Monat: Juni 2022

Spüren der Wut vor dem Ausbruch – Konflikte in der Familie ruhiger begleiten

Die meisten Eltern kennen wohl jene Situation: Das Kind tut etwas, das von den Erwachsenen nicht gewünscht ist. Auch wenn wir uns im Alltag vornehmen, auf eine bestimmte Art auf Konflikte zu reagieren, klappt das nicht immer. Manchmal scheinen wir „aus dem Nichts“ dann doch zu stark zu reagieren und schreien und schimpfen. Wir entschuldigen uns, es tut uns danach leid und wir nehmen uns fest vor, es beim nächsten Mal anders zu machen. Doch manchmal geht es wieder und wieder in eine andere als die vorgenommene Richtung. Eine Hilfe, um aus diesem wiederkehrenden Verhalten aussteigen zu können, kann sein, sich nicht nur beständig auf andere Konfliktlösungen zu fokussieren, sondern die Selbstwahrnehmung zu stärken: Was passiert mit mir gerade? Wie steigt die Wut in mir hoch und wie finde ich den Punkt zum Absprung?

Selbstwahrnehmung ist nicht einfach

Viele Eltern haben in der eigenen Kindheit keinen guten Zugang zur Selbstwahrnehmung ausbilden können, da die Eigenwahrnehmung durch Erziehungsmethoden an einigen Stellen unterdrückt wird: in Bezug auf die körperliche Selbstwahrnehmung („Geh mal auf Toilette, du musst bestimmt!“/alle Kinder gehen zu bestimmten Zeitpunkten auf Toilette, „Das tut doch nicht weh!“), aber auch in Bezug auf die emotionale Selbstwahrnehmung („Das ist nicht schlimm!“, „Da musst du nicht weinen!“, „Mädchen dürfen nicht so wütend sein!“). Diese fehlende Selbstwahrnehmung kann es uns heute schwer machen, ein gutes Gespür für sich und die eigenen Bedürfnisse zu haben. Wie fühlt es sich an, wenn ein Gefühl aufsteigt bevor es riesengroß ist, wie fühlt sich beispielsweise Empörung an, bevor sie zu einer großen Wut wird?

Gefühle wahrnehmen

Wenn wir uns vornehmen, in Konfliktsituationen anders reagieren zu wollen, ist es nur ein kleiner Aspekt dieses „anders“, dass wir uns überlegen, wie wir konkret reagieren wollen. Wesentlich ist es, unsere Selbstwahrnehmung zu verbessern, damit wir überhaupt anders reagieren können – nämlich bevor die Wut uns selbst überrollt. Es ist wichtig, in Konflikten in sich hineinzuspüren: Wie fühle ich mich? Was löst dieser Konflikt in mir aus? Wenn wir genau auf uns achten, können wir auch an unserer körperlichen Reaktion spüren, wie es uns geht: Schlägt das Herz schneller? Hat sich die Atmung verändert? Auf die eigenen körperlichen Reaktionen zu achten, kann ein guter Hinweisgeber für Gefühle sein. Durch die Aufmerksamkeit auf den eigenen kröperlichen Reaktionen fällt es uns auch leichter, im Hier und Jetzt zu bleiben.

Nächster Schritt: den Gefühlen auf den Grund gehen

Wenn wir ein Gespür für unsere Gefühle bekommen, können wir besser in Konfliktsituationen aussteigen: Wir spüren, dass wir schneller atmen, unser Herz klopft und merken dadurch, dass wir wirklich wütend werden. Jetzt können wir aus der Situation aussteigen und uns beruhigen: Tief in den Bauch atmen, erklären, dass man kurz hinaus muss,…

Im nächsten Schritt können wir dann betrachten, woher diese Gefühle eigentlich kommen, um dann zu lernen, dass es beispielsweise unsere Bewertung einer Situation sein kann, die uns wütend macht. Diese Bewertung speist sich vielleicht aus eigenen früheren Erfahrungen, aber im Jetzt und Hier ist es eine andere Situation, die nicht bedrohlich ist und wir deswegen vielleicht gar nicht mit Wut reagieren müssen. Wenn wir verstehen, woher das Gefühl kommt, woraus es sich entwickelt, mit welchem Bedürfnis es in Verbindung steht, können wir nochmals intensiver daran arbeiten, die Ursache für ausufernde Konfliktsituationen zu vermindern.

Dieses Hineinspüren und Erlernen der eigenen Wahrnehmung braucht Zeit. Es geht oft nicht von heute auf morgen, die Selbstwahrnehmung zu verbessern. Aber wir können bewusst damit anfangen, auch schon in Situationen jenseits der Wut: Lenken wir unser Augenmerk immer mal wieder bewusst auf uns und unsere Gefühle: Wie fühle ich mich jetzt gerade und woher kommt dieses Gefühl? Zu welchem Bedürfnis gehört mein Gefühl und wie kann ich dieses (und andere) im Alltag gut befriedigen?

Eure

Zur Autorin:
Susanne Mierau ist Diplom-Pädagogin (Schwerpunkt Kleinkindpädagogik) und Familienbegleiterin. Sie arbeitete an der FU Berlin in Forschung und Lehre, bevor sie sich 2011 im Bereich bedürfnisorientierte Elternberatung selbständig machte. Ihr 2012 gegründetes Blog geborgen-wachsen.de und ihre Social Media Kanäle sind wichtige und viel genutzte freie Informationsportale für bedürfnisorientierte Elternschaft und kindliche Entwicklung. Susanne Mierau gibt Workshops für Eltern und Fachpersonal und spricht auf Konferenzen und Tagungen über kindliche Entwicklung, Elternschaft und Familienrollen.

Foto: Ronja Jung für geborgen-wachsen.de

Kita- und Schulstart: Übergänge für Kinder gestalten

Der Eintritt in den Kindergarten oder in die Schule sind große Meilensteine für Kinder. Auf einmal verändert sich ein großer Anteil ihres bisherigen Alltags, es müssen neue Tagesabläufe und Regeln verinnerlicht werden. Auch neue Bezugspersonen erweitern die Erfahrungswelt des Kindes. Diese Übergangssituationen und Neuanfänge sind nicht selten auch Herausforderungen für Kinder. Es muss losgelassen werden, Veränderungen müssen eingegangen werden. Nicht selten ist das auch mit der Angst vor dem Neuen verbunden: der Kindergartenstart, der Abschied morgens, der Übergang zur Schule, das Einschlafen. Ein Ritual für den Übergang und die Aufnahme in eine neue Gruppe können das Kind darin unterstützen, dem Neubeginn positiv entgegenzusehen und das Kind als Teil einer (neuen) Gemeinschaft feiern.

Den Neubeginn feiern

Wir alle kennen bereits Rituale, um den Übergang zu feiern: das Kindergartenfest, die Einschulungsfeier samt gefüllter Schultüte. Das alles sind bereits Rituale, um den Übergang zu feiern. Darüber hinaus können wir auch noch gemeinsam als Familie mit dem Kind den Übergang zelebrieren, um die beiden Welten „Familie“ und „Schule“ miteinander zu verbinden und etwaige Angst zu nehmen vor der Veränderung und das Gefühl, in eine Gemeinschaft zu gehören, zu stärken. Ein paar Ideen hierzu sind:

  • alle nahestehenden Personen schenken ein Foto von ihnen bei der Einschulung (das Kind erfährt, dass alle nahestehenden Personen diesen Weg schon gegangen sind)
  • schenken eines Lieblings-Kinderbuches, das die erwachsene Person besonders mag, vielleicht sogar selbst als Kind gelesen hat samt Widmung (Vorfreude auf das Lesenlernen, Unterstützung eines entspannenden Vorlese-Rituals zu Hause)
  • eine Kiste/Glas mit kleinen Notizen anlegen, von denen jeden Tag eine in die Brotdose gelegt werden kann (kleine Zeichnungen von den nahestehenden Personen + Namen)/alternativ: Kindertattoos, die als Stärkung auf den Handrücken geklebt werden können/alternativ: eine kleine Liste mit schönen Symbolen machen, von denen sich das Kind jeden Schultag eines auf den Handrücken malen lassen kann von einer Bezugsperson
  • gemeinsam eine Kerze gestalten zur Einschulung mit bunten Wachsplatten, auf die jede nahe Person einen Wunsch aus Wachs aufschreibt oder verbildlicht
  • ein Fotobuch anlegen mit einer kleinen Geschichte zum Kindergarten-/Schulstart mit den Bezugspersonen

Übergangsrituale für den neuen Alltag

Auch nach der Einschulung oder Eingewöhnung in den Kindergarten haben manche Kinder noch Schwierigkeiten mit den Übergängen. Übergangsrituale können dann der Angst (sofern vorhanden) und Unsicherheit Raum geben. Das Kind erfährt: Es ist in Ordnung, dass ich Angst habe, denn auch dieses Gefühl darf sein und hat in unserer Familie Platz. Wenn es mir nicht gut geht, werde ich verlässlich getröstet, bis es mir wieder besser geht. 

Gleichzeitig werden durch die Rituale oft auch hilfreiche Handlungsstrategien eingeübt und das Kind erfährt, wie es sich selbst helfen kann oder wie und wann es auf Hilfe durch andere zurückgreifen muss, beispielsweise indem wir dem Kind Ideen geben, was es immer machen kann, wenn es sich einsam fühlt, wohin es sich jeden Morgen als erstes wenden kann, dass es das aufgemalte Bild auf dem Handrücken anfassen kann, wenn es uns vermisst.

Manchmal können wir durch Übergangsrituale auch die verschiedenen „Welten“ miteinander verbinden: Von Zuhause wird das Lieblingskuscheltier mitgenommen, damit das Kind in der Schule etwas Vertrautes hat. Damit geben wir nicht nur dem Kind eine Stütze für den Übergang mit, sondern erleichtern uns selbst auch die Begleitung und das Loslassen.

Sicherheit gibt es dem Kind auch, wenn wir schon vor dem Start der neuen Situation einige der Neuerungen vorwegnehmen: Beispielsweise kann der neue Weg vorab abgelaufen werden und besonders schöne Punkte können gemeinsam betrachtet werden, so dass das Kind sich auf dem neuen Weg auf diese Aspekte fokussieren und sie zugleich als Anhaltspunkte des richtigen Weges erinnern kann. Auch Piktogramme, die die neuen Tagesabläufe veranschaulichen, können hilfreich sein und zusammen mit dem Kind gestaltet werden (kleine Bilder, was morgens nach dem Aufstehen alles gemacht wird).

Rituale müssen keine starren, altbackenen Traditionen sein. Ein Ritual zum Feiern eines Übergangs oder ein Ritual für den Alltag kann das sein, was ihr dazu macht. Wichtig ist, dass es zu euch passt, euch Freude bereitet und hilft.

Eure

Zur Autorin:
Susanne Mierau ist Diplom-Pädagogin (Schwerpunkt Kleinkindpädagogik) und Familienbegleiterin. Sie arbeitete an der FU Berlin in Forschung und Lehre, bevor sie sich 2011 im Bereich bedürfnisorientierte Elternberatung selbständig machte. Ihr 2012 gegründetes Blog geborgen-wachsen.de und ihre Social Media Kanäle sind wichtige und viel genutzte freie Informationsportale für bedürfnisorientierte Elternschaft und kindliche Entwicklung. Susanne Mierau gibt Workshops für Eltern und Fachpersonal und spricht auf Konferenzen und Tagungen über kindliche Entwicklung, Elternschaft und Familienrollen.

Foto: Ronja Jung für geborgen-wachsen.de

Deine Grenzen als Elternteil sind okay

Das Wort „Grenzen“ hat für viele Eltern einen negativen Beigeschmack. Gerade auch, weil es in der Vergangenheit oft mit negativen Erziehungsmethoden verbunden war: „Grenzen“ wurden in erster Linie auf das Kind bezogen, als Grenze um das Kind herum zu Erziehungsmaßnahmen, und nicht als Schutzraum betrachtet für Erwachsene und Kinder. „Grenze“ hieß: „Bis hierhin und nicht weiter, weil du das nicht darfst!“ statt „Dies ist dein persönlicher Sicherheits- und Wohlfühlbereich.“ Auch in Bezug auf das Wort „Grenzen“ ist es wichtig, welchen Blickwinkel wir darauf einnehmen, in welchen Bedeutungskontext wir es einsetzen.

Grenzen sind für Kinder und Erwachsene wichtig

Sowohl für Kinder, als auch für Eltern, sind Grenzen wichtig. Grenzen sollten und müssen für Kinder nicht willkürlich gesetzt werden, sie ergeben sich aus dem natürlichen Zusammenleben: Kinder stoßen an Grenzen in Bezug auf ihre Fähigkeiten, Dinge, soziale Systeme und eben auch andere Menschen. Interessant an den Grenzen anderer Menschen ist, dass sie sich von Mensch zu Mensch unterscheiden können – auch das lernen Kinder daher in der Auseinandersetzung mit anderen. Ein Glas, das auf den Steinboden fällt, geht nahezu immer kaputt. Das ist die dingliche Grenze. Bei Menschen sind Grenzen unterschiedlich: sie können sich mit der Zeit ändern, sind abhängig von Wohlbefinden und Stress, hängen mit der eigenen Vergangenheit, aber auch genetischen Bedingungen zusammen und werden unterschiedlich signalisiert. Was für eine Person in Ordnung sein kann (beispielsweise lautes Geschrei beim Spielen), kann für eine andere Person auf Dauer als Grenzüberschreitung wahrgenommen werden. Es ist nicht falsch, dass wir unterschiedliche Grenzen haben. Es gibt keine Basislinie im Sinne von „Das musst du aber ertragen als Elternteil.“ – Familien sind unterschiedlich und oft haben die in einer Familie zusammenkommenden Personen unterschiedliche Ausprägungen von Reizverarbeitung und Anpassungsfähigkeit. So machen Kinder in unterschiedlichen Familien unterschiedliche Erfahrungen, die sie mit prägen. Während in einer Familie Lautstärke vielleicht ein Thema ist, ist es in einer anderen körperliches Balgen oder andere Themen, bei denen es engere oder weitere Grenzen gibt.

Alternativen bei viel Rücksichtnahme

Oft haben Eltern einen negativen Blick auf die familiären Grenzen, die in ihrer Familie gelten. Sie sorgen sich vielleicht, dass das Kind bestimmte Erfahrungen nicht machen kann. Natürlich ist es wichtig, dass Eltern im Blick behalten, dass die Kinder nicht zu sehr eingeschränkt werden in ihrem Erkundungsverhalten und sie genügend Raum haben für Selbstwirksamkeit und Exploration, aber bewusst gesetzte Grenzen sind deswegen nicht gleich ein Entwicklungshemmnis. Vielleicht gibt es Orte, an denen die Kinder laut schreien können, wenn das zu Hause nicht so sehr gewünscht ist (beispielsweise bei Ausflügen in die Natur), vielleicht gibt es andere Bezugspersonen, mit denen sie wild toben können, wenn die Eltern eher körperlich sanft reagieren. Vielleicht gibt es die Möglichkeit, an den Wochenenden Einzelaktivitäten mit Geschwisterkindern zu unternehmen, wenn unter der Woche viel Rücksicht genommen werden musste auf ein anderes Kind.

Gemeinsam Regeln festlegen

Regeln sind sinnvoll für soziale Gruppen, denn sie organisieren das Zusammenleben und setzen sich für die Bedürfnisse aller Personen ein. Mit unseren Kindern können wir über die Regeln und Grenzen in der Familie auch sprechen. Wenn wir erklären, warum uns eine bestimmte Regel/Grenze wichtig ist, können wir auch unsere Kinder fragen, was ihnen besonders wichtig ist und daraus ggf. weitere Familienregeln ableiten. Sie können auch gemeinsam festgehalten werden auf einen Papier oder Poster. Vielleicht ändern sie sich wieder im Laufe der Zeit, vielleicht begleiten uns einige über lange Zeit.

Wichtig ist, dass wir uns von einem negativen Blick auf Familienregeln lösen und ihren Wert und ihre Ressourcen erkennen für unser individuelles Zusammenleben. Es ist okay, dass du als erwachsene Person Grenzen hast – genauso wie wir unseren Kindern ihre Grenzen zugestehen und als wichtig erachten, dass sie lernen, für ihre Grenzen einzustehen.

Eure

Zur Autorin:
Susanne Mierau ist Diplom-Pädagogin (Schwerpunkt Kleinkindpädagogik) und Familienbegleiterin. Sie arbeitete an der FU Berlin in Forschung und Lehre, bevor sie sich 2011 im Bereich bedürfnisorientierte Elternberatung selbständig machte. Ihr 2012 gegründetes Blog geborgen-wachsen.de und ihre Social Media Kanäle sind wichtige und viel genutzte freie Informationsportale für bedürfnisorientierte Elternschaft und kindliche Entwicklung. Susanne Mierau gibt Workshops für Eltern und Fachpersonal und spricht auf Konferenzen und Tagungen über kindliche Entwicklung, Elternschaft und Familienrollen.

Foto: Ronja Jung für geborgen-wachsen.de