Alle Artikel von Susanne Mierau

Wie Kinder Selbstregulation lernen

Der Begriff „Selbstregulation“ ist gerade viel zu hören, spätestens seit die Nationalen Akademie der Wissenschaften Leopoldina vorgeschlagen hat, die Förderung der Selbstregulationskompetenzen zu einer Leitperspektive des Bildungssystems zu machen. Schnell denkt man dabei an „Beruhigung“. Aber ganz so „einfach“ ist es nicht: Selbstregulationskompetenz besteht aus mehreren Facetten.

Was ist eigentlich Selbstregulationskompetenz?

Selbstregulation meint die Fähigkeit, sich so zu steuern, dass man mit dem zurechtkommt, was das Leben im Moment abverlangt und gleichzeitig den eigenen Zielen treu bleibt. Für Kinder heißt das: Aufmerksamkeit bündeln, Frustration aushalten, Impulse sortieren, Entscheidungen treffen, die jetzt und später sinnvoll sind. Es geht um bewusstes Handeln, das auf Wahrnehmung, Wahl und Reflexion basiert.

Wichtig: Selbstkontrolle ist nur ein Teil der Selbstregulation. Genauso bedeutsam sind Gefühlskompetenz, flexible Zielanpassung, Perspektivwechsel und das Wissen, wie man sich selbst unterstützen kann.

Mehrere Ebenen arbeiten zusammen

Für Selbstregulation müssen verschiedene Fähigkeiten zusammenspielen: kognitiv (Informationen zum Sachverhalt erfassen, Arbeitsgedächtnis nutzen, kognitiv flexibel umschalten, Impulse hemmen), emotional (Gefühle wahrnehmen, benennen und so beeinflussen, dass sie nicht überrollen), motivational (Ziele auswählen, Prioritäten klären, dranbleiben gestützt durch Selbstwirksamkeit), und sozial (Verhalten in Beziehung zur Umgebung denken, Reaktionen anderer verstehen, Konflikte verhandeln, Hilfe annehmen).

Vorteile von Selbstregulationskompetenz

Durch all diese Prozesse ist es möglich, den eigenen Handlungsspielraum zu vergrößern: Mit der Umwelt kann bewusst umgegangen werden, Aufmerksamkeit und Gefühle können bewusst gestaltet werden, wodurch es leichter ist, zu lernen, Stress zu verarbeiten und Beziehungen zu gestalten. Studien zeigen, dass Selbstregulationskompetenz mit dem psychischen Wohlbefinden, körperlicher Gesundheit, Bildungserfolg und sozialer Teilhabe in Verbindung steht.

Wie Selbstregulationskomepetenz entsteht

Durch die Aufzählung all der Bausteine wird schnell klar: Das können Kinder nicht von heute auf morgen. Sie entwickelt sich über Jahre, zuerst in Co-Regulation mit nahen Bezugspersonen, dann zunehmend eigenständig. Babys sind zunächst auf uns angewiesen: Wir regulieren, spiegeln Empfindungen, geben Worte und zeigen Wege. Kleinkinder probieren eigene Strategien, lernen durch Begleitung und kognitive Reifung. Im Kindergarten- und Grundschulalter wird im Kopf geplant, Zwischenschritte werden gemerkt, Strategien gewählt: hier wächst auch Metakognition (über das eigene Lernen nachdenken). In der Jugend wird es dann komplexer: intensivere Gefühle, Peer-Dynamiken, größere Ziele – all das muss integriert werden. Das Gehirn reift in den dafür wichtigen Bereichen bis in die 20er Jahre.

Was Kinder von uns brauchen

Was Kinder von uns brauchen sind: Verständnis, Entwicklungsraum und Begleitung, feinfühlige Beziehungen, Unterstützung, Autonomie- und Kompetenzerleben – das fördert Selbstregulation nachweislich. Strukturen geben Orientierung, ohne einzuengen. Unsere Sprache hilft dabei: Gefühle benennen, nächste kleine Schritte planen, Strategien besprechen. Vorleben wirkt dabei stärker als Vortragen: Wie wir mit eigenen Gefühlen, Fehlern und Pausen umgehen, prägt. Und auch der Kontext ist wichtig: Schlaf, Bewegung, Ernährung, außerfamiliäre Betreuung und Schule, Stress und Armutserfahrungen beeinflussen die Entwicklung des Kindes.

Eine Langzeitaufgabe der vielen kleinen Momente

Selbstregulation ist kein Projekt, das man schnell abhakt. Man kann nicht eine Einheit „Selbstregualtion“ jeden Tag einbauen und hoffen, dadurch allein würde sich dieser komplexe Prozess entwickeln. Sie wächst im Alltag in den vielen kleinen, unaufgeregten Momenten zwischen Nähe und Autonomie, Struktur und Freiheit, Üben und Nachsicht. Wenn wir den Blick von „mein Kind soll sich zusammenreißen“ hin zu „mein Kind lernt gerade, sich innerlich zu steuern“ verschieben, handeln wir automatisch hilfreicher: weniger Druck, mehr Begleitung; weniger Bewertung, mehr gemeinsame Lösungswege. So entsteht das, worum es im Kern geht: ein inneres Navigationssystem, das Kinder sicherer durch ihre Welt trägt, heute und morgen.

Eure

Zur Autorin:
Susanne Mierau ist Diplom-Pädagogin (Schwerpunkt Kleinkindpädagogik) und Familienbegleiterin. Sie arbeitete an der FU Berlin in Forschung und Lehre, bevor sie sich 2011 im Bereich der Elternberatung selbständig machte. Ihr 2012 gegründetes Blog geborgen-wachsen.de und ihre Social Media Kanäle sind wichtige und viel genutzte freie Informationsportale für Eltern, die Kinder bindungssicher begleiten und die eigenen Bedürfnisse dabei nicht aus dem Blick verlieren wollen. Susanne Mierau gibt Workshops für Eltern und Fachpersonal und spricht auf Konferenzen und Tagungen über kindliche Entwicklung, Elternschaft und Familienrollen. Sie arbeitet in eigener Praxis in Eberswalde.

Foto: Ronja Jung für geborgen-wachsen.de

Freundliche Kontrolle ist trotzdem Kontrolle

Wenn wir an ein „kontrollierendes Erziehungsverhalten“ denken, denken wohl die meisten Menschen erst einmal an Druck, Strenge, das Unterdrücken von Bedürfnissen. Kontrolle hat in dieser Vorstellung etwas Lautes, Hartes – und Offensichtliches. Doch Kontrolle kann auch ganz anders aussehen: Sie kann liebevoll verpackt sein in weichen Worten, mit einem Lächeln garniert und dennoch dem Kind keinen anderen Weg ermöglichen als jenen, den man sich selbst vorgestellt hat.

Freundliches Drängen ohne Option

Kontrolle zeigt sich nicht nur in dem „Mach das sofort!“, sondern auch in dem „Na, möchtest du nicht lieber…?“, das eigentlich keine echte Wahl lässt. Sie steckt im sanften Schieben, im ständigen Erinnern, das sich nach außen wie Unterstützung anhört, innen aber den gleichen Kern hat: Das Kind soll nicht selbst entscheiden, sondern in eine Richtung gelenkt werden. „Ich habe als Bezugsperson einen Plan von der Welt und von dir und diesem Plan soll gefolgt werden!“

Ein Kind, das immer wieder von außen bestimmt wird, lernt allerdings nicht, eigene Entscheidungen zu treffen und Erfahrungen zu sammeln, sondern passt sich an Erwartungen an. Auch wenn diese Erwartungen freundlich vorgetragen sind, bleiben sie doch Erwartungen, die einengen. Sie geben das Gefühl, nur dann gut zu sein, nur dann geleibt zu werden, wenn man sich anpasst. Kinder brauchen den Raum, Fehler zu machen, Umwege zu gehen, Dinge anders zu tun, als wir uns das vorstellen. Und vor allem brauchen sie das Gefühl, dass sie liebenswert sind als der Mensch, der sie sind. Dass sie einfach als Mensch Respekt verdient haben, dass jemand sie sieht und annimmt, wie sie sind. Wer ihnen stattdessen ununterbrochen mit vermeintlich hilfreichen Vorschlägen den Weg weist, hält sie genauso klein wie der, der mit Druck und Strenge führt.

Achtung: Orientierung erlaubt!

Natürlich steht nicht hinter jeder Beeinflussung gleich ein kontrollierender Erziehungsstil und nicht jedes Nein ist eine Einengung. Es ist wichtig, Kindern die sozialen, dinglichen und körperlichen Grenzen aufzuzeigen und ihnen Orientierung zu bieten in dieser neuen Welt. Die Frage lautet vielmehr: Zieht sich ein Muster durch mein Verhalten, das dem Kind keinen Raum gibt oder biete ich lediglich Halt in der Welt? Schränkt meine Sicht und mein Wollen die Selbständigkeit meines Kindes ein, so dass es nicht sein kann, wer es eigentlich ist und erlebt das eigene Selbst als unliebsam? Oder vermittle ich Wertschätzung und unterstütze mein Kind darin, dass es seine Schwächen überwindet, damit diese keine Hindernisse werden in der Entwicklung?

Was will ich wirklich?

Die Herausforderung liegt darin, das Bedürfnis nach Kontrolle in uns selbst zu erkennen. Es entsteht oft aus Sorge, aus Liebe, aus dem Wunsch, das Beste zu ermöglichen. Und doch ist gerade dieses „Beste“ nicht immer das, was das Kind jetzt braucht. Kinder brauchen auch Vertrauen in ihre eigenen Fähigkeiten. Sie brauchen Eltern, die aushalten können, dass manches nicht nach Plan läuft, dass Dinge länger dauern, dass Umwege gegangen werden – und dass Menschen eben nicht perfekt sind oder so, wie man sie selbst haben will.

Den Erziehungsstil auf Kontrolle aufzubauen, ist letztlich nicht nur für das Kind ungünstig, sondern auch anstrengend für die Erwachsenen: Auf der Seite der Erwachsenen bedeutet es, dass die erwachsene Person das Kind auf eine bestimmte Art/in einer bestimmten Art braucht, um sich gut zu fühlen damit. Kontrollierende Erwachsene versuchen auf verschiedene Arten, das Kind dazu zu bringen, so zu sein, wie sie es haben wollen.

Selbstwirksamkeit lässt Selbstwert wachsen. Selbstwirksamkeit stützen bedeutet nicht, dass wir unsere Kinder allein lassen, sondern dass wir uns bewusst zurücknehmen, wo sie selbst wachsen können. So spürt das Kind Vertrauen in sich.

Eure

Zur Autorin:
Susanne Mierau ist Diplom-Pädagogin (Schwerpunkt Kleinkindpädagogik) und Familienbegleiterin. Sie arbeitete an der FU Berlin in Forschung und Lehre, bevor sie sich 2011 im Bereich der Elternberatung selbständig machte. Ihr 2012 gegründetes Blog geborgen-wachsen.de und ihre Social Media Kanäle sind wichtige und viel genutzte freie Informationsportale für Eltern, die Kinder bindungssicher begleiten und die eigenen Bedürfnisse dabei nicht aus dem Blick verlieren wollen. Susanne Mierau gibt Workshops für Eltern und Fachpersonal und spricht auf Konferenzen und Tagungen über kindliche Entwicklung, Elternschaft und Familienrollen. Sie arbeitet in eigener Praxis in Eberswalde.

Foto: Ronja Jung für geborgen-wachsen.de

Lass dein Kind auch mal wegrennen

„Mein Kind rennt einfach immer weg und auch wenn ich ‚Stopp‘ rufe, hört es nicht.“ – Diese und ähnliche Aussagen höre ich immer wieder. Oft verbunden mit der Frage: Aber was mache ich nun, damit es nicht mehr wegrennt? Auch als Mutter kenne ich das – dieses Hinterherrennen. Diese Angst an der Straße. Ich kenne und benutze den Begriff „schützende Gewalt“ dafür, wenn ein Kind festgehalten werden muss, damit es nicht auf die Straße rennt oder in einen Fluss fällt oder ähnliches. Es ist anstrengend. Und wir wissen, dass Kleinkinder Gefahren nicht absehen können, dass sie Zeit nicht einschätzen können und nicht wissen, wie schnell ein Auto bei ihnen sein kann auf der Straße. Eltern wissen, dass sie sich den Mund fusselig reden müssen, um Kindern die Regeln dieser Welt zu erklären – immer und immer wieder über Jahre hinweg. Und gleichzeitig müssen wir auch noch andere Dinge in den Blick nehmen: die kinderunfreundliche Umwelt und den Umstand, dass Kinder sich auch erproben müssen – und dazu gehört auch der Umstand, sich allein zu fühlen und wieder Nähe herzustellen.

Wenn die Welt kinderfreundlicher wäre

Wenn Eltern mir von stressigen Situationen in Beratungen erzählen und wie sie sich als schlechte Eltern fühlen, weil sie ihre Kinder ständig ermahnen müssen oder „Nein“ sagen, frage ich sie, was sein müsste, damit sie anders handeln könnten. Oft kommt die Antwort, dass der Ort anders sein müsste. Sicherer. Für das Zuhause empfehle ich Eltern daher oft eine „Ja-Umgebung“, so dass sie möglichst wenig „Nein“ sagen und weniger in Anspannung sein müssen. Auch für Draußen lässt sich fragen, wie es sein müsste, damit man entspannter als Elternteil agieren kann. Und auch hier ist die Antwort oft: Sicherheit. Die geringe Kinder- und Familienfreundlichkeit macht es Eltern oft schwer, ihren Kindern die Freiheit einzuräumen zur freien Bewegung, die sie brauchen und eben auch einfordern. Das führt oft zu Konflikten aufgrund von elterlichen Ermahnungen: Die Vorstellung des jungen Kindes und der Eltern treffen aufeinander, das Kind kann jedoch die andere Perspektive noch nicht übernehmen und vom eigenen Bewegungsbedürfnis Abstand nehmen, woraus sich ein je nach Kind intensiverer Konflikt ergibt.

Ein anderes Beispiel für strukturelle Gewalt gegenüber Kindern ist der Straßenverkehr, der nicht nur eine Gefahr für Kinder darstellt, sondern zudem die Bewegungsfreiheit von Kindern einschränkt und ihre Möglichkeiten, sich selbständig (insbesondere in Städten) zu bewegen und unbegleitet mit anderen Kindern zu bespielen.

Susanne Mierau „Frei und unverbogen“

Kinderfreundlicher als Spielplätze in Straßennähe sind oft Naturorte wie Wald und Felder, wo sich Kinder nach ihrem Wunsch bewegen können – und auch einmal ein Stück weiter wegrennen oder sich verstecken können.

Außer Sicht sein ist nicht per se schlecht

Manchen Eltern fällt es allerdings auch schwer, das Kind aus dem Nahbereich zu entlassen. Eltern müssen immer wieder innerlich emotional mitwachsen mit der fortschreitenden Entwicklung des Kindes. Das bedeutet auch, dem Kind mehr Freiraum zuzugestehen für Selbständigkeit und Selbstwirksamkeit. Das ist ist nicht immer einfach. Besonders schwer kann es auch dann sein, wenn man selbst negative Erfahrungen gemacht hat, die einen auf die Welt mit Angst blicken lassen und überall Gefahren entdecken.

Doch Kinder brauchen die Möglichkeit, aus dem sicheren Hafen aufzubrechen zu Erkundungen und dann bei Bedarf wieder zurückkommen zu können in wohlwollende Arme. In diesem Kreislauf lernen sie gleichermaßen Selbständigkeit und Verbundenheit. Das Kleinkind hat bereits eine innere Präsenz der Bezugspersonen und weiß, dass diese weiterhin existieren, auch wenn sie gerade nicht in Sicht sind. Das Spiel mit der Rückkehr ermöglicht die Erfahrung, die Welt zu erleben und wieder aufgenommen zu werden. Und es ermöglicht, Sicherheit zu gewinnen: Die Welt ist ein guter Ort, in dem ich mich frei bewegen kann. Ich muss keine Angst haben.

Die Welt ist ‚gut‘, sie ist dem Kind mit seinem Forschungsdrag und dem Rückhalt seiner Eltern zu einem sicheren Ort geworden. […] Durch diese Art vorübergehender Trennung und dem ‚Wiederfinden‘ wird dem Kind die Welt, in der es lebt, zunehmend zum sicheren Ort.

