Für viele Eltern ist es gar nicht so einfach, ein wütendes Kleinkind zu begleiten. In einem Moment war die Welt noch in Ordnung, im nächsten Moment ist das Kind erzürnt. Vielleicht hat etwas nicht so funktioniert, wie das Kind es sich vorgestellt hat. Vielleicht kann es etwas nicht erreichen, was es erreichen wollte. Vielleicht hat ein anderer Mensch nicht verstanden, was das Kind eigentlich sagen wollte. Oder ein anderes Kind hat das Spielzeug, mit dem es selber gerade spielen wollte.
Die Zeit des „alleine“ ist wichtig, aber herausfordernd für das Kind
Die Anlässe dafür, dass ein kleines Kind wütend wird, können vielfältig sein in der Kleinkindzeit. Denn gerade jetzt macht es sich auf den Weg, in der Welt zurecht zukommen. Es lernt Selbständigkeit und muss sie lernen, weil dies auf dem Entwicklungsplan des kleinen Menschen liegt. Nachdem das Kind im ersten Jahr in der Welt angekommen ist und die grundlegenden Fertigkeiten ausgebildet hat, sich darin zu bewegen, will es nun aktiv mit der Welt umgehen und alles lernen und erfahren, was es für das Leben braucht: von Gesprächen über motorische Handlungen bis zu den kleinen Details des sozialen Miteinanders. Klappt etwas nicht wie geplant, können die Gefühle ein kein Kind schnell überrollen. Denn auch wenn auch dieser Bereich in der Kleinkindzeit weiter ausgebaut wird, ist das Kleinkind an vielen Stellen noch nicht fähig, Gefühle allein zu regulieren und mit ihnen selbständig umzugehen. Es benötