich weinen? Durfte ich schwach sein? Sei es nicht meine Aufgabe, einen Plan von der Welt zu haben und voran zu gehen? Aber Tränen bedeuten nicht zwangsweise, den Weg nicht zu kennen. Sie bedeuten auch, dass der Weg gerade besonders ist: besonders schön oder besonders schwierig.
Wie oft reden wir davon, dass unsere Kinder frei sein sollen, dass sie fühlen dürfen und sollen und dass wir sie nicht einengen wollen mit in ihren Gedanken und Gefühlen? Wie oft erklären wir, wie wichtig es sei, dass Kinder getröstet werden müssen, um sich geborgen zu fühlen und versagen es uns selbst, weil wir nicht zeigen, dass wir gerade Trost oder Zuwendung brauchen?
Unsere Kinder haben nicht die Aufgabe, uns zu trösten. Sie sind nicht verantwortlich dafür, dass es uns besser geht. Den Rahmen für unser eigenes Wohlbefinden können wir nur selbst oder mit anderen erwachsenen Menschen gestalten. Aber unsere Kinder dürfen erleben, wie es uns geht, solange wir sie damit nicht verängstigen oder verstören. Wir müssen uns für Tränen nicht schämen. Tränen entlasten, wenn wir sie weinen, sie schwemmen Hormone aus unserem Körper, sie geben einem Gefühl ein Ventil. Wir können weinen und brauchen Menschen, die uns trösten. Anteilnahme, Verständnis, Hilfe, Mitgefühl. Wir müssen als Eltern nicht beständig nur „stark“ sein oder so erscheinen. Wir dürfen zeigen, dass auch wir schwach sind. Dass wir Hilfe und/oder Trost brauchen, annehmen und es uns danach oder damit besser geht. Wir dürfen zeigen, dass es gut tut, Hilfe einzufordern und anzunehmen.
Während der Recherchen für mein neues Buch über viel weinende Babys, stieß ich kürzlich auf eine aktuelle Studie über Beruhigungsstrategien von Müttern: In einer vergleichenden Studie, an der 684 Frauen aus elf verschiedenen Ländern teilnahmen, wurde festgestellt, dass es ein kulturübergreifende gleiches Handeln bei Müttern gibt, wenn ihr Baby zu weinen beginnt: Sie nehmen es hoch, tragen es und sprechen mit ihm. Weiterlesen
Kinder sind oft erstaunlich robust: Sie lernen zu krabbeln, sich hin zu setzen und zu laufen. Und dabei machen sie immer wieder auch unsanfte Erfahrungen. Sie stürzen, sie holen sich blaue Flecken und Schürfwunden. Und all diese Erfahrungen sind leider auch wichtig, denn das Baby und Kleinkind muss lernen, wie es sich richtig bewegt, wie es richtig vom Stehen zum Sitzen kommt und es muss auch lernen, wie es sich beim Fallen gut abrollen kann, um schlimme Verletzungen später zu vermeiden.
Genauso wie das Kind jedoch diese Erfahrungen benötigt, braucht es in solchen Situationen auch eine andere Erkenntnis: Es ist jemand da, der mich wahrnimmt, der meine Gefühle spiegelt, ihnen überhaupt erst Worte gibt, und mir dadurch auch ein Bild über mich selbst vermittelt. Der mir vermittelt: „Ich sehe deinen Schmerz oder dein Erschrecken. Es ist berechtigt, wie du fühlst. Du fühlst! Ich bin für dich da. Es wird wieder gut.“
Wie sich das Fühlen entwickelt
Wenn ein Baby auf die Welt kommt, weiß es anfangs all die unterschiedlichen Gefühle noch nicht zu deuten. Hunger, Durst, Unwohlsein durch eine volle Windel, Angst, Freude, Glück… Es gibt so vieles zu lernen und zu entdecken. Das Baby lernt in den ersten Lebensjahren, all diese unterschiedlichen Empfindungen kennen und deuten. Dafür braucht es aber ein Gegenüber, das ihm all das verständlich erklärt. Die Bindungsperson nimmt die Signale des Babys wahr, deutet sie und erklärt sie: „Oh, da hat wohl nun jemand Hunger.“ oder „Du brauchst wohl eine neue Windel.“ Der Psychoanalytiker und Hirnforscher Allan N. Schore bezeichnet die Rolle der Mutter (wir können dies aber auch auf andere nahe Bezugspersonen übertragen) im ersten Lebensjahr deswegen auch als „Hilfskortex des Babys“ – sie ist das Großhirn des Kindes, das ihm die Welt erklärt. Erst mit 3 Jahren kann das Baby die Emotionen anderer gut verstehen, sich in sie recht gut hinein versetzen und auch seine eigenen Gefühle besser steuern. Das kann es aber nur dann, wenn es vorher von der Bindungsperson gelernt hat, wie das geht.