Claus Koch „Schutzfaktor Bindung“

Anspannung selbst regulieren

Anstatt zu fragen „Wie kann ich mein Kind dazu bringen, nicht mehr wegzurennen und bei mir zu bleiben?“ können wir uns also auch fragen, warum das Wegrennen und Wiederkommen vielleicht gerade bedeutsam sind und wie wir dies gefahrlos in den Alltag integrieren können. Vielleicht können wir Orte schaffen oder finden, an denen das Wegrennen und Wiederkommen zelebriert werden kann, an denen auch ein Kleinkind sich einmal für einen kurzen Moment sicher verstecken kann, die Aufregung dieser Entfernung dann selbst in sich regulieren kann – bevor es wieder zurückkommt. Im Spiel des Wegrennens oder Versteckens wird schließlich nicht nur die Welt erkundet, sondern auch das eigene Innere: Wie fühlt sich das an, wenn gerade meine Bezugsperson nicht zu sehen ist und wie gehe ich damit um? Kann ich mein Gefühl regulieren? Brauche ich Hilfe und rufe nach jemanden? Renne ich zurück? Und werde ich dann wieder liebevoll aufgenommen und fühle mich sicher bei meiner Bezugsperson aber auch darin, dass diese mir erlaubt, die Welt zu erkunden?

Eure

Zur Autorin:
Susanne Mierau ist Diplom-Pädagogin (Schwerpunkt Kleinkindpädagogik) und Familienbegleiterin. Sie arbeitete an der FU Berlin in Forschung und Lehre, bevor sie sich 2011 im Bereich der Elternberatung selbständig machte. Ihr 2012 gegründetes Blog geborgen-wachsen.de und ihre Social Media Kanäle sind wichtige und viel genutzte freie Informationsportale für Eltern, die Kinder bindungssicher begleiten und die eigenen Bedürfnisse dabei nicht aus dem Blick verlieren wollen. Susanne Mierau gibt Workshops für Eltern und Fachpersonal und spricht auf Konferenzen und Tagungen über kindliche Entwicklung, Elternschaft und Familienrollen. Sie arbeitet in eigener Praxis in Eberswalde.

Foto: Ronja Jung für geborgen-wachsen.de

Elternschaft: Miteinander über Erziehung reden

Wenn Eltern merken, dass sie sehr unterschiedliche Erziehungsstile haben, richtet sich der erste Blick fast immer auf die Folgen für das Kind. Verständlicherweise geht es vielen Eltern um die Sorge, ob das Kind in seiner Entwicklung beeinträchtigt werden könnte durch die Unterschiede oder den jeweils anderen Erziehungsstil. Dabei gibt es oft zwei Richtungen der Befürchtungen: Wer stärker kontrollierend erzieht, macht sich Gedanken, ob das Kind zu wenig Grenzen erfährt. Wer feinfühliger begleitet, fragt sich dagegen, ob das Kind zu sehr eingeschränkt wird, zu wenig gesehen oder gewürdigt wird, oder ob es an Zuwendung mangelt, wenn die andere Bezugsperson eher unresponsiv reagiert. Was dabei jedoch häufig übersehen wird, sind die Folgen der Verschiedenen Ansätze für die Beziehung zwischen den Eltern und wie sich Streitigkeiten auf das Kind auswirken können. Natürlich ist es wichtig, das Wohlergehen des Kindes im Blick zu behalten. Doch mindestens ebenso entscheidend ist die Paarebene. Denn die Partnerschaft bildet einen wesentlichen Rahmen für das Familienleben und wirkt damit letztlich auch wieder auf das Kind zurück.

Unsichere Bindung = ungesund?

Ein wichtiger Aspekt vorab: Kinder können verschiedene Bindungen eingehen, die auch unterschiedliche Qualitäten haben. Auch wenn wir den sicheren Bindungen besondere Aufmerksamkeit schenken, sind ambivalente oder vermeidende Muster zunächst keine Störung, sondern Ausdruck kindlicher Anpassung an das Verhalten der Bezugspersonen. Sie sind nicht per se gefährlich für die Entwicklung, können aber beeinflussen, wie stressanfällig ein Mensch später wird. Um in späteren Zeiten stabile Beziehungen eingehen zu können, kann es hilfreich sein, dann einige erlernte Muster abzulegen und neue zu erlernen. Das ist möglich.

Für Eltern ist es weder hilfreich noch möglich, die Bindungsqualität fachlich einzuschätzen. Der Fokus auf die Bindungsqualität kann auch zu einem Druck werden und gegenseitige Vorwürfe zu noch mehr Differenz zwischen den Eltern führen. Hilfreicher ist es deswegen, auf das Miteinander und Wohlbefinden zu blicken: Wie geht es uns miteinander, sind wir gerne zusammen, welche Herausforderungen stellen sich uns wo? Und führen unsere Unterschiede im Umgang miteinander zu unterschiedlichen Belastungen?

Bewusstes oder unbewusstes Ausgleichen

Was oft weniger beachtet wird in Hinblick auf die Folgen unterschiedlichen Erziehungsverhaltens, ist der Umstand, dass die Unterschiede in der Erziehung Auswirkungen auf die Paarbeziehung haben können. Besonders in Hinblick auf den Mental und Emotional Load zeigt sich das oft deutlich: Das Kind sucht sich für Nähe, Zuwendung und Ko-Regulation meist die Bezugsperson, die es darin zuverlässig unterstützt. Dadurch kann eine ungleiche Verteilung von Belastungen entstehen. Wer mehr Wärme und Nähe gibt, trägt oft auch die Hauptlast, wenn es um die emotionale Begleitung des Kindes geht. Das kann zu Überforderung, Erschöpfung und Frustration führen.

Wenn dann noch die gefühlte Notwendigkeit hinzukommt, das vermeintlich fehlende Verhalten des anderen Elternteils zu kompensieren, verstärkt sich die Belastung. Sorge um das Wohlergehen des Kindes kann dazu führen, besonders ausgleichend oder unterstützend einzugreifen. Vielleicht wünscht man sich für das Kind, dass auch der andere Elternteil zugewandt und emotional agiert – dies vielleicht besonders, wenn man dies selbst vermisst hat als Kind. Vielleicht gibt es auch die Sorge, das gedachte Folgen der fehlenden emotionale Verbindung letztlich nicht dem anderen Elternteil, sondern einem selbst zugeschrieben werden. Die Ursachen dafür, einspringen, unterstützen oder auffangen zu wollen, können vielfältig sein. Durch die Überlastung an emotionalen Aufgaben und Erschöpfung kann auch das eigene feinfühlige Handeln leiden, was sich dann letztlich doch auf das Kind auswirken kann.

Schnell können Überlastung, Unzufriedenheit und ein Gefühl des Alleinzuständig-Seins in den Alltag einziehen. Auch das Kind spürt vielleicht die unausgesprochenen Differenzen, die Uneinigkeit und die Belastung und kann dadurch selbst Unsicherheit entwickeln.

Miteinander ins Gespräch kommen

Die gute Nachricht: Ihr müsst nicht in dieser Spirale bleiben. Unterschiedliche Erziehungsstile können nebeneinander und miteinander existieren. Wir können zudem niemanden von einem anderen Erziehungsstil überzeugen – weder in die eine, noch andere Richtung. Es muss eine Bereitschaft zur Veränderung vorliegen. Hilfreich kann es aber sein, miteinander ins Gespräch zu kommen über die Elternschaft, Ziele und Gedanken. Dadurch fällt es leichter, den anderen zu verstehen. Auch wenn Eltern nicht alles gleich machen, haben sie vielleicht in unterschiedlichen Bereichen Stärken, die sich ergänzen können. Durch Gespräche kann der Blick auf die Ressourcen gelenkt werden, statt auf die Differenzen. Aufgaben können aufgeteilt werden, wenn darüber gesprochen wird, welche Belastungen vorliegen. So kann Stress vermindert werden.

