Kategorie: Geborgen Wachsen

Wie Kinder Selbständigkeit entwickeln

Selbständigkeit ist für viele Eltern ein bedeutsames Ziel in der Entwicklung: selbständig einschlafen, selbständig anziehen, selbständig spielen. Der Wunsch dahinter ist oft, dass das Kind kompetent ist, um mit den Herausforderungen des Alltags gut umgehen zu können und eine eigene innere Stärke und Problemlösungsfähigkeit entwickelt, die es gut durch das Leben trägt. Viele Eltern fragen sich, wie sie dieses Ziel erzieherisch unterstützen können: Wie fördert man die Selbständigkeit des Kindes? Welche Schritte braucht es auf dem Weg zu Selbständigkeit?

Selbständigkeit entsteht nicht allein

Schnell ist man verleitet, zu denken, dass Selbständigkeit dann entsteht, wenn das Kind Aufgaben und Probleme allein lösen muss. Wie soll es das sonst lernen? Durchaus brauchen Kinder Raum und Zeit, um sich an Herausforderungen zu erproben und eigene Lösungsstrategien zu entwickeln, doch dies ist nur ein Baustein der Entwicklung von Selbständigkeit. Neben der Möglichkeit, sich selbst zu erproben, brauchen Kinder das Gefühl von Sicherheit, um überhaupt erst auf eine Aufgabe zugehen zu können.

Die Welt zu erkunden und sich ihren Herausforderungen zu stellen, gelingt dann gut, wenn wir uns sicher genug fühlen, um auf Herausforderungen zuzugehen. Eigentlich kennen wir das auch als Erwachsene: Wir gehen dann selbstbewusster an eine neue Aufgabe heran, wenn wir uns gut und sicher fühlen, wenn wir vielleicht schon Kompetenzen haben, die wir einsetzen können oder zumindest dann, wenn das Gefühl haben, im Notfall eine andere Person um Hilfe bitten zu können. Unsere Kinder sind noch stärker auf ein sicheres Notfallnetz angewiesen als wir, schließlich sind sie jünger und verfügen noch über weniger Erfahrungswissen. Je sicherer sie sich fühlen, desto leichter fällt es, sich einer neuen/fremden/herausfordernden Tätigkeit zuzuwenden.

Diesen Bedarf an Sicherheit zeigen unsere Kinder im Alltag und viele Eltern spüren ihn, auch wenn sie ihn noch nicht als Basis für die Selbständigkeit wahrnehmen: Wenn wir uns wünschen, dass das Kleinkind- oder Vorschulkind allein einschlafen soll, ist es hilfreich, zu vereinbaren, immer wieder vorbei zu kommen in regelmäßigen Abständen („Ich räum eben den Geschirrspüler ein, dann komm ich nochmal rein.“). Wenn wir uns wünschen, dass das Kleinkind sich allein anzieht oder selbst ein Brot schmiert, ist es hilfreich, wenn wir in der Nähe sind und gar nicht unbedingt eingreifen, aber die Sicherheit ausstrahlen, zur Not zur Verfügung zu stehen. Ebenso, wenn das Vorschulkind auf dem Spielplatz eine neue Höhe auf dem Klettergerüst erklettert oder wenn das Schulkind nachmittags die Hausaufgaben machen soll und weiß, dass wir notfalls da und ansprechbar sind, wenn es nicht weiter weiß.

Ich glaub an dich!

Wenn wir in der Nähe sind, wenn das Kind sich einer neuen Herausforderung widmet, geben wir einerseits Sicherheit, dass es sich im Notfall an uns wenden kann, andererseits vermitteln wir auch Zuversicht. In der Nähe zu sein und etwas zuzulassen, dass wir wahrnehmen, vermittelt: Ich glaube, dass du das kannst. Wir müssen Kinder gar nicht beständig mit Worten anspornen oder loben, sondern können schon durch unsere Haltung ausdrücken, dass wir dem Kind die Kompetenz zusprechen, ein Problem lösen zu können. So können Eltern ressourcenorientiert statt defizitorientiert an eine Situation herangehen: Eine Situation bewusst zuzulassen, ohne groß zu erklären, dass wir da sind, ohne groß anzuweisen vermittelt dem Kind das Gefühl, dass es das schon schaffen kann.

Sicherheit, um Hilfe bitten zu können

Sicherheit bedeutet nicht nur, dass man da ist, um das Kind körperlich zu schützen vor Gefahren. Sicherheit ist auch das Gefühl, sich wirklich verlassen zu können. Sicherheit bedeutet für ein Kind, dass es sich ohne Angst an eine Bezugsperson wenden kann. Wenn es doch keine Lösung findet, wenn es nicht weiter weiß oder körperlich/geistig überfordert ist, kann es sich an die Person in der Nähe wenden und um Hilfe bitten, ohne dafür beschämt, verängstigt oder bestraft zu werden. Aus dieser Sicherheit heraus kann es entspannter mit neuen Aufgaben umgehen, kann sich kreativ einem Problem zuwenden. Wenn es hingegen Spott oder Abwertung als Reaktion auf ein Scheitern erwartet, ist es schon während des Tuns viel angespannter.

Selbständigkeit bedeutet nicht nur, ganz allein eine Aufgabe bewältigen zu können. Selbständigkeit meint auch, selbst zu merken, wann man nicht weiter kommt und dann selbst zu entscheiden, wie man mit dieser Situation umgeht. Selbständigkeit ist auch, selbst eine andere Person hinzu zu ziehen, wenn man es allein nicht schafft: um Hilfe bitten, andere einzubeziehen, vozuschlagen, als Gruppe zuzusammen zu arbeiten, kann auch Selbständigkeit sein.

Hilfe, um sich selbst zu helfen

Wenn das Kind mit einer Aufgabe nicht sofort allein zurecht kommt und Hilfe erbittet, bedeutet das nicht, dass dem Kind sofort die Lösung präsentiert werden muss. Hilfe anzubieten, um die Selbständigkeit des Kindes zu fördern, kann bedeutet, das Problem noch einmal gemeinsam anzusehen und zu überlegen, was bisher nicht funktioniert hat und welche Optionen es stattdessen noch gibt. Erwachsene haben einen Wissens- und Erfahrungsvorsprung, von dem aus sie schnell Probleme von Kindern lösen können: das Kind auf etwas hinaufsetzen oder herunternehmen, etwas heruntergeben oder wegnehmen. Doch wenn es darum geht, Selbständigkeit zu vermitteln, sind diese für uns einfachen und zeitsparenden Lösungen oft gar nicht der beste Weg. Hilfreicher ist es, gemeinsam zu überlegen, wie das Kind die Situation mit unserer Hilfe lösen kann. Vielleicht, indem wir einen Hocker suchen, der hoch genug ist, damit das Kind etwas selbst erreichen kann. Oder indem wir Raum dafür geben, dass das Kind sagen kann, was es eigentlich noch braucht, um gut allein einschlafen zu können. Hilfe kann in erster Linie Unterstützung sein, anstatt Lösung.

Eine Frage des Mindsets

Manchmal ist es auch das eigene Konzept von Selbständigkeit, das Eltern hinterfragen können: Was bedeutet Selbständigkeit eigentlich? Erwarte ich, dass das Kind allein alle Situationen meistern soll oder wünsche ich mir die Kompetenz des Kindes, selbst Entscheidungen zu treffen? Der Fokus auf das Alleine-Machen ist ein gesellschaftliches Konstrukt, das wir überdenken können: Ist es wirklich wichtig, dass jede Person das Leben ganz individuell und allein meistert, oder ist es vielleicht besser, mehr auf Gemeinschaft und Kooperation zu setzen? Menschen und Kinder müssen nicht zwangsweise dazu erzogen werden, möglichst früh möglichst viel allein zu bewerkstelligen.

Kinder sind unterschiedlich. Manche schlafen früher selbständig ohne Begleitung ein, andere später. Manche trauen sich früher, das Schwimmen/Radfahren zu lernen, andere brauchen länger. Manche können früher ohne Windeln unterwegs sein, andere brauchen mehr Zeit. In der Regel verlaufen sich diese Dinge im Laufe des Lebens und es ist später nicht mehr bedeutsam, wann genau das Kind allein gegessen hat oder zum ersten Mal woanders übernachtet hat. Was aber bleibt, ist das Gefühl des Kindes, darauf vertrauen zu können, dass es sich im Notfall an jemand anderen wenden darf und nicht allein alles bewerkstelligen muss.

Eure

Zur Autorin:
Susanne Mierau ist Diplom-Pädagogin (Schwerpunkt Kleinkindpädagogik) und Familienbegleiterin. Sie arbeitete an der FU Berlin in Forschung und Lehre, bevor sie sich 2011 im Bereich bedürfnisorientierte Elternberatung selbständig machte. Ihr 2012 gegründetes Blog geborgen-wachsen.de und ihre Social Media Kanäle sind wichtige und viel genutzte freie Informationsportale für bedürfnisorientierte Elternschaft und tragen seit über 10 Jahren maßgeblich zur Verbreitung bedürfnisorientierter Erziehung bei. Susanne Mierau gibt Workshops für Eltern und Fachpersonal und spricht auf Konferenzen und Tagungen über kindliche Entwicklung, Elternschaft und Familienrollen.

Foto: Ronja Jung für geborgen-wachsen.de

Aggressionen bei Kleinkindern verstehen und begleiten

Wenn das eigene Kind aggressives Verhalten zeigt, ist das für Eltern oft schwierig: Sie denken, dass andere sie selbst verurteilen und als schlechte Eltern betrachten, dass andere Menschen das Kind negativ betrachten und in eine gedankliche Schublade stecken oder schließen sich selbst der Angst an, dass das Kind ein negatives Verhalten entwickelt mit weitreichenden Folgen. Die Folge dieser Denkmuster ist oft, dass versucht wird, das Verhalten des Kindes zu stoppen, dabei aber die Ursachen nicht in den Blick genommen werden und auch kein Ausweg aufgezeigt wird, wie mit dem eigentlichen Gefühl, das dahinter steht, umgegangen werden kann.

Kindliche Aggression ist weniger schlimm als ihr Ruf

Dabei ist zunächst einmal wichtig zu betrachten, dass kindliche Aggression weniger schlimm ist als ihr Ruf: Nur weil das Kleinkind Wut durch Aggression äußert, bedeutet es noch lange nicht, dass generell etwas mit der Erziehung nicht stimmen würde oder dem Kind. Zunächst einmal ist es völlig normal, dass Kleinkinder ihre Empfindungen wie Wut, Frustration, Enttäuschung, Ekel, Abwehr und anderes stark von sich weisen. Eigentlich sogar ist Aggression ein wichtiger Aspekt unseres menschlichen Erlebens, weil sie uns Kraft gibt, um Grenzen zu setzen, für uns selbst einzustehen oder auch für andere. Sie ist ein Teil unseres Schutzsystems.

Das Kleinkind denkt noch nicht wie wir Erwachsene über Gefühle und Handlungen nach, sondern handelt impulsiv. Das ist sinnvoll, da das Kind noch nicht über ausreichende Erfahrungen verfügt, um Situationen miteinander zu vergleichen und abzuwägen.

Susanne Mierau, Geborgene Kindheit, S. 124

Durchaus gibt es Kinder, die aggressiver sind als andere, was u.a. genetisch bedingt sein kann. Die Neurobiologin Dr. Nicole Strüber (2019) erklärt, wie sich diese genetische Disposition negativ auf Beziehungen und auch auf die ersten Bindungen auswirken kann. Doch gerade Kinder, die ein stärker aggressives Verhalten zeigen, brauchen ein feinfühliges Begleiten, um ihren Stress zu mindern und Handlungsstrategien zu lernen, um mit ihren Impulsen gut umgehen zu können.

Aggression als Schutzstrategie für Grenzen und Zuwendung

Auch Kleinkindern dient Aggression als Schutz: Als Schutz nach außen, um eine Grenze zu ziehen, wenn sie ihre Grenze bedroht fühlen, aber auch als Schutz nach Innen, wenn Aggression als Ausdruck benutzt wird, um etwas einzufordern wie beispielsweise elterliche Aufmerksamkeit oder Verbindung auf andere Art und Weise, beispielsweise auch mit anderen Kindern. Manchmal fehlen Kleinkindern noch Worte und Handlungsideen, wie sie ihre Bedürfnisse umsetzen können – sowohl beim Kind, das zubeißt, um sich wehren, als auch beim Kind, das zubeißt, weil es in Kontakt treten will.

Wir können darauf achten, dass unser Kind sich und andere nicht verletzt. Wir können versuchen, seine Gefühle durch unseren körperlichen Ausdruck zu spiegeln. Wir können unserem Kind aufrgund des Wissens, was ihm hilft und was es mag, eine sanfte Unterstützung sein und dabei helfen, aus der Wut herauszukommen, denn das ist für viele Kinder im Vorschulalter noch sehr schwierig. Und wir können unser Kind danach in die Arme nehmen und darüber sprechen.

Susanne Mierau, Geborgene Kindheit, S. 125

Verständnis entwickeln

Die bedeutsamen Fragen sind also auch hier wieder: Welche Absicht, welches Gefühl, welches Bedürfnis steht hinter dem Verhalten meines Kindes? Will es sich gerade abgrenzen? Wenn ja, warum und wovon? Oder will es in Verbindung treten? Wenn ja, mit wem und warum? Von diesem Punkt aus können wir dann überlegen, welche Impulse wir für die Begleitung anbieten: Wir können in die Situation in Worte fassen und dann Ideen anbieten, wie auch gehandelt werden kann. Der sozial akzeptierte Ausdruck von Gefühlen wird über viele Jahre erlernt anhand von Vorbildern und durch die Begleitung durch die nahen Bezugspersonen. Kleinkinder beginnen gerade erst damit, ihr Handlungsrepertoire auszubauen und die vielen Möglichkeiten zu verinnerlichen, wie mit bestimmten Empfindungen umgegangen werden kann. Statt ihnen nur zu sagen, was sie nicht tun sollen und sie dann mit ihrem Empfinden allein zu lassen, brauchen sie ihre nahen Bezugspersonen, die ihnen das eigene Empfinden erklären, ihm einen Namen geben und aufzeigen, wie sie damit umgehen können. Lehnen wir nur ihr Verhalten ab, kann das Kind das nicht verstehen und bezieht die Ablehnung auf sich als Mensch: Ich darf so nicht sein, mit diesem Gefühl werde nicht akzeptiert, ich muss sie verstecken, um von den nahen Bezugspersonen geliebt zu werden.

Besonders bedeutsam ist es also, das aggressive Verhalten des Kindes nicht falsch zu interpretieren: Es ist kein Machtspiel, es stellt uns nicht infrage. Es ist nicht zwangsweise ein Ausdruck für schlechtes Erziehungsverhalten und will uns deswegen nicht beschämen vor anderen. Es ist bedeutsam, genau hinzusehen, die eigentliche Absicht des Kindes zu ergründen und dann zielgerichtet darauf zu handeln, damit das Kind wirklich lernen kann, immer besser mit den eigenen Impulsen umzugehen.

Eure

Zur Autorin:
Susanne Mierau ist Diplom-Pädagogin (Schwerpunkt Kleinkindpädagogik) und Familienbegleiterin. Sie arbeitete an der FU Berlin in Forschung und Lehre, bevor sie sich 2011 im Bereich bedürfnisorientierte Elternberatung selbständig machte. Ihr 2012 gegründetes Blog geborgen-wachsen.de und ihre Social Media Kanäle sind wichtige und viel genutzte freie Informationsportale für bedürfnisorientierte Elternschaft und tragen seit über 10 Jahren maßgeblich zur Verbreitung bedürfnisorientierter Erziehung bei. Susanne Mierau gibt Workshops für Eltern und Fachpersonal und spricht auf Konferenzen und Tagungen über kindliche Entwicklung, Elternschaft und Familienrollen.

Foto: Ronja Jung für geborgen-wachsen.de

„Wie redest du denn mit mir?“ – Wenn Kinder unfreundlich sind

Über viele Jahre hinweg lernen Kinder, sich in dieser Welt sicher zu bewegen: Sie lernen ihren Körper kennen, lernen sich fortzubewegen, zu sprechen, mit anderen zu interagieren. Dabei lernen sie auch, ihre Gefühle zunehmend sprachlich auszudrücken und wie sie mit Schimpfworten umgehen können oder sollten. Neben den Schimpfworten treten manchmal aber auch andere sprachliche Verhaltensweisen auf, die wir nicht stehen lassen wollen, beispielsweise wenn das Kind unfreundlich mit uns oder anderen spricht, etwas einfordert oder etwas nicht tun will. Wir fühlen uns angegriffen von den Worten, auch wenn es keine direkten Schimpfworte sind.

Unfreundliches Verhalten von Kindern ist oft kein Angriff

Als Erwachsene bewerten wir ein unfreundliches Verhalten von jungen Kindern oft als Angriff. Ein „Mach das doch selbst!“, „Ich will nicht mit zu der blöden Feier!“, „Hol du das doch!“ oder „Du bist echt immer so nervig!“ sehen wir schnell als Angriff: ein Machtspiel! Schnell reagieren wir dann auf genau diese Interpretation und versuchen, die Positionen wieder in der gewohnten Ordnung aufzustellen. „So lass ich nicht mit mir reden!“, „Du spinnst ja wohl!“, „Wenn du nicht freundlich bist, dann…“, „Geh auf dein Zimmer!“ Oft reagiert das Kind auf diese Anwtort dann mit Gegenwehr und der Konflikt eskaliert.

Deine Grenzen benennen ist wichtig…

Natürlich ist es wichtig, dass die eigenen Grenzen benannt werden. Das Kind darf und soll lernen, dass bestimmte Ausdrucksformen sozial nicht verträglich sind. Diese Grenze zu setzen, ist wichtig für den Elternteil selbst, damit du dich ausreichend geschützt und psychisch nicht angegriffen fühlst, aber auch wichtig für dein Kind, denn es darf und sollte lernen, wie innerhalb seiner sozialen Gruppe kommuniziert wird, damit es gute Beziehungen aufbauen kann – zu dir als Elternteil, aber auch zu anderen Menschen.

… und auch das Verstehen der Bedeutung hinter den Worten

Gleichzeitig ist es aber auch wichtig, in den Blick zu nehmen, was dein Kind da eigentlich ausdrücken möchte. Dass es so unfreundlich wird, ist in der Regel kein Angriff, sondern ein noch ungeschickter Versuch, ein Bedürfnis mitzuteilen. Wenn wir harsch auf die Art, aber nicht auf den eigentlichen Anlass reagieren, führt das zu einem Konflikt: Wir reden/streiten eigentlich aneinander vorbei und das Kind fühlt sich von uns nicht verstanden und lernt auch nicht, eigene Wünsche und Bedürfnisse anders auszudrücken. Hilfreicher ist es deswegen, einen Moment innezuhalten und zu überlegen, was das eigentliche Problem hinter diesem Verhalten sein könnte. Diesen Moment der Selbstberuhigung und Überlegung können wir uns durchaus gönnen, wenn das Kind gerade etwas gesagt hat, das wir als unfreundlich empfinden.

„Das Kind wird nicht gleich zum Tyrannen, bloß weil wir erst mal tief durchatmen. […] Wenn wir uns nicht gezwungen sehen, sofort zu handeln, wird das Kind nicht sofort in eine Gegenwehr gehen müssen. Wir dürfen uns erlauben, uns Zeit zu nehmen! Und dann im nächsten Moment bewusst und überlegt zu reagieren. „

S. Mierau „Frei und unverbogen“, S. 178f.

Wir können sowohl eine Grenze ziehen, als auch auf das Kind reagieren. Die Grenze, die wir ziehen, ist einerseits eine Grenze für uns selbst, aber auch eine Hilfe zur Ausbildung sozialer Fähigkeiten für das Kind. „Das war ziemlich unfreundlich ausgedrückt und verletzt mich. Ich sehe, dass du gerade viel Spaß hast beim Spielen und das Geschirr nicht in die Küche bringen möchtest. Das kannst du mir so sagen, wenn das der Grund ist, warum du nicht helfen möchtest. Dann bring es bitte, wenn du fertig bist.“, „Ich höre, dass du zum Schulfest deines Bruders wirklich nicht mitmöchtest. Lass uns darüber reden, was du stattdessen machen möchtest oder warum du dort nicht hin möchtest. Ich denke, es hat ihn verletzt, dass du das so gesagt hast und es würde ihm gut tun, wenn wir ihm das genauer erklären könnten.“, „Ich möchte nicht, dass du so mit mir redest, weil mich das verletzt. Aber du kannst mir gerne sagen, was dich gerade an meinem Verhalten stört. So finden wir bestimmt eine Lösung.“

Unsere Aufgabe als Eltern ist es, den Konflikt durch die eigene Wut, die vielleicht aufsteigt, nicht weiter eskalieren zu lassen, sondern zu einer Lösung beizutragen. Nicht immer reagiert das Kind sofort versöhnlich auf unser Angebot zum Gespräch. Aber auch dann ist es sinnvoll, eher eine Beruhigung zu erwirken, als den Streit weiter aufzuladen. Wenn das Kind auf das Gesprächsangebot nicht eingeht, können wir abwarten, ob sich das Kind doch noch öffnen will oder das Gespräch vertagen. Zuvor haben wir benannt, was wir nicht wünschen und formuliert, dass es gut ist, über das eigentliche Problem zu sprechen. So haben wir dem Gespräch bereits eine andere Wendung gegeben, als wenn wir der Fehlinterpretation nachgegangen wären.

Eure

Zur Autorin:
Susanne Mierau ist Diplom-Pädagogin (Schwerpunkt Kleinkindpädagogik) und Familienbegleiterin. Sie arbeitete an der FU Berlin in Forschung und Lehre, bevor sie sich 2011 im Bereich bedürfnisorientierte Elternberatung selbständig machte. Ihr 2012 gegründetes Blog geborgen-wachsen.de und ihre Social Media Kanäle sind wichtige und viel genutzte freie Informationsportale für bedürfnisorientierte Elternschaft und tragen seit über 10 Jahren maßgeblich zur Verbreitung bedürfnisorientierter Erziehung bei. Susanne Mierau gibt Workshops für Eltern und Fachpersonal und spricht auf Konferenzen und Tagungen über kindliche Entwicklung, Elternschaft und Familienrollen.

Foto: Ronja Jung für geborgen-wachsen.de

Kinder in (körperlicher) Selbstbestimmung stärken

Wenn wir uns in Kinderbuchhandlungen umsehen, sind die Regale gefüllt mit Büchern zum Thema Selbstbestimmung über den eigenen Körper. Sie erklären, dass Kinder „nein“ sagen können und dürfen, dass ihr Körper ihnen selbst gehört. Es ist gut, solche Kinderbücher als Anlass zu nehmen, um mit Kindern über Selbstbestimmung und körperliche Grenzen zu sprechen. Zu denken, dass nur ein oder mehrere solcher Bücher ausreichen, damit das Kind für sich und die eigenen Grenzen einstehen kann, ist allerdings eine Fehlannahme: Kinder lernen die Selbstbestimmung über ihren Körper vor allem über den Alltag und die vielen kleinen Momente, in denen wir ihnen zeigen, dass sie eine Stimme haben, die respektiert wird.

Was sich Eltern eigentlich wünschen

Für unsere Kinder wünschen wir uns, dass sie im Laufe ihres Lebens formulieren können, wenn sie etwas nicht wollen. Dass sie gute und selbstbestimmte Entscheidungen treffen in Bezug auf ihr gesamtes Leben, aber auch ihren Körper. Dass sei sich nicht von anderen gedrängt fühlen, sich nicht drängen lassen oder eine beständigen Unsicherheit in sich tragen, ob sie so, wie sie sind, in Ordnung sind und sein dürfen. Wir wollen, dass sie überzeugt „Nein“, „Lass das“ oder „Ich mag das anders.“ Diese Art der Selbstbestimmung kann ihnen in vielerlei Hinsicht im Leben eine Stütze sein und ist gerade auch in Bezug auf Erwartungen und Rollenbilder bei Mädchen und Frauen in Hinblick auf ihr Körperbild und Verhalten bedeutsam.

Stärkungssätze allein helfen nicht

Doch es reicht nicht, Kindern zu sagen „Du hast eine Stimme!“ oder „Du sollst ‚Nein‘ sagen, wenn Du etwas nicht magst!“. Sie müssen das Wissen darum, dass sie über sich selbst bestimmen können und ihre (körperliche) Integrität gewahrt wird, wirklich verinnerlichen dadurch, wie Eltern und andere Bezugspersonen mit ihnen umgehen und sie auch vor Außenstehenden, die ihre Grenzen überschreiten wollen, in Schutz nehmen.

In Bezug auf die Selbstbestimmung des Kindes benötigen wir auch hier wieder ein anderes Framing: Das »Nein« eines Kindes ist ein Entwicklungsschritt, der nicht mehr aus der Perspektive des Trotzes betrachtet werden sollte, sondern als bedeutender Meilenstein seiner Entwicklung. Das kindliche »Nein« ist ein Baustein auf dem Weg der Selbstbestimmung. Mit einem Nein grenzen wir uns ab, grenzen Gefühle, Wahrnehmungen und Wünsche ab. Erst durch das Nein haben wir auch einen freien Zugang dazu, Ja zu sagen, und auch dieses ist in Bezug auf die Selbstbestimmung wichtig: Wir müssen wissen, was wir wirklich wollen, was gut für uns ist. Dieses Ja zu uns selbst wird im Laufe der Zeit und gerade in Bezug auf die sexuelle Entwicklung im Jugendalter besonders wichtig. »Ja,
das mag ich!«, »Ja, das möchte ich (mit dir) ausprobieren« oder eben »Nein, das gefällt mir nicht«. Wenn wir schon als Kinder erfahren haben, dass wir die Kompetenz besitzen, unsere Bedürfnisse wahrzunehmen, auszudrücken und sie benennen zu können, können wir diese Sicherheit mitnehmen in unsere späteren Beziehungen.

Susanne Mierau: New Moms for Rebel Girls

Ein Bewusstsein schaffen für die eigene Wahrnehmung

Das, was wir unseren Kindern daher wirklich vermitteln müssen, sind nicht bestimmte Worte oder Sätze in bestimmten Situationen, sondern das Gefühl, dass ihre eigene Wahrnehmung richtig ist und sie darauf vertrauen dürfen. Sie dürfen erfahren, dass wir ihre Empfindungen nicht abwerten oder ihnen erklären, dass ihre Empfindungen nicht richtig sind. Genau dieses findet aber an vielen Stellen im Alltag statt, wenn wir ihnen erklären, dass es aber doch warm oder kalt ist und sie deswegen etwas anderes anziehen sollen, als sie wollen. Wenn wir ihnen sagen, dass das schon nicht so schlimm sei, dieses oder jenes zu machen, obwohl sie gerade gesagt haben, dass ihnen das unangenehm ist oder sie ängstigt.

Das bedeutet nicht, dass wir solche Situationen immer einfach „nur“ hinnehmen. Wir können, wenn sie beispielsweise ein Kleidungsstück anziehen wollen, das unserer Meinung nach nicht zum Wetter passt, sagen, dass sich das für sie so anfühlt und wir noch eine Jacke/T-Shirt mitnehmen, falls sie ihre Meinung ändern. Wir können annehmen, dass sie sich gerade ängstigen in einer Situation und nicht einfordern, dass sie sich zusammenreißen, sondern fragen, was sie brauchen, damit es ihnen besser geht.

Auch vor Außenstehenden für sie eintreten

Gerade anderen Personen gegenüber erscheint es vielen Eltern schwer, sich für die Selbstbestimmung des Kindes einzusetzen: Das Kind will dem anderen Familienmitglied keinen Kuss oder keine Umarmung schenken. Das Kind will nicht bei der anderen Familie übernachten. Das Kind lacht nicht über den Scherz eines Familienmitglieds. In diesen Momenten ist es ebenso wichtig, dass die Wahrnehmung des Kindes gestärkt wird: „Du möchtest nicht…“, „Du findest…“ und dann der anderen Person zu erklären, dass das Kind ein Recht auf Selbstbestimmung hat und dieses hier überwiegt vor dem Wunsch einer anderen Person.

Besonders bedeutsam ist schließlich zum Schutz des Kindes, dass andere Menschen lernen, die Grenzen nicht zu übertreten, gerade nicht von Schwächeren. Unsere Kinder (und wir Eltern) können nicht die gesamte Verantwortung dafür, dass Kinder für ihre Grenzen eintreten, allein übernehmen. Vor allem kommt es darauf an, dass Menschen in einer machtvolleren Position die Grenzen anderer nicht überschreiten.

Eure

Zur Autorin:
Susanne Mierau ist Diplom-Pädagogin (Schwerpunkt Kleinkindpädagogik) und Familienbegleiterin. Sie arbeitete an der FU Berlin in Forschung und Lehre, bevor sie sich 2011 im Bereich bedürfnisorientierte Elternberatung selbständig machte. Ihr 2012 gegründetes Blog geborgen-wachsen.de und ihre Social Media Kanäle sind wichtige und viel genutzte freie Informationsportale für bedürfnisorientierte Elternschaft und tragen seit über 10 Jahren maßgeblich zur Verbreitung bedürfnisorientierter Erziehung bei. Susanne Mierau gibt Workshops für Eltern und Fachpersonal und spricht auf Konferenzen und Tagungen über kindliche Entwicklung, Elternschaft und Familienrollen.

Foto: Ronja Jung für geborgen-wachsen.de

Selbstwirksamkeit fördern durch einen guten Umgang mit Frustration

Viele Erwachsene kennen die Aussage der Kinderbuchheldin Pippi Langstrumpf „Das hab ich ja noch nie gemacht. Ich glaub ich schaffe das !“ Eine Aussage, die Erwachsene lächeln lässt und sicherlich auch zugespitzt ist, aber dennoch für die Begleitung von Kindern einen wichtigen Impuls enthält: Kinder dürfen erfahren, dass sie in dieser Welt selbst wirksam sein können und sich auf Basis dieses verinnerlichten Wissens an Herausforderungen herantrauen. Der Weg dorthin geht aber wesentlich auch durch einen guten Umgang mit Frustration.

Was lernt ein Kind, wenn wir es Hindernisse überwinden lassen? Es lernt, dass es Hindernisse überwinden kann. Selbstwirksamkeit ist eine der wesentliche Eigenschaften, die ein Kind wirklich braucht. Es muss wissen, dass es ein Ziel, das es sich steckt, auch erreichen kann. Es lernt, über welche Wege es an sein Ziel kommen kann, und vertraut auf sich und seine Fähigkeiten. Die Einschätzung der Situation ermöglicht es ihm, seine Chancen abzuklären und sich richtig auf das Vorankommen vorzubereiten: Es weiß, was es kann und bei welchen Dingen es Hilfe braucht.

Susanne Mierau: Geborgene Kindheit

Lernen beinhaltet auch Frustration, die begleitet werden will

Kinder lernen nach und nach sich selbst und die sie umgebende Welt kennen. Sie eignen sich das Wissen über sich selbst, ihr Können und die Umwelt an. Einige Lernerfahrungen bekommen wir gar nicht als solche mit, bei anderen spüren wie die Anstrengung des Kindes. Lernt es beispielsweise Laufen, fällt es auch hin. Es läuft nicht sofort viele Meter weit, sondern baut das Können aus. Dabei muss es immer wieder auch Frustration überwinden.

Viele Eltern denken, dass das Lernen eine steigende Gerade wäre, dabei gehört zum Lernen auch Frustration, die ausgehalten und begleitet werden muss. Wenn eine Fähigkeit nicht sofort gelingt, bedeutet das nicht, dass das Kind das generell nicht kann, sondern dass es sich damit auseinandersetzt. Es ist wichtig, dies Kindern auch immer wieder zu erklären: Lernen bedeutet nicht, dass du es sofort kannst. Lernen bedeutet, dass du eine Antwort noch nicht weißt, dass du etwas noch nicht kannst, aber auf dem Weg bist.

Das Mindset der Eltern überträgt sich auf die Motivation des Kindes: Wenn wir selbst nur von Resultaten überzeugt sind, wenn uns nur das Ergebnis interessiert, drücken wir das oft auch so aus und unterstützen nicht den Weg des Kindes dorthin, sondern nur das Ziel. Dabei ist es für das Kind wichtig, dass es gerade in der Herausforderung Halt bekommt und nicht erst am erlangten Ziel Lob. Anstatt also den Fokus auf das Ergebnis zu richten, können Eltern den Prozess in den Blick nehmen, das Kind ermutigen, bestärken und eben auch immer wieder versprachlichen, dass Dinge Zeit brauchen und manchmal viel Energie benötigen. Auch das Vorbildverhalten gelangt hier in den Blick: Wir können auch bei unserem eigenen Tun versprachlichen, dass das gerade ganz schön anstrengend ist und wie wir mit unserer eigenen, alltäglichen Frustration gut umgehen. So wird Frustration Teil des Prozesses anstatt als Scheitern erlebt zu werden.

Der Umgang mit großen Gefühlen

Auf dem Weg des Lernens gilt es also, mit Frustration umzugehen. Hier benötigen Kinder – wie generell beim Umgang mit ihren Gefühlen – Unterstützung und Co-Regulation. Kinder müssen erfahren, dass Frustration und Wut sein dürfen und wie sie damit umgehen können. So verstehen sie, dass diese Gefühle nicht negativ sind und sein dürfen – auch innerhalb des Lernprozesses. Es ist gut, die Gefühle des Kindes zu verbalisieren, sie anzunehmen und ihnen dann zu helfen, damit umzugehen, zum Beispiel indem wir sagen: „Oh, das ist ganz schön schwierig, das macht dich wütend, dass das jetzt noch nicht klappt. Komm wir nehmen uns eine kleine Pause und du machst später weiter. Es ist normal, dass Sachen nicht sofort klappen. So funktioniert lernen.“

Freiheit zum Erkunden

Ein angemessener Umgang mit Frustration sollte eingebettet werden in die generelle Haltung, dass das Kind sich aktiv mit sich selbst und seiner Umgebung vertraut machen darf. Das Kind lernt die Welt kennen, indem es sich darin bewegt und mit ihr interagiert. Es darf erfahren, dass es die Umwelt durch das eigene Handeln verändern kann. Es fühlt sich kompetent durch die Erfahrung, die Welt beeinflussen zu können und kann aus dieser Erfahrung zuversichtlich auf neue Herausforderungen zugehen. Die Herausforderungen, die das Kind angeht, sollten dabei in der Komplexität und Schwierigkeit dem aktuellen Entwicklungsstand angemessen sein: nicht zu leicht, nicht zu schwer, sondern gerade so, dass sie tatsächlich zu bewältigen sind mit etwas Anstrengung. Durch das Erlernen eines guten Umgangs mit Frustration kann so auch eine herausfordernde Tätigkeit umgesetzt werden.

Eure

Zur Autorin:
Susanne Mierau ist Diplom-Pädagogin (Schwerpunkt Kleinkindpädagogik) und Familienbegleiterin. Sie arbeitete an der FU Berlin in Forschung und Lehre, bevor sie sich 2011 im Bereich bedürfnisorientierte Elternberatung selbständig machte. Ihr 2012 gegründetes Blog geborgen-wachsen.de und ihre Social Media Kanäle sind wichtige und viel genutzte freie Informationsportale für bedürfnisorientierte Elternschaft und tragen seit über 10 Jahren maßgeblich zur Verbreitung bedürfnisorientierter Erziehung bei. Susanne Mierau gibt Workshops für Eltern und Fachpersonal und spricht auf Konferenzen und Tagungen über kindliche Entwicklung, Elternschaft und Familienrollen.

Foto: Ronja Jung für geborgen-wachsen.de

Emotionally overtouched – Wenn es zu viel wird mit den Gefühlen

Viele Eltern kennen das Gefühl, wenn sie durch Körperkontakt und Nähe überreizt sind: Zu viel an Körperkontakt, gerade in der Zeit mit Baby oder Kleinkind, wenn das Kind quasi auf oder am Körper der Bezugsperson wohnt, weil es jetzt gerade oder generell besonders viel Nähe braucht. Die eigene körperliche Grenze scheint nicht eingehalten werden zu können und jede weitere Berührung, auch durch andere Erwachsene, wird zu viel. Wir sehnen uns nach Zeit für uns allein ohne körperliche Überstimulation. Doch nicht nur unser Körper kann überreizt sein, auch unsere Gefühlswelt.

Das Begleiten von Kindern benötigt Kraft: auf körperlicher Ebene für all die vielen Handgriffe, das Hochheben und Absetzen, das Tragen im Tuch, das Wickeln, das Füttern und insbesondere Stillen. Auch für die emotionale Begleitung von Kindern benötigen wir Kraft: für das Wahrnehmen, Verstehen und Begleiten von Gefühlen. Wir brauchen Kraft, um die noch unmittelbar und oft auch körperlich oder stimmlich ausgedrückten Gefühle auszuhalten, zu regulieren und dabei auch unsere eigenen aufsteigenden Emotionen im Zaum zu halten. Gerade um mit Ärger/Wut/Enttäuschung von Kindern umgehen zu können, muss es uns selbst gut genug gehen.

In kaum einem der vielen Bücher über den richtigen Umgang mit elterlicher Wut und dem Vermeiden von körperlicher und psychischer Gewalt ist der so bedeutende wie einfache Hinweis zu finden, dass wir für unsere eigene emotionale Ausgeglichenheit eben nicht nur beständig uns selbst reflektieren und mehr an uns arbeiten müssen, sondern dass wir nicht minder bedeutend vor allem auch Schlaf und Entspannung brauchen, damit wir gelassen mit all den Herausforderungen des Begleitens von Kindern umgehen können. In einer Studie aus dem Jahr 2006 wurde die emotionale Wirkung bestimmter Reize auf das ausgeschlafene und unausgeschlafene Gehirn untersucht. Es zeigt sich, dass genau dieselben Reize im Mandelkern des Gehirns, dem Zentrum für die Entstehung von Gefühlen, eine ganz unterschiedliche Wirkung hervorrufen, je nach Ausgeschlafenheit der Person: Starke Gefühle wie Zorn, Wut, Kampf-oder-Flucht wurden bei den Personen mit Schlafmangel um über 60 Prozent verstärkt, während die ausgeschlafenen Personen kontrollierter und gemäßigter reagierten. Vielleicht kommt es in Bezug auf das gewaltfreie Begleiten von Kindern also viel mehr darauf an, dass wir ausgeschlafen sein können, als uns bisher bewusst war.

Susanne Mierau (2024): Das Schlafbuch für die ganze Familie, S.65

„Das empathische Geschlecht“ – von Anfang an zuständig für Emotionen

Gerade weiblich sozialisierte Menschen erfahren schon in der Kindheit, dass sie in besonderer Weise für die Emotionen anderer zuständig sein sollen: „das empathische Geschlecht“, „du musst verstehen…“, „nun stell dich mal nicht so an…“, „tröste mal und sei nicht zickig“. Die emotionale Zuständigkeit für das Wohlergehen anderer wird schon früh auf die Schultern gelegt und bleibt dort über die weiteren Jahre liegen, wenn schon in der Schule mehr Empathie erwartet wird, aber auch später im Job, man im Büro zuständig dafür ist, dass die anderen ihre Problem loswerden können oder man auf andere Weise dafür sorgt, dass es einen emotional gutes Klima bei der Arbeit gibt, beispielsweise dadurch, dass man für die Geburtstagsgeschenke zuständig ist, selbstgebackene Kekse und Kuchen mitbringt etc. Emotionen, das ist Frauensache – gilt noch immer an vielen Stellen.

Wer Sorgearbeit leistet, kümmert sich viel um Emotionen

Zu all diesen vielen ohnehin bestehenden Emotionsaufgaben in Job und Partnerschaft kommen dann im Falle der Elternschaft auch noch die Emotionen der Kinder. Wer mehr Care-Arbeit vollbringt, ist auch mehr mit den Emotionen der anderen Menschen beschäftigt. Eltern tragen nicht nur „Mental Load“, sondern auch „Emotional Load“. Gerade bei viel weinenden Babys sind begleitende Eltern besonders gefordert, aber auch in der Begleitung neurodiverser Kinder und/oder in der Kleinkindzeit, in der alle Empfindungen noch so unmittelbar und direkt mitgeteilt werden und es notwendig ist, dass Kinder durch ihre nahen Bezugspersonen erfahren, wie Gefühle benannt und ausgedrückt werden können, sind Eltern – und besonders die häufiger zuständigen Mütter – sehr gefordert. Neben der Co-Regulation des Kindes ist manchmal auch noch die Selbstregulation notwendig – gerade dann, wenn man selbst nicht lernen konnte, gesund mit den eigenen Gefühlen umzugehen und nun wütend wird, weil das Kind wütend ist.

Wenn zu wenig Kraft dazu führt, dass wir kindlichen Gefühlen aus dem Weg gehen

So, wie es ein Zuviel an Körperkontakt geben kann, können wir auch erschöpft sein von der Zuständigkeit für Emotionen. Gerade dann, wenn wir zu wenig Zeit haben, um unsere Kräfte aufzufüllen oder die Rahmenbedingungen für Familienleben uns keine Möglichkeiten lassen, uns auch gut um uns selbst zu kümmern, wird das Begleiten der Emotionen von Kindern manchmal zur Herausforderung. Schnell ist man verleitet, den kindlichen Emotionen aus dem Weg zu gehen: lieber nachgeben, lieber mehr Medien, als jetzt noch ein Wutanfall, lieber ein zweites Eis als Diskussionen… Was gelegentlich kein Problem ist, kann aber auf Dauer nachteilig werden, wenn Eltern aus Erschöpfung immer mehr versuchen, Diskussionen, Gefühlsausbrüchen und einem klaren Nein aus dem Weg zu gehen. Auch wenn es anstrengend ist, brauchen Kinder die Gefühlsbegleitung und müssen lernen, wie sie mit ihren Gefühlen gut und sozial umgehen können. Dies lernen sie, weil es eben auch Reibungspunkte im Alltag gibt, anhand derer Eltern aufzeigen können, wie mit Wut, Trauer, Ekel etc. umgegangen werden kann.

Emotionale Überlastung ernst nehmen

Dass wir durch all die Zuständigkeit für Gefühle (gleichzeitig mit vielen anderen Aufgaben parallel) überlastet sind, ist also nachvollziehbar. Gleichzeitig brauchen Kinder aber emotionale Begleitung und ein dauerhaftes Aus-dem-Weg-Gehen ist nicht zielführend. Wenn wir merken, dass wir dauerhaft „emotional overtouched“ sind (oder es uns aus anderen Gründen schwer fällt, Emotionen von Kindern zu begleiten), brauchen wir also Hilfe: Zeit, um zur Kraft zu kommen, ausreichend Schlaf und vor allem: langfristig nicht allein für zu viele Emotionen zuständig sein zu müssen.

Eure

Zur Autorin:
Susanne Mierau ist Diplom-Pädagogin (Schwerpunkt Kleinkindpädagogik) und Familienbegleiterin. Sie arbeitete an der FU Berlin in Forschung und Lehre, bevor sie sich 2011 im Bereich bedürfnisorientierte Elternberatung selbständig machte. Ihr 2012 gegründetes Blog geborgen-wachsen.de und ihre Social Media Kanäle sind wichtige und viel genutzte freie Informationsportale für bedürfnisorientierte Elternschaft und tragen seit über 10 Jahren maßgeblich zur Verbreitung bedürfnisorientierter Erziehung bei. Susanne Mierau gibt Workshops für Eltern und Fachpersonal und spricht auf Konferenzen und Tagungen über kindliche Entwicklung, Elternschaft und Familienrollen.

Foto: Ronja Jung für geborgen-wachsen.de

Wie lange darf mein Kind im Elternbett schlafen?

Die Frage danach, wie lange denn nun ein Kind im Elternbett schlafen dürfe, bewegt Eltern von der Baby- bis in die Grundschulzeit: Muss es jetzt nicht langsam ausziehen? Wie lange ist ausreichend lang, wie lang ist zu lang? Und was, wenn das Kleinkind- oder Grundschulkind noch immer nachts ins Bett der Eltern kommt? Wie viele andere Fragen des Familienlebens gibt es auch auf diese Frage keine so richtig abschließende und pauschale Antwort, die zu allen passt. Aber es gibt eine Antwort, die ziemlich gut auf verschiedenste Modelle zutrifft: Solange es für alle Beteiligten angenehm ist und das Kind nicht erwachsene Nähebedürfnisse erfüllen muss.

Solange es für alle passt…

Vielleicht kennst du die WHO Empfehlung zur Stillzeit, in der es heißt, dass das Stillen fortgeführt werden kann, solange es für Stillende und Kind in Ordnung ist. – Ganz ähnlich können wir es auch in Bezug auf das Schlafen handhaben: Dass Menschen eine Tendenz dazu haben, beeinander schlafen zu wollen, ist weit verbreitet und ziemlich normal, schließlich sind wir gut geschützt, wenn wir in Gruppen schlafen, weil wir uns gegenseitig wärmen können und aufeinander achten. Während es bei erwachsenen Paaren sogar als Selbstverständlichkeit betrachtet wird, dass sie das Bett teilen und ein getrenntes Schlafen kritisch beäugt wird (obwohl auch Paare individuelle Schlafentscheidungen treffen sollten und es keinesfalls einen Zwang zum geteilten Bett geben sollte), wird der Schlaf von Kindern im Eltern- oder Familienbett recht häufig schon in jungen Jahren kritisiert. Dabei wünschen sich gerade Kinder die Schutzfunktion der Nähe im Elternbett.

Der Aspekt, dass sich alle mit dem gemeinsamen Schlaf wohl fühlen sollten, ist auf emotionaler Ebener bedeutsam („Fühlt es sich wirklich angenehm an für uns alle?“), aber auch auf konkret räumlicher Ebene („Haben wir alle genug Platz?“). Denn tatsächlich sollte es nicht nur darum gehen, dass der Schlaf im Elternbett gemütlich ist für das Kind, sondern auch die Erwachsenen sollten ausreichend Platz haben und es sich gemütlich machen können. Im Elternbett, das vielleicht nur auf ein bis zwei Personen ausgelegt ist, ist das nicht immer der Fall: Für Babys kann zu wenig Platz im gemeinsam geteilten Bett gefährlich werden, wenn beispielsweise Atemwege verdeckt werden können, für größere Kinder und ihre Eltern kann zu wenig Platz bedeuten, dass man sich nachts aufweckt, weil wieder ein Arm oder Fuß einer anderen Person im Gesicht gelandet ist. Wir müssen es uns also auch vom Platz her passend machen – und das bedeutet, dass oft eher ein Familienbett eine gute Wahl ist, statt eines Elternbetts für alle.

… und sich alle wohl fühlen

Neben dem tatsächlichen Raum ist auch der emotionale Raum bedeutsam: Ist es für alle beteiligten Erwachsenen okay, wenn das Kind mit im Bett schläft? Was, wenn nur eine erwachsene Person das gut findet? Hier muss dann genauer hingesehen werden: Wenn beispielsweise ein Elternteil wünscht, dass das Kind aus dem gemeinsamen Bett auszieht, gleichzeitig aber die Verantwortung für diesen Übergang und das nächtliche Kümmern auf den anderen Elternteil schiebt, wäre das eine unfaire Verteilung zu Lasten von Kind und einem Elternteil.

Wichtig ist auch, zu beachten, wie es dem Kind wirklich geht: Braucht es noch Nähe und Zuwendung? Wenn es nicht mehr im Elternbett schlafen darf, wie kann es den eigenen Schlafort als sicher und schön erfahren? Welche Begleitung und welche Übergänge braucht es vielleicht, um sich dort richtig wohl zu fühlen? Bei älteren Kindern dürfen die Erwachsenen auch in den Blick nehmen, ob das Kind wirklich noch die nächtliche Nähe braucht, oder eher die Erwachsenen die Nähe mehr genießen als das Kind – und wenn dem so ist, woran das liegen könnte. Manchmal lohnt es sich, auch die eigenen Bedürfnisse noch einmal in den Blick zu nehmen, sowie die eigene Schlafgeschichte und Einstellung zum Schlaf: Fühle ich mich abends wohl und geborgen in meinem Bett und kann sicher vom Tag loslassen?

Prinzipiell gibt es kein konkretes Alter, an dem Kinder aus dem Eltern- und Familienbett ausgezogen sein müssen. Wie wir schlafen, ist auch eine kulturelle, lokale und ökonomische Frage und sollte weniger von Glaubenssätzen geleitet sein, als von einem achtsamen Blick auf die Bedürfnisse aller.

Eure

Zur Autorin:
Susanne Mierau ist Diplom-Pädagogin (Schwerpunkt Kleinkindpädagogik) und Familienbegleiterin. Sie arbeitete an der FU Berlin in Forschung und Lehre, bevor sie sich 2011 im Bereich bedürfnisorientierte Elternberatung selbständig machte. Ihr 2012 gegründetes Blog geborgen-wachsen.de und ihre Social Media Kanäle sind wichtige und viel genutzte freie Informationsportale für bedürfnisorientierte Elternschaft und tragen seit über 10 Jahren maßgeblich zur Verbreitung bedürfnisorientierter Erziehung bei. Susanne Mierau gibt Workshops für Eltern und Fachpersonal und spricht auf Konferenzen und Tagungen über kindliche Entwicklung, Elternschaft und Familienrollen.

Foto: Ronja Jung für geborgen-wachsen.de

Auf keinen Fall nachgeben!

„Du musst konsequent sein!“, „Konsequenz hilft deinem Kind, die Welt zu verstehen!“, „Dein Kind wird nie Regeln verstehen, wenn du dich nicht selbst an sie hältst!“ – Diese und andere Richtlinien hören Eltern immer wieder. Und es steckt auch ein wichtiger Punkt darin: Durchaus ist es für Kinder wichtig, wenn wir vorhersagbar handeln und damit eine Orientierung in diesem noch recht neuen Leben geben. Gleichzeitig sollte dies aber auch nicht zu dogmatisch betrachtet werden, denn Elternschaft bedeutet auch, flexibel sein zu müssen.

Der Leuchtturm sein

Kinder brauchen Bezugspersonen, die ihnen einen sicheren Zugang zur Welt ermöglichen. Innerhalb eines sicheren Rahmens können sie sich selbst, die dingliche und soziale Welt erkunden. Wenn sie an die Grenzen eines dieser Bereiche stoßen, erklären Bezugspersonen, warum und wie die Grenzen eingehalten werden können und gehen als Beispiel voran. So können Kinder aktiv nach und nach all die Bereiche der sie umgebenden Umwelt kennenlernen und verstehen, wie diese funktioniert. Da Menschen sehr anpassungsfähig an die sie jeweils umgebende Umwelt zur Welt kommen, ist es wichtig, dass sie über ihre Bezugspersonen lernen, wie genau die Welt, die sie umgibt, funktioniert. Genau hier hilft auch ein sinnvoller Grad an Bestimmtheit: Diese Regeln und Werte gelten immer, das sollte auf keinen Fall getan werden etc. Gerade in Bezug auf gefährliche Dinge und Situationen, die das Kind selbst noch nicht überblicken kann, ist es wichtig, verlässlich und ausdauernd die Grenzen aufzuzeigen.

Kinder können und müssen Ausnahmen lernen

Gleichzeitig gibt es aber in einigen Situationen auch Ausnahmen von festgelegten Regeln: Manchmal darf man etwas tun, manchmal nicht. Bei einigen Personen zu Hause sind jene Regeln zu befolgen, bei anderen andere. Auch das ist etwas, was Kinder nicht nur lernen können, sondern auch sollen: Regeln flexibel anzuwenden, die Grenzen von Regeln zu kennen und auch situativ zu erfassen, wo welche Regel angemessen ist. Dass beispielsweise bei den Großeltern zu Hause andere Tischregeln herrschen als zu Hause oder auch, dass man sich an unterschiedlichen Orten unterschiedlich kleidet, dass man verschiedene Menschen unterschiedlich begrüßen kann etc. Auch der Umstand, dass manche Regeln von den aktuellen Möglichkeiten einzelner Menschen abhängen, ist wichtig zu lernen: Heute bin ich zu erschöpft, um noch wie sonst mit dir auf den Spielplatz zu gehen. Gleichzeitig kann das auch bedeuten, dass wir Regeln ins Positive aufweichen, weil wir uns anpassen müssen: Eigentlich gibt es nicht zwei Kugeln Eis, aber heute machen wir eine Ausnahme, weil…

Während Eltern oft geneigt sind, das erste Beispiel (ich bin zu erschöpft heute…) als Regeländerung anzunehmen, fürchten sie beim Nachgeben in Kinderrichtung, dass die Inkonsequenz pädagogische Probleme nach sich ziehen könnte. Doch dieses Nachgeben kann bedenkenlos in beide Richtungen erfolgen, so dass das Kind lernt: Es gibt eine Regel, aber es gibt auch Faktoren, die sie beeinflussen können. Und diese Einflussfaktoren sind manchmal feststehend (immer wenn x, weichen wir von y ab), manchmal stehen sie auch zur Diskussion.

Flexibilität über die Zeit

Abweichung ist aber nicht nur in einigen Situationen notwendig und möglich, sondern in vielen Punkten auch über die vielen Jahre der Kindheit notwendig. Schließlich wachsen die kindlichen Fähigkeiten und jene Regeln, die im Alter von drei Jahren galten, müssen für ein fünfjähriges Kind nicht immer noch richtig sein. Elternschaft setzt voraus, dass wir uns flexibel an die Entwicklung des Kindes anpassen. Das bedeutet, dass wir immer wieder bereit sein sollten, zu überprüfen, ob eine Regel noch stimmig ist oder verändert werden sollte. Manchmal bedeutet das, Grenzen enger zu setzen, manchmal – gerade im Laufe der Zeit – zu weiten.

„Auf keinen Fall nachgeben!“ ist also ein Spruch, der ausgedient haben sollte in der Erziehung. Vielmehr sollten wir in uns den Gedanken verankern: „Flexibilität vor Dogma“.

Eure

Zur Autorin:
Susanne Mierau ist Diplom-Pädagogin (Schwerpunkt Kleinkindpädagogik) und Familienbegleiterin. Sie arbeitete an der FU Berlin in Forschung und Lehre, bevor sie sich 2011 im Bereich bedürfnisorientierte Elternberatung selbständig machte. Ihr 2012 gegründetes Blog geborgen-wachsen.de und ihre Social Media Kanäle sind wichtige und viel genutzte freie Informationsportale für bedürfnisorientierte Elternschaft und tragen seit über 10 Jahren maßgeblich zur Verbreitung bedürfnisorientierter Erziehung bei. Susanne Mierau gibt Workshops für Eltern und Fachpersonal und spricht auf Konferenzen und Tagungen über kindliche Entwicklung, Elternschaft und Familienrollen.

Foto: Ronja Jung für geborgen-wachsen.de

Der Gender-Sleep-Gap – Jede Mutter kann schlafen lernen

Babys, Kinder und Teenager schlafen anders als Erwachsene. Glücklicherweise hat sich in den vergangenen Jahren immer mehr das Wissen durchgesetzt, dass dieser andere Schlaf von jungen Menschen kein Fehler ist, sondern aus Sicht der Entwicklung durchaus sinnvoll. Gleichzeitig stellt sich aber noch immer die Frage: Wenn mein Kind richtig schläft, so wie es schläft, wie soll ich dann ausreichend Schlaf finden? Gerade dann, wenn das Baby oder Kleinkind nachts noch Nahrung benötigt oder Schwierigkeiten hat, nach dem (normalen) Aufwachen zwischen den Schlafphasen schnell wieder in den Schlaf zu finden? Bedeutet das nicht zwangsweise, dass Eltern anders schlafen müssen? Tatsächlich benötigen viele Kinder ihre Bezugspersonen nachts zur Regulation und Begleitung. Allerdings sprechen und denken wir in Bezug auf das nächtliche Begleiten eben nicht von Eltern, sondern von Müttern.

Die Schlaflücke – Wie groß der Gender-Sleep-Gap wirklich ist

Mütter begleiten insbesondere in den Schlaf und rund um den Schlaf – wie sie auch sonst mehr Care-Arbeit übernehmen. Laut einer Studie des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung ist der Schlaf von Eltern innerhalb der ersten sechs Jahre nach der Geburt des ersten Kindes in seiner Qualität und Dauer beeinträchtigt – Mütter schlafen hierzulande in den ersten drei Monaten nach der Geburt durchschnittlich eine Stunde weniger, Väter 15 Minuten weniger. Dieser Differenz im Umsorgen des Schlafes passt sich ein den bestehenden Gender-Care-Gap:

Die Sorgelücke betrug im Jahr 2019 (trotz allgemeiner Verringerung seit dem Jahr 1992) noch immer 52,4 Prozent: Frauen wenden täglich 52,4 Prozent mehr Zeit für unbezahlte Sorgearbeit als Männer auf. Hierbei muss aber noch einmal genauer nach Alter und Lebenssituation differenziert werden: In der Altersgruppe der 34jährigen beträgt der Gender-Care-Gap sogar 110,6 Prozent. Frauen dieser Altersgruppe verbringen pro Tag durchschnittlich 5 Stunden und 18 Minuten mit Care-Arbeit, während Männer 2 Stunden und 31 Minuten damit verbringen. Besonders viel Care-Arbeit fällt in Haushalten mit Kindern an. Hier verrichten Mütter 2 Stunden und 30 Minuten mehr Care-Arbeit als Väter.

Susanne Mierau „Füreinander sorgen“ (2023, S.59)

Sind Mütter bessere Versorgerinnen nachts?

Kinder brauchen nächtliche Fürsorge und sie muss von ihren nahen Bezugspersonen geleistet werden. Doch das nächtliche Umsorgen muss keinesfalls ausschließlich durch ein Elternteil erfolgen und ist nicht an ein Geschlecht gebunden.

Die israelische Psychologin und Hirnforscherin Ruth Feldman hat festgestellt, dass Mütter in der Regel mit einer geöffneten Amygdala schlafen (die Region im Gehirn, die u.a. für Gefühle verantwortlich ist und potenzielle Gefahren analysiert): Hierdurch sind sie für die Signale des Babys auch während des Schlafs zugänglich ist. Diese Aktivierung bleibt auch nach der Babyzeit bestehen. Väter hingegen können mit einem geschlossenen Mandelkern schlafen, weil sie wissen, dass die Mutter sich kümmern wird. Ist allerdings ein Vater eine Hauptbezugsperson, wird bei diesem der Mandelkern aktiviert. Es ist also – wie generell bei der Care-Arbeit – keine Frage des Geschlechts, sondern der Zuständigkeit und der Verantwortlichkeit. Das Umsorgen von Babys und Kindern wird gelernt und braucht aktives Tun.

Folgen des Schlafmangels für Mütter

Dass nun Mütter besonders für die nächtliche Care-Arbeit zuständig sind, bleibt nicht folgenlos. Wir haben bereits gesehen, dass die Zeitmenge des Schlafdefizits durchaus beträchtlich ist. In der Regel können wir kurzfristig mit weniger oder keinem Schlaf ohne große Schäden davonkommen und der in der Elternschaft erlebte Schlafmangel muss nicht zwangsweise zu Problemen führen, aber langfristig oder in Kombination mit vorher oder nachher (wenn sich Schlafstörungen durch diese Zeit und nächtliche Begleitung entwickeln) bestehenden Schlafstörungen kann er sich auf unser körperliches und psychisches Wohlergehen auswirken: das Immunsystem, unser Gehirn, psychische Erkrankungen und unsere Emotionen.

Schlafmangel macht uns launischer, gereizter und nervöser. Damit einher geht, dass sich unser Blick auf die Welt verändert, da sich Menschen mit Schlafstörungen besser an negative Erlebnisse erinnern als an positive. Gerade in der Elternschaft ist das eine sehr ungünstige Auswirkung von Schlafmangel, wenn sich der Blick auf das Erleben, aber auch auf das Kind, negativ eintrübt und nur noch die schlechten Seiten betrachtet werden und kein ressourcenorientierter, wohlwollender Blick mehr möglich ist. Hinzu kommt vielleicht noch das abendliche oder nächtliche Grübeln, wenn ein Ein- oder Durchschlafproblem vorliegt.

Susanne Mierau (2024): Das Schlafbuch für die ganze Familie, S.58

Gerade Menschen, die in der Verantwortung stehen, sich mit Feinfühligkeit um andere kümmern zu müssen, brauchen Schlaf, um Signale zu bemerken und angemessen darauf reagieren zu können, brauchen Kraft für die vielen Handgriffe des Tages und die Begleitung von Emotionen des Kindes und Regulation der eigenen.

Starke Gefühle wie Zorn, Wut, Kampf-oder-Flucht wurden bei den Personen mit Schlafmangel um über 60 Prozent verstärkt, während die ausgeschlafenen Personen kontrollierter und gemäßigter reagierten. Vielleicht kommt es in Bezug auf das gewaltfreie Begleiten von Kindern also viel mehr darauf an, dass wir ausgeschlafen sein können, als uns bisher bewusst war.

Susanne Mierau (2024): Das Schlafbuch für die ganze Familie, S.65

Doch nicht nur in Bezug auf die Begleitung der Kinder und das psychische und physische Wohlergehen ist der Schlafmangel der Mütter problematisch. Schließlich wird neben all dem Umsorgen, der täglichen und nächtlichen Care-Arbeit auch Leistung in der Erwerbsarbeit erwartet.

Frauen verdienen weniger, erhalten weniger Rente, kümmern sich mehr unbezahlt um andere. Dass sie all dies auch noch trotz Schlafmangels tun, dass sich dieser Schlafmangel auch noch negativ auf ihre Karrierechancen und Erwerbsarbeit auswirkt, wird nicht bedacht. Der Gender-Sleep-Gap ist hierzulande noch recht unbekannt. Dass wir uns müde weniger politisch engagieren können und damit weniger Kraft haben, um etwas an unserer Situation zu verändern, setzt all dem noch die Krone auf.

Susanne Mierau (2024): Das Schlafbuch für die ganze Familie, S.265

Wie kann jede Mutter schlafen lernen?

Wir brauchen also zweifellos politische Lösungen und gesamtgesellschaftliche Lösungen, um das Problem der schlaflosen Mütter anzugehen. Wir müssen darüber reden, wie es uns geht, warum wir müde sind und aufhören, diese Müdigkeit als Selbstverständlichkeit für Mütter hinzustellen. Nur weil es der Norm entspricht, ist es nicht richtig oder gesund.

Innerhalb von Familien brauchen wir mehr Schlafgerechtigkeit. Nicht nur die erwerbsarbeitende Person braucht ausreichend Schlaf, sondern auch carearbeitende brauchen Schlaf. „Du bist ja nur zu Hause, dann kannst du dich nachts ja um das Kind kümmern!“ sollte wirklich kein Argument sein, um einer Person den Schlafmangel zuzuschieben. Und ja: Es ist möglich, sich den Schlaf aufzuteilen und Care-Arbeiten umzuschichten, damit sich der nachts betreuende Elternteil wenigstens tagsüber mehr ausruhen kann. Gerade auch für Alleinerziehende braucht es mehr Unterstützung und Ressourcen, um Schlafmangel aufzufangen. Das wichtigste ist aber zuerst: Dass wir auch hier benennen, dass es einen ungerechten Unterschied gibt und dass dieser behoben werden muss.

Zur Autorin:
Susanne Mierau ist Diplom-Pädagogin (Schwerpunkt Kleinkindpädagogik) und Familienbegleiterin. Sie arbeitete an der FU Berlin in Forschung und Lehre, bevor sie sich 2011 im Bereich bedürfnisorientierte Elternberatung selbständig machte. Ihr 2012 gegründetes Blog geborgen-wachsen.de und ihre Social Media Kanäle sind wichtige und viel genutzte freie Informationsportale für bedürfnisorientierte Elternschaft und kindliche Entwicklung. Susanne Mierau gibt Workshops für Eltern und Fachpersonal und spricht auf Konferenzen und Tagungen über kindliche Entwicklung, Elternschaft und Familienrollen.

Foto: Ronja Jung für geborgen-wachsen.de