Kinder lernen durch feinfühliges Spiegeln
Wir alle kennen auch ähnliche Situationen: Das Kind tut sich weh, es weint, wir nehmen es in den Arm und sagen: „Oh, du hast dir weh getan. Ja, das tut weh.“ vielleicht auch „Oh nein, der Stuhl steht ja ganz ungünstig, so dass du dich daran gestoßen hast.“. Es wird versprachlicht, was passiert ist. Unsere Stimme ist ein Singsang, auch wenn die Augen aufgerissen sind. Wir mildern das Geschehen ab, beruhigen so das Kind. Dabei bleibt jedoch die Botschaft erhalten und auch, dass wir Gefühle in Worte verpacken. Denn nur so kann das Kind auch lernen, dass man Gefühle versprachlichen kann. Eine wichtige Eigenschaft für das ganze Leben. Wer wegschaut und die Verletzung nicht wahrnimmt oder gar negiert mit einem „Hat ja nicht weh getan!“, nimmt dem Kind auch die Möglichkeit, die Fähigkeit zu entwickeln, selbst darüber zu sprechen. Das Kind kann keine richtige Wahrnehmung von sich selbst entwickeln und verhält sich nicht so, wie es eigentlich sollte, da es sich nicht richtig selbst fühlen kann. Vielmehr verhält es sich so, wie es gelernt hat, sich zu verhalten. Diese andere Selbstwahrnehmung und das Fehlen der Wahrnehmung der wirklichen Gefühle und Bedürfnisse kann sich das Leben lang forttragen und langfristig Folgen nach sich ziehen.
Warum Zuwendung wirklich gegen Schmerzen hilft
Wir wissen es doch eigentlich selbst: Wenn es uns nicht gut geht, hilft es oft, von einem Menschen in den Arm genommen zu werden. Es ist nicht nur das Gefühl, dass jemand da ist für uns, sondern die Berührung löst auch wirklich etwas in unserem Körper aus. Durch respektvolle (!) Berührungen werden im Gehirn Rezeptoren stimuliert, wodurch Stresshormone abgebaut werden können. Sogar liebevoller Blickkontakt löst bereits eine solche Reaktion aus. Fehlt die liebevolle Zuwendung aber längerfristig, entwickeln Kinder sogar weniger Rezeptoren, d.h. sie können sich generell schwieriger beruhigen. Sind Kinder gestresst oder ängstlich, können sie weniger gut neue Informationen aufnehmen: das Lernen ist erschwert.
Natürlich gibt es auch Situationen, in denen Kinder sich verletzten und scheinbar keinen Schmerz fühlen. Sie stehen auf und rennen weiter. Auch das ist in Ordnung. Wir müssen Kinder nicht dazu anhalten, sich verletzt zu fühlen. Aber wir sollten ihnen dann, wenn sie Zuwendung und Trost brauchen, den Raum dafür geben. Wir können Fragen: „Hast Du dich verletzt, brauchst du Hilfe?“ und die Antwort des Kindes so annehmen, wie das Kind sie formuliert.
Tröstbarkeit ist unterschiedlich
Kinder unterscheiden sich in so vielen einzelnen Punkten: Im Tempo ihrer Entwicklung, in ihrem Aussehen, aber auch in den vielen kleinen Dingen, denen wir kaum Aufmerksamkeit schenken in unserem Alltag und von denen wir oft pauschalisierende Aussagen machen wie „Alle Babys beruhigen sich schnell, wenn sie auf den Arm genommen werden.“ Tatsächlich aber ist die Tröstbarkeit eines Babys genauso individuell wie die beispielsweise die Erregbarkeit: Was einige Babys geduldig wegstecken, führt bei anderen schnell zu starkem Weinen. Einige Kinder möchten getragen und gewiegt werden, andere werden gerne mit Körperkontakt und Geräuschen getröstet. Als Eltern müssen wir herausfinden, was unser Kind braucht, was ihm hilft.
Warum wir es so schwer haben, liebevoll mit Kindern umzugehen
All diese Informationen zeigen, dass es sehr sinnvoll ist, wenn Kinder liebevoll begleitet werden. Wenn wir ihnen nicht sagen, dass „sie sich nicht anstellen sollen“ oder „Jungs weinen nicht!“ oder wir gar behaupten „Tut doch gar nicht weh.“. Stürze und Verletzungen erschrecken oft oder tun weh und wir müssen dies aufnehmen, für das Kind übersetzen und trösten. Und doch tun wir uns besonders hierzulande so schwer damit, Kinder zu trösten. Immer wieder gibt es den Vorwurf, man würde sein Kind verziehen oder verweichlichen, wenn man es oft in den Arm nimmt und auch bei „Kleinigkeiten“ tröstet.
Leider ist dieser Umgang mit dem Kind noch immer unserem geschichtlichen Erbe geschuldet. Wenn wir vom Verwöhnen sprechen, vom Lob der Disziplin, von Gehorsam und Abhärtung, dann sind das alles Begriffe, die die Erziehung und Denkansätze vergangener Jahrzehnte wiederholen.
Es wundert also nicht, wenn wir auf andere Eltern stoßen, die von ihren Kindern das Nicht-Weinen verlangen. Vielleicht wissen sie es nicht besser. Wahrscheinlich sind sie selbst mit diesen Argumenten aufgewachsen, die sich in ihren Köpfen hartnäckig festgesetzt haben. Sicher ist aber, dass es an uns liegt, dieses Denken und diese Tradition endlich zu beenden. Nehmt also Eure Kinder in den Arm, tröstet sie und lasst sie Kinder sein – so, wie Ihr es Euch als Kind ganz sicher auch gewünscht hättet.
Eure
Zur Autorin: Susanne Mierau ist Diplom-Pädagogin (Schwerpunkt Kleinkindpädagogik) und Familienbegleiterin. Sie arbeitete an der FU Berlin in Forschung und Lehre, bevor sie sich 2011 im Bereich bedürfnisorientierte Elternberatung selbständig machte. Ihr 2012 gegründetes Blog geborgen-wachsen.de und ihre Social Media Kanäle sind wichtige und viel genutzte freie Informationsportale für bedürfnisorientierte Elternschaft und kindliche Entwicklung. Susanne Mierau gibt Workshops für Eltern und Fachpersonal und spricht auf Konferenzen und Tagungen über kindliche Entwicklung, Elternschaft und Familienrollen.
Foto: Ronja Jung für geborgen-wachsen.de
Weiterführende Literatur: Mierau, Susanne (2019): Mutter.Sein. Von der Last eines Ideals und dem Glück des eigenen Wegs. – Weinheim: Beltz. Mierau, Ssuanne (2016): Geborgen wachsen. Wie Kinder glücklich groß werden. München: Kösel. Mierau, Susanne (2017): Geborgene Kindheit. Kinder liebevoll und entspannt begleiten. München: Kösel. Brisch, Karl Heinz (2010): SAFE. Sichere Ausbildung für Eltern. – Stuttgart: Klett-Cotta. Ustorf, Anne-Ev (2012): Allererste Liebe: Wie Babys Glück und Gesundheit lernen. – Stuttgart: Klett-Cotta.
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