Es hilft, miteinander ins Gespräch zu gehen. Nicht in hitzigen Diskussionen, sondern in ruhigen Momenten, in denen ihr beide zuhören könnt. Erklärt eure Sichtweisen aus eurer eigenen Perspektive heraus, ohne Vorwürfe. Versucht, einen gemeinsamen Nenner zu finden, der für euch beide tragbar ist, und haltet eure Kompromisse fest, vielleicht sogar schriftlich, damit ihr später darauf zurückgreifen könnt. Gebt euch auch Zeit für Veränderungen. Vereinbart kleine Schritte, statt sofort eine perfekte Lösung zu erwarten. Achtet bewusst auf die positiven Seiten im Verhalten eures Partners oder eurer Partnerin, denn die sind meist genauso vorhanden wie die Punkte, die euch herausfordern. Und wenn ihr merkt, dass ihr allein nicht weiterkommt, scheut euch nicht, fachliche Unterstützung in Anspruch zu nehmen.

Klarheit zwischen Euch bringt auch Eurem Kind Sicherheit und Orientierung. Es kann spüren, dass die eigenen Eltern ein Team sind, in dem es durchaus auch Unterschiedlichkeit gibt, aber gemeinsame Ziele verfolgt werden auf eine wertschätzende Art und Weise.

Eure

Zur Autorin:
Susanne Mierau ist Diplom-Pädagogin (Schwerpunkt Kleinkindpädagogik) und Familienbegleiterin. Sie arbeitete an der FU Berlin in Forschung und Lehre, bevor sie sich 2011 im Bereich bedürfnisorientierte Elternberatung selbständig machte. Ihr 2012 gegründetes Blog geborgen-wachsen.de und ihre Social Media Kanäle sind wichtige und viel genutzte freie Informationsportale für bedürfnisorientierte Elternschaft und tragen seit über 10 Jahren maßgeblich zur Verbreitung bedürfnisorientierter Erziehung bei. Susanne Mierau gibt Workshops für Eltern und Fachpersonal und spricht auf Konferenzen und Tagungen über kindliche Entwicklung, Elternschaft und Familienrollen.

Foto: Ronja Jung für geborgen-wachsen.de

„Hilfe, mein Kind ist super nervig!“ – Das kannst du tun, wenn du den Alltag mit Kind nur noch anstrengend findest

Manchmal geraten wir mit unseren Kindern in einen herausfordernden Kreislauf, der sich nur noch schwer auflösen lässt: Alles erscheint anstrengend, jede Kleinigkeit wird zur Diskussion, das Kind wirkt übermäßig fordernd, laut oder provokant. Und die Eltern sind genervt vom eigenen Kind und fragen sich, was sie nur falsch gemacht haben. Schnell kommen dann Gedanken auf wie: „Jetzt darf ich bloß nicht nachgeben, sonst hat es gelernt, dass es mit diesem Verhalten durchkommt!“ Doch genau hier lohnt es sich, innezuhalten und genauer hinzuschauen, was jetzt wirklich benötigt wird: mehr Struktur und Orientierung von den Eltern oder mehr Nähe, Wärme und ein wohlwollender Blick?

Sucht das Kind Aufmerksamkeit?

Das, was wir als nervig erleben, ist in einigen Fällen ein Ausdruck eines tieferen Bedürfnisses nach Bindung und Selbstwertschutz. Kinder wollen gesehen werden, wollen spüren, dass sie wertvoll und wichtig sind. Und zwar nicht erst, wenn sie besonders laut oder auffällig werden. Verbindung, Wahrgenommenwerden, echte Zuwendung sind für sie so existenziell wie Nahrung und Schlaf. Und manchmal hat sich einfach ein Muster eingeschlichen, bei dem diese Verbindung im Alltag zu kurz gekommen ist, das das Gefühl, gesehen und wertgeschätzt zu werden, stört: weil wir gestresst sind von dem übervollen Alltag, weil wir vielleicht in diesem Entwicklungsalter des Kindes auch wenig Interesse von den eigenen Eltern in Bezug auf unsere Themen erfahren haben, weil zu wenig gemeinsame Zeit bleibt oder weil alte Erziehungsgedanken uns einflüstern, wir müssten jetzt streng bleiben.

Das emotionale Thermostat neu einstellen

Der Psychologe Oliver James hat dafür schon vor über zehn Jahren einen besonderen Ansatz vorgeschlagen. Er nannte ihn „Love Bombing“ und meinte damit keinen Trick, um Kinder gefügig zu machen, sondern einen bewussten Neustart für die Beziehung. Die Idee ist, das „emotionale Thermostat“ neu einzustellen – bei Eltern und Kindern. Dafür braucht es eine Zeit, die nur dem Miteinander gehört. Eine Zeit, in der dein Kind bestimmen darf, was ihr macht, in der ihr spielt, kocht, zusammen seid, ohne Druck, ohne Korrekturen, ohne Blick auf Probleme. Ein Nesttag. Wichtig ist, dass du in dieser Zeit dein Kind wirklich siehst, dass du die schönen Momente bewusst wahrnimmst und verinnerlichst, wie wunderbar dein Kind ist.

Das klingt einfach und kompliziert zugleich, aber es kann eine enorme Wirkung entfalten. Es geht nicht um ein oberflächliches Loben oder darum, „mal nett zu sein“. Es geht darum, Beziehung neu zu spüren. Dein Kind darf erleben, dass es wertvoll ist, dass es gehört und respektiert wird. Und du darfst wieder ins Fühlen kommen und dich daran erinnern, wie schön es ist, mit deinem Kind zusammen zu sein jenseits von Konflikten und Alltagssorgen.

Wenn dir dein Kind also im Alltag manchmal unglaublich nervig vorkommt, wenn dich das Verhalten an deine Grenzen bringt, dann kann genau dieser bewusste Schritt zurück in die Verbindung helfen. Nicht, um das Verhalten deines Kindes zu korrigieren, sondern um euch beiden eine neue Erfahrung zu schenken: Ihr gehört zusammen, ihr seid wichtig füreinander, und ihr könnt euch wieder mit Wärme und Wertschätzung begegnen.

Eure

Zur Autorin:
Susanne Mierau ist Diplom-Pädagogin (Schwerpunkt Kleinkindpädagogik) und Familienbegleiterin. Sie arbeitete an der FU Berlin in Forschung und Lehre, bevor sie sich 2011 im Bereich bedürfnisorientierte Elternberatung selbständig machte. Ihr 2012 gegründetes Blog geborgen-wachsen.de und ihre Social Media Kanäle sind wichtige und viel genutzte freie Informationsportale für bedürfnisorientierte Elternschaft und tragen seit über 10 Jahren maßgeblich zur Verbreitung bedürfnisorientierter Erziehung bei. Susanne Mierau gibt Workshops für Eltern und Fachpersonal und spricht auf Konferenzen und Tagungen über kindliche Entwicklung, Elternschaft und Familienrollen.

Foto: Ronja Jung für geborgen-wachsen.de

Der Übergang vom Kindergarten zur Schule: Offen Gefühle begleiten und zulassen

Der Übergang vom Kindergarten in die Schule ist für viele Familien ein großer Meilenstein: Mit der Einschulung beginnt ein neuer Abschnitt im Leben des Kindes und der Eltern. Zwischen Neugier, Freude, Stolz und Aufregung mischen sich manchmal auch Unsicherheiten, Sorgen oder Traurigkeit. All diese Gefühle dürfen sein. Wichtig ist, ihnen Raum zu geben – bei den Kindern, aber auch bei uns selbst.

Übergänge sind emotionale Prozesse

Übergänge bedeuten immer Veränderung. Und Veränderung geht nicht nur in eine Richtung: Es geht nicht nur vorwärts, sondern auch etwas zu Ende. Für Kinder ist der Kindergarten oft ein Ort gewesen, an dem sie über Jahre hinweg eine sichere soziale Gruppe hatten. Auch wenn nicht alle Freundschaften gleich eng waren, war diese Gruppe ein stabiles Gefüge. Der tägliche Kontakt, die bekannten Abläufe, die vertrauten Fachkräfte – das gab Sicherheit. Mit dem Schuleintritt verändert sich nun vieles. Selbst wenn manche Freundschaften bleiben, gehen andere auseinander. Vielleicht bleibt ein enges Freundeskind in der Kita zurück oder besucht eine andere Schule. Für Kinder kann das bedeuten, dass es viele Abschiede zu erleben gibt.

Trauer zulassen, nicht überdecken

Als Erwachsene fällt es uns manchmal schwer, kindliche Trauer auszuhalten. Vielleicht, weil wir selbst gelernt haben, dass Abschiedsschmerz möglichst schnell überwunden werden sollte, dass er vielleicht gar nicht sichtbar sein sollte, oder weil uns das eigene Unbehagen einholt. Schnell sind wir dann dazu verleitet, abzulenken mit der Vorfreude auf die Schule, die Geschenke, dem neuen Schulranzen und all den anderen Dingen, die da gerade bevorstehen und die sicherlich spannend, neu und besonders sein werden.

Doch Trauer braucht Raum. Sie ist das Gefühl des Loslassens, welchem wir im Laufe des Lebens immer wieder begegnen. Kinder brauchen Bezugspersonen, die ihnen zeigen, dass auch Trauer sein darf und wir nicht falsch sind, wenn wir trauern und mal nicht (nur) glücklich sind. Wenn Kinder keine Möglichkeit haben, ihre Traurigkeit über das Ende der Kindergartenzeit auszudrücken, kann sich das Gefühl ins Verhalten verschieben: Rückzug, Wut, vielleicht ein Rückfall in frühere Entwicklungsstufen („wieder klein sein wollen“). All das kann auch Ausdruck innerer Trauer sein. Statt auf dieses Verhalten weiter negativ zu reagieren, vielleicht zu schimpfen, abzuwerten, zu bestrafen, sollten wir noch einmal genau hinsehen: Wie geht es dir gerade? Was steckt eigentlich hinter dem Verhalten?

Die elterliche Haltung: Gefühle nicht übertragen

Auch für Eltern sind Übergange wie dieser emotional: Sie bedeuten Abschied von einer intensiven, vertrauten Phase. Vielleicht haben auch Eltern sorgen darum, ob sich das Kind gut eingewöhnen wird, ob es neue Freundschaften aufbauen kann, ob es zurechtkommen wird. Vielleicht vermissen sie lieb gewonnene Rituale aus der Kitazeit und die Ansprechpersonen. Auch diese Gefühle der Erwachsenen sind wichtig. nur wenn wir als Erwachsene unsere eigenen Gefühle anschauen und annehmen, können wir sie von denen des Kindes unterscheiden. So gelingt es uns, nicht aus einem eigenen inneren Stress heraus zu agieren, sondern präsent und stabil an der Seite des Kindes zu sein.

Gemeinsam durch die Übergangszeit

Kinder spüren, wenn etwas im Umbruch ist. Sie brauchen in dieser Zeit unsere liebevolle Präsenz, unsere Geduld und unsere Authentizität. Es ist entlastend, wenn sie erleben dürfen: Auch Mama oder Papa ist berührt vom Abschied. Aber sie können gut damit umgehen. So erleben Kinder ihre Eltern als sicheren Hafen inmitten der Veränderung. Hilfreich kann es sein, gemeinsam Rituale des Abschieds zu gestalten: das Freundebuch, ein liebevoll gestalteter letzter Kindergartentag. Auch ein Abschiedsbrief und die gemeinsame Arbeit daran kann sehr berührend sein. Und wenn Tränen fließen? Dann dürfen sie fließen.

Fazit: Gefühle brauchen Raum

Der Schuleintritt ist ein bedeutender Schritt. Kinder brauchen in dieser Zeit Erwachsene, die ihre Gefühle ernst nehmen und mittragen, ohne sie zu überlagern. Sie brauchen uns nicht nur als Organisator*innen des Übergangs, sondern als emotionale Anker. Je mehr wir auch unsere eigenen Gefühle bewusst wahrnehmen, desto besser können wir genau das sein.

Eure

Zur Autorin:
Susanne Mierau ist Diplom-Pädagogin (Schwerpunkt Kleinkindpädagogik) und Familienbegleiterin. Sie arbeitete an der FU Berlin in Forschung und Lehre, bevor sie sich 2011 im Bereich bedürfnisorientierte Elternberatung selbständig machte. Ihr 2012 gegründetes Blog geborgen-wachsen.de und ihre Social Media Kanäle sind wichtige und viel genutzte freie Informationsportale für bedürfnisorientierte Elternschaft und tragen seit über 10 Jahren maßgeblich zur Verbreitung bedürfnisorientierter Erziehung bei. Susanne Mierau gibt Workshops für Eltern und Fachpersonal und spricht auf Konferenzen und Tagungen über kindliche Entwicklung, Elternschaft und Familienrollen.

Foto: Ronja Jung für geborgen-wachsen.de

Temperamente und Regulationsbedürfnisse von Kindern verstehen

Jedes Kind ist einzigartig. Diese Einzigartigkeit zeigt sich nicht nur in seinen Interessen oder Vorlieben, sondern auch in seiner Art, zu fühlen, zu denken und auf die Welt zu reagieren. Wir bringen schon unterschiedliche Temperamentszüge mit in unser Leben, die sich dann in Kombination mit den Einflüssen der Umwelt und den Beziehungserfahrungen ausprägen: Das Temperament ist nicht gleich Persönlichkeit – vielmehr ist es ein Baustein davon. Die gesamte Persönlichkeit eines Menschen entsteht im Zusammenspiel von biologischer Ausstattung und den Umwelterfahrungen, die ein Mensch im Laufe seines Lebens macht. Gerade in der Kindheit spielt die Umwelt, insbesondere die Bindungs- und Beziehungserfahrungen, eine zentrale Rolle darin, wie sich Temperamentsmerkmale ausdifferenzieren und wie ein Kind lernt, mit sich selbst und der Welt umzugehen.

Historische Wurzeln und heutiger Forschungsstand

Schon in der Antike wurde versucht, Menschen anhand bestimmter Temperamente zu typisieren: Sanguiniker, Phlegmatiker, Choleriker und Melancholiker. Diese Einteilung mag aus heutiger Sicht überholt erscheinen, sie zeigt aber, dass Menschen schon immer versucht haben, Verhalten zu verstehen und einzuordnen. Die moderne Temperamentsforschung hingegen arbeitet empirisch und differenzierter.

Zu den zentralen Temperamentsdimensionen, die die Psychologinnen und Psychologen Stella Chess, Alexander Thomas und Herbert Birch schon 1965 durch eine Langzeitstudie ermittelt haben, zählen etwa Aktivitätsniveau, Rhytmus, Ablenkbarkeit, Anpassungsfähigkeit, Erstreaktion auf Neues, Reaktionsintensität, sensorische Schwelle, Ausdauer und allgemeine Stimmungsqualität. Manche Kinder benötigen viel Aktivität, andere weniger. Manche gehen schnell auf Neues zu, andere zögern. Diese Unterschiede sind zunächst weder gut noch schlecht. Sie sind einfach verschieden – und verdienen eine feinfühlige Begleitung.

Es ist wichtig, die Art des Kindes wahrzunehmen und dann zu überlegen: Ist das daraus resultierende Verhalten ein Problem für mein Kind, um sich in sozialen Gruppen zurechtzufinden oder kann es ein Problem sein für die andere Entwicklungsbereiche? Dann braucht es eine ressourcenorientierte Unterstützung, um mit den jeweiligen Herausforderungen gut umgehen zu können. Ein Kind mit hoher Reaktionsintensität, geringer Anpassungsfähigkeit und starker Reaktion auf neue Situationen kann beispielsweise in Konfliktsituationen Schwierigkeiten mit der Selbstregulation haben. Es braucht hier eine verlässliche, nahe Begleitung, die seine Fähigkeit zur Regulation gezielt stärkt, damit diese ausgeprägten Eigenschaften nicht zu sozialen Hindernissen werden. Wird das Kind nicht entsprechend unterstützt, können sich Folgeprobleme zeigen – etwa Ausgrenzung durch Gleichaltrige oder eine geringe soziale Integration.

Temperament ist in Entwicklung eingebettet

Ein weitverbreitetes Missverständnis ist die Annahme, dass auffälliges Verhalten bei Kindern auf stabile Charakterzüge oder gar frühkindliche „Persönlichkeitsstörungen“ hinweise. Tatsächlich ist die Persönlichkeit in der Kindheit noch in Entwicklung. Diagnosen wie eine narzisstische Persönlichkeitsstörung, wie man sie manchmal in den Medien liest in Bezug auf junge Kinder, die ihren Wünschen Ausdruck verliehen, werden frühestens im Jugendalter gestellt – und auch dann mit großer Vorsicht.

Ein Kind, das heute schnell frustriert, laut oder verschlossen reagiert, tut dies nicht aus Böswilligkeit. Vielmehr sind diese Reaktionen Ausdruck seines Temperaments, seiner bisherigen Erfahrungen und seiner noch reifenden Fähigkeit zur Selbstregulation.

Die Rolle der Bindung und der Co-Regulation

Kinder lernen Selbstregulation nicht allein. Sie brauchen Erwachsene, die ihnen Sicherheit geben, die sie in der Regulation unterstützen, wenn Empfindungen und Reize zu groß oder stark werden. Diese Co-Regulation ist kein Zeichen von Schwäche, sondern die Basis für Reifung. Sie hilft dem Kind, nach und nach eigene Strategien zu entwickeln, um Emotionen, Impulse oder Aufmerksamkeit zu steuern.

Die neurobiologische Forschung zeigt, dass diese Prozesse eng mit der Entwicklung des Stresssystems (HPA-Achse) zusammenhängen. Kinder, die wiederholt überfordert oder allein gelassen werden, entwickeln häufig ein überempfindliches oder dysreguliertes Stresssystem. Umgekehrt stärken feinfühlige Beziehungen und ein sicherer Rahmen die Resilienz.

Reizschwelle und Regulationsbedürfnisse

Ein zentrales Konzept für Regulation in Zusammenhang mit Temperamentseigenschaften ist die Reizschwelle: Wie empfindlich reagiert ein Kind auf innere oder äußere Reize? Kinder mit niedriger Reizschwelle nehmen viel wahr, sind oft schneller überstimuliert und brauchen früher Rückzug oder Unterstützung. Kinder mit hoher Reizschwelle erscheinen oft unkompliziert, haben aber möglicherweise Schwierigkeiten, sich mit ihren inneren Zuständen zu verbinden. Beide Gruppen brauchen achtsame Begleitung: Die einen, um sich zu beruhigen, die anderen, um sich besser zu spüren.

Was Co-Regulation praktisch bedeutet

Co-Regulation kann viele Formen annehmen. Ein Kind in Wut braucht vielleicht „einfach“ nur Anwesenheit und deine Sicherheit – nicht immer ist jetzt Körperkontakt oder Ansprache gewollt. Ein Kind in Traurigkeit wünscht sich möglicherweise Nähe, Worte für seine Gefühle oder ein vertrautes Objekt. Bei Überreizung hilft manchmal ein abgedunkelter Raum, leise Musik, gemeinsames Atmen oder Schaukeln.

Zentral ist: Du als Bezugsperson bleibst erreichbar und ruhig. Du gibst Halt durch deine Körpersprache, deine Stimme, deine präsente Haltung. So lernt das Kind, dass es sich auf Beziehung verlassen kann. Dass und wie Regulation möglich ist.

Auch Du brauchst Regulation

Um Kinder gut begleiten zu können, musst auch Du in Deinem „Window of Tolerance“ bleiben. Dieses Konzept beschreibt den inneren Bereich, in dem Du handlungsfähig, ruhig und aufmerksam bleibst. Stress, eigene Trigger oder Überforderung können Dich hinauskatapultieren – was wiederum die Co-Regulation erschwert. Auch das „Mismatch“ zwischen verschiedenen Ausprägungen unterschiedlicher Temperamentsdimensionen zwischen Kind und Bezugsperson kann Stress hervorrufen, weshalb es gut ist, sich die Unterschiede in einer Familie vor Augen zu führen.

Selbstregulation ist auch für Erwachsene ein zentrales Thema. Es braucht kleine Rituale, Pausen, Achtsamkeit, gute, gerechte und gesunde Aufgabenverteilungen im Alltag, die einer Überlastung vorbeugen. Nur wenn du für dich sorgst, kannst Du für andere da sein. Nur wenn das gesamte Familiensystem anerkennt, dass alle darin Bedürfnisse haben, können Erwachsene ihrer bedeutsamen Aufgabe der Co-Regulation gut nachgehen.

Fazit: Der Blick hinter das Verhalten

Ein Kind, das laut, traurig oder in anderer Weise auffällig wirkt, ist oft nicht „ungezogen“, sondern außerhalb seines Toleranzfensters. Es braucht Dich. Es braucht deine Ruhe, deine Klarheit, deine Beziehung. Temperament ist kein Problem, sondern eine Einladung, genau hinzuschauen: Was braucht dieses Kind in diesem Moment?

Wenn du Temperamentsunterschiede verstehst und Co-Regulation nicht als „extra Aufgabe“, sondern als zentrale Begleitung begreifst, kannst Du Kinder auf ihrem Weg zu innerer Stabilität wirklich unterstützen. Und erhältst damit vielleicht auch noch einen anderen und wohlwollenden Blick auf dich selbst.

Eure

Zur Autorin:
Susanne Mierau ist Diplom-Pädagogin (Schwerpunkt Kleinkindpädagogik) und Familienbegleiterin. Sie arbeitete an der FU Berlin in Forschung und Lehre, bevor sie sich 2011 im Bereich bedürfnisorientierte Elternberatung selbständig machte. Ihr 2012 gegründetes Blog geborgen-wachsen.de und ihre Social Media Kanäle sind wichtige und viel genutzte freie Informationsportale für bedürfnisorientierte Elternschaft und tragen seit über 10 Jahren maßgeblich zur Verbreitung bedürfnisorientierter Erziehung bei. Susanne Mierau gibt Workshops für Eltern und Fachpersonal und spricht auf Konferenzen und Tagungen über kindliche Entwicklung, Elternschaft und Familienrollen.

Foto: Ronja Jung für geborgen-wachsen.de

Was meint „Erziehung ohne Schimpfen“?

Wenn davon gesprochen wird, dass Eltern nicht schimpfen sollen, wird das häufig missverstanden. Gemeint ist dabei nicht, dass Gefühle wie Wut, Überlastung, Ärger oder Hilflosigkeit „einfach“ unterdrückt werden sollen oder dass das Kind tun und lassen kann, was es will. Vielmehr geht es darum, dass Eltern in Selbstberuhigungsstrategien einsetzen können, um angemessen zu reagieren – diese fehlen aber häufig. Sie auszubauen, hilft nicht nur im Alltag mit Kindern, sondern stärkt auch andere zwischenmenschliche Beziehungen – sowohl im privaten Umfeld als auch im Berufsleben.

Gewalt vermeiden

„Nicht schimpfen“ bedeutet nicht, dass Kindern kein Feedback gegeben oder keine Grenzen gesetzt werden dürfen. Auch Ärger darf gezeigt werden. Entscheidend ist jedoch, wie wir mit unseren Empfindungen umgehen: sozialverträglich, respektvoll und ohne das Kind zu ängstigen. Denn emotionale Gewalt ist ebenfalls Gewalt und kann beim Kind langfristige Spuren hinterlassen. Kinder haben laut § 1631 BGB ein Recht auf eine gewaltfreie Erziehung: „Körperliche Bestrafungen, seelische Verletzungen und andere entwürdigende Maßnahmen sind unzulässig.“ Dazu gehört auch, nicht verbaler Gewalt ausgesetzt zu sein. Dieses Recht basiert auf Erkenntnissen aus verschiedenen Forschungsbereichen, die zeigen, dass auch seelische Gewalt negative Auswirkungen auf die kindliche Entwicklung hat.

Warum machen wir das, wenn wir es nicht wollen?

Viele Eltern spüren unmittelbar nach einer Situation, in der sie ihr Kind angeschimpft oder gar angeschrien haben, dass dieses Verhalten nicht richtig war. Scham stellt sich ein. Im besten Fall folgt eine Entschuldigung und der Vorsatz, es beim nächsten Mal besser zu machen. Doch oft bleibt es nicht bei einem Ausrutscher – das Muster wiederholt sich. Warum passiert uns das, obwohl wir es eigentlich vermeiden wollen?

Eine übermäßige Reaktion hängt häufig mit der hohen Stressbelastung im Alltag zusammen. Unser Leben ist geprägt von Dauerstress und Reizüberflutung. Gehirn und Körper sind permanent damit beschäftigt, diesen Stress zu verarbeiten. Studien zeigen eindeutig: Stress wirkt sich negativ auf Erziehungsverhalten aus. Je höher die Belastung, desto schwerer fällt es, Kinder geduldig und einfühlsam zu begleiten.

Prägungen und Erwartungen: Unsichtbare Stressverstärker

Neben Alltagsstress, akuten Belastungen und dem individuellen Temperament des Kindes gibt es einen weiteren entscheidenden Faktor: unsere eigenen Prägungen. Dazu gehören sowohl genetische Voraussetzungen im Umgang mit Stress als auch die Erfahrungen aus unserer eigenen Kindheit und Erziehung. Das Thema Scham kann hier eine große Rolle spielen: Viele von uns haben verinnerlicht, dass wir uns schlecht fühlen, wenn unser Kind sich „unangemessen“ verhält – insbesondere in der Öffentlichkeit. Dieses Schamgefühl führt oft dazu, dass wir überreagieren. Aber auch der Umstand, dass wir selbst nicht lernen durften in der Kindheit, gesunde Grenzen zu setzen, kann es uns schwer machen, diese heute festlegen und uns für ihr Einheiten einzusetzen. So kommt es, dass Erwachsene dauerhaft zu viel von sich verlangen und dadurch unter Stress stehen.

Was Eltern konkret tun können

Um weniger stark zu reagieren, sollten Eltern an mehreren Punkten ansetzen:

  • Stress reduzieren: Aufgaben minimieren, Anforderungen hinterfragen und Perfektionsansprüche loslassen, gesunde Grenzen für sich selbst setzen.
  • Selbstregulation stärken: Frühzeitig wahrnehmen, wann Ärger aufsteigt, und passende Techniken einsetzen, wie Atemübungen, Körperwahrnehmung, Entspannungs- oder Meditationsübungen.

Diese Strategien helfen, gelassener zu bleiben – nicht nur im Umgang mit dem Kind, sondern auch in anderen Lebensbereichen.

Und was ist jetzt mit den Grenzen?

Kinder brauchen Orientierung, aber sie müssen dabei weder beschämt noch verängstigt werden. Grenzen lassen sich klar und respektvoll kommunizieren – ganz ohne Schimpfen (im Sinne von Niedermachen) oder Schreien. Auch wenn viele von uns durch die eigene Kindheit geprägt sind und glauben, dass harte Worte oder lautes Verhalten nötig seien: Das ist weder die einzige noch die sinnvollste Methode. Kinder können Regeln, soziales Verhalten und den Umgang mit Fehlern auch ohne Druck und Angst lernen – oft sogar besser, weil sie nicht unter dem Stress von Schimpfen und Schreien stehen.

Eure

Zur Autorin:
Susanne Mierau ist Diplom-Pädagogin (Schwerpunkt Kleinkindpädagogik) und Familienbegleiterin. Sie arbeitete an der FU Berlin in Forschung und Lehre, bevor sie sich 2011 im Bereich bedürfnisorientierte Elternberatung selbständig machte. Ihr 2012 gegründetes Blog geborgen-wachsen.de und ihre Social Media Kanäle sind wichtige und viel genutzte freie Informationsportale für bedürfnisorientierte Elternschaft und tragen seit über 10 Jahren maßgeblich zur Verbreitung bedürfnisorientierter Erziehung bei. Susanne Mierau gibt Workshops für Eltern und Fachpersonal und spricht auf Konferenzen und Tagungen über kindliche Entwicklung, Elternschaft und Familienrollen.

Foto: Ronja Jung für geborgen-wachsen.de

Wenn Babys viel weinen – und Eltern an sich selbst zweifeln: Über die unsichtbaren Spuren der Schreibabyzeit

Viel weinende Babys sind für ihre Eltern oft eine besondere Herausforderung. Es ist schwer, ein Baby zu begleiten, das viel und lange weint – körperlich ebenso wie emotional. Viele Eltern fühlen sich hilflos und entwickeln das Gefühl, als Mutter oder Vater nicht kompetent zu sein. Schließlich scheint nichts zu helfen, obwohl sie alles geben. Gedanken wie „Mein Baby weint ständig – und ich kann es nicht beruhigen“ setzen sich fest.

Besonders belastend wird es, wenn Eltern in dieser Situation keine fachliche Unterstützung erhalten, sondern allein durchhalten müssen – sei es, weil sie keine Hilfe finden oder nicht wissen, dass es pädagogisch-psychologische Unterstützung gibt. Dann kann sich das Gefühl, nicht gut genug zu sein, tief verankern – und über die Babyzeit hinaus nachwirken.

Selbstvertrauen entwickeln als Elternteil

Bindung und Beziehung entstehen durch Interaktion. Natürlich ist es wichtig, dass das Baby sich auf die Fürsorge verlassen kann – aber auch das Erleben der Eltern spielt eine große Rolle. Wenn wir spüren, dass wir unser Baby verstehen, dass unsere Reaktion hilft, dann entsteht ein Gefühl von Sicherheit und Kompetenz. Fehlt dieses Feedback, wird es schwerer, Selbstvertrauen in der Elternrolle aufzubauen. Stattdessen schleichen sich Zweifel ein – manchmal auch Angst: „Bald weint mein Baby wieder – und ich werde wieder nicht wissen, was hilft.“

Stress, Schlafmangel, Hilflosigkeit, Schamgefühle und Frustration begleiten viele Eltern durch diese Zeit. Innerlich bröckelt das Selbstwertgefühl. Das Gefühl von Selbstwirksamkeit verblasst. Und gleichzeitig wirkt der gesellschaftliche Druck: „Jetzt hast du doch ein Kind – sei doch glücklich!“
Viele fragen sich: „Was denken andere von mir, wenn ich mein Baby nicht beruhigen kann? Was bin ich für eine Mutter, was für ein Vater – wenn ich gleich zu Beginn scheitere?“

Entspannte Eltern, entspannte Kinder?

„Entspannte Eltern, entspannte Kinder“ – noch immer hält sich dieser Spruch hartnäckig, auch wenn er ein Mythos ist. Die Ursachen für das viele Weinen können vielfältig sein. Durchaus können elterliches Verhalten und Stress einen Einfluss nehmen, aber es gibt auch viele weitere mögliche Gründe für das Weinen und Schreien von Babys. Hier braucht es fachkundige Abklärung, um dem Weinen auf die Spur zu kommen.

Und manchmal gibt es keine eindeutige Erklärung. Dann geht es in der Begleitung vor allem darum, die Eltern zu stärken – emotional, körperlich, mental. Damit sie durchhalten können, ohne auszubrennen. Damit sie Auswege kennen, bevor Überlastung zur Lebensgefahr wird: Überforderung kann schwerwiegende Folgen haben, etwa in Form von Schütteln des Babys. Prävention ist hier essenziell. Eltern müssen wissen, was sie ganz konkret tun sollten, wenn ihre innere Not zu groß wird.

Langfristige Auswirkungen

Manchmal bleibt das Vertrauen in die eigene Kompetenz auch nach der Babyzeit erschüttert. Zu sehr und zu lange wurde verinnerlicht, dass man einfach nicht richtig wisse, was das Kind braucht. Zu sehr ist man vielleicht auch daran gewöhnt, Vieles im Wechsel anbieten zu müssen, damit irgendwas hilft. Zu tief sitzt vielleicht auch die Angst vor dem Weinen des Kindes, das so viel Stress verursacht hat und das man mittlerweile fürchtet. Das Stress auslösende Weinen unbedingt vermeiden, kann ein unbewusstes Ziel sein. Kommt ein weiteres Baby in die Familie, kann die Angst vor dem Weinen sich auch auf dieses übertragen – auch wenn es vielleicht kein viel weinendes Baby ist, wie das Geschwisterkind zuvor. Oft ist es nicht sichtbar und bewusst, wie sehr die herausfordernde Zeit geprägt und welche Auswirkungen sie auf das Verhalten genommen hat.

Der Blick auf das Baby UND die Eltern ist wichtig

Die Begleitung von Familien mit viel weinenden Babys darf nicht beim Baby enden. Es geht nicht nur darum, das Weinen zu verstehen oder zu lindern. Genauso wichtig ist der Blick auf die Eltern: Wie geht es ihnen jetzt gerade? Was brauchen sie an Pausen, Unterstützung, Entspannungsmethoden? Was brauchen sie an Hilfen, um sich trotz der aktuell schwierigen Lage kompetent zu fühlen und nicht das Vertrauen in sich zu verlieren? wo erfahren sie sich dennoch als wirksam in der neuen Rolle und erleben schöne Momente des Miteinanders?

Bleibt diese Art der Unterstützung aus, kann eine Ängstlichkeit und Unsicherheit zurückbleiben, die sich auf den Familienalltag auswirkt. Kinder mit einem „schwierigen Temperament“ haben eine höhere Wahrscheinlichkeit, unsichere Bindungsmuster zu verinnerlichen, weil durch die Herausforderung die Eltern-Kind-Interaktion beeinträchtigt werden kann. Passende Unterstützung kann dies jedoch verhindern und sichere Beziehungen entstehen lassen trotz der großen Herausforderung, die mit der anfänglichen Belastung einher gehen: Sichere Beziehungen sind möglich – auch nach einem schweren Start.

Eure

Zur Autorin:
Susanne Mierau ist Diplom-Pädagogin (Schwerpunkt Kleinkindpädagogik) und Familienbegleiterin. Sie arbeitete an der FU Berlin in Forschung und Lehre, bevor sie sich 2011 im Bereich bedürfnisorientierte Elternberatung selbständig machte. Ihr 2012 gegründetes Blog geborgen-wachsen.de und ihre Social Media Kanäle sind wichtige und viel genutzte freie Informationsportale für bedürfnisorientierte Elternschaft und tragen seit über 10 Jahren maßgeblich zur Verbreitung bedürfnisorientierter Erziehung bei. Susanne Mierau gibt Workshops für Eltern und Fachpersonal und spricht auf Konferenzen und Tagungen über kindliche Entwicklung, Elternschaft und Familienrollen.

Hochsensibilität im Familienalltag

von Franziska Krebs – Geborgen Wachsen Bindungsbegleiterin

Wenn du “mein Kind ist hochsensibel”  hörst, woran denkst du denn dann zuerst?Denkst du an ein emotionales, empathisches, verträumtes, nicht stark belastbares Kind, das sich oft weinend und voller Überreizung zurückzieht? Oder hast du ein Bild von einem wissensdurstigen, aktiven, kommunikativen und sehr begabten, stets nach neuen Herausforderungen suchenden jungen Menschen vor deinem inneren Auge? Beide Beschreibungen sind etwas überspitzt dargestellt, aber die meisten von uns tendieren wohl tatsächlich eher zur ersteren Beschreibung und verbinden mit hochsensiblen Kindern kaum auch Aktivität und Wissensdurst. Hochsensibilität ist allerdings ein angeborenes Persönlichkeitsmerkmal, welches – nach aktuellem Forschungsstand – ca. 15-20% der Bevölkerung mitbringen, und das sehr facettenreich ist.

Es gibt mehr introvertierte hochsensible, aber auch extravertierte

Doch warum ist besonders dieses erste, von mir vorab beschriebene Bild so geläufig? Als Elaine Aron, die als Begründerin des Konstruktes der Hochsensibilität gilt, anhand ihrer Studien zu diesem Persönlichkeitsmerkmal ihre Forschungsergebnisse veröffentlichte, zeigte sich eine deutliche Verteilung: Es gibt mehr introvertierte hochsensiblen Menschen. Die andere Ausprägung des wilden, aktiven, fantasievollen, mitteilungsfreudigen, interessiert fragenden und Gesellschaft liebenden hochsensiblen Menschen ist seltener vertreten und nahm auch in der öffentlichen Darstellung weniger Raum ein – dennoch gibt es auch sie.

Dem vielfältigen Persönlichkeitsmerkmal der Hochsensibilität liegt eine Struktur im Gehirn zugrunde, die es ermöglicht, viel mehr Daten und Reize über sämtliche Sinneskanäle ungefiltert aufzunehmen und intensiver zu verarbeiten, als dies bei nicht hochsensiblen Menschen der Fall ist. Doch diese Hochleistung im Gehirn führt gleichzeitig auch zu schnellerer Erschöpfung und benötigt Regenerationsphasen zur Verarbeitung – Zeit zum Auftanken und Abschalten ist besonders wichtig. 

Elternteil eines hochsensiblen Kindes sein

Eltern hochsensibler Kinder sind aufgrund dieser Anforderungen oft vor große Herausforderungen gestellt. Bedürfnisse wollen verstanden und entsprechend begleitet werden. Der Unterschied zu anderen Kindern ist von Außen nicht sichtbar und das Umfeld reagiert daher manchmal wenig verständnisvoll oder erwartet sogar, dass sich das Kind eben wie alle anderen verhalten solle. Diese Ansprüche führen auch bei Eltern nicht selten zu Verunsicherungen, ob sie das Kind denn wirklich richtig begleiten würden. Auch innerlich recht stabile Eltern haben manchmal leise Zweifel, fühlen sich hilflos oder überfordert. Gerade hochsensible Kinder sind darauf angewiesen, dass ihre Bezugspersonen ihnen auch nach Außen Sicherheit geben und den Bedarf der Kinder nach Außen verständlich machen. Nur aus der Sicherheit heraus kann das Kind Mut fassen und an Herausforderungen wachsen, nicht nur Druck und Unsicherheit, die zu wenig Verständnis hervorrufen würden. Alternative Ideen und kreative Lösungen sind für hochsensible Kinder hilfreich, damit sie einerseits erfahren, dass ihre Grenzen in Ordnung sind und sein dürfen, und andererseits aus der Sicherheit heraus Exploration stattfinden kann.

In all diesen täglichen Herausforderungen zusätzlich deine eigenen Bedürfnisse und Gefühle zu regulieren, während du ja auch die Gefühle deines Kindes co-regulierst und vielleicht noch die Erwartungen Dritter im Außen spürst, kann ein echter Kraftakt sein. Als vielleicht selbst hochsensibler Elternteil kann dies situationsabhängig manchmal zur Zerreißprobe werden. Umso wichtiger ist es dabei, auch gut für dich zu sorgen, bei Bedarf Unterstützung anzunehmen oder bewusst zu suchen, in den Austausch mit anderen Eltern hochsensibler Kinder zu gehen und dir Zeit und Raum zum eigenen Auftanken einzuräumen. 

Ressourcenorientierter Blick auf die schönen Aspekte

Auch wenn die Begleitung eines hochsensiblen Kindes durchaus auch herausfordernd ist, gibt es im Familienalltag von Familien mit hochsensiblen Mitgliedern wunderschöne Momente. Das Leben mit einem hochsensiblen Kind bringt manchmal auch den kritischen Blick auf die generelle Reizüberflutung unseres Alltags mit sich und lädt dazu ein, mehr Ruhe und Entspannung auch in den eigenen Alltag einfließen zu lassen. Hochsensible Kinder bereichern uns mit ihrem speziellen Blick auf diese Welt, bringen durch die hoch durchdachten und wissbegierigen Fragen neue Impulse in unser aller Leben und regen zum Überdenken an. 

Auch hier gilt wie so oft, dass wir das Kind so annehmen sollten, wie es ist. Und als der Mensch wertschätzen sollten, der es ist. Auf dieser Basis können wir es ressourcenorientiert unterstützen, mit der Hochsensibilität die Welt zu erkunden und sich sicher darin zu bewegen. Das große Ziel ist ja letztendlich, die Hochsensibilität in ihrer Vielfalt annehmen zu können, eigene Bedürfnisse und Gefühle wahrzunehmen und die Potenziale darin entfalten zu dürfen. 

Franziska Krebs ist staatlich anerkannte Sozialpädagogin, Geborgen Wachsen Bindungsbegleiterin und Fachpädagogin für Hochsensibilität. Sie begleitet Einzelpersonen und Familien in 1:1 Beratungen und gibt regelmäßig Workshops, Vorträge und online Austauschrunden für Eltern und pädagogische Fachkräfte. Zudem nutzt sie auch bedarfsorientiert Klangangebote und Kinesiologische Reflextherapie. Franziskas Wirkungsraum befindet sich in Halle (Saale), im Saalekreis und bei Anfragen auch in Leipzig, sowie online. Hier findest du sie auf Instagram.

Fotos: Ronja Jung für geborgen-wachsen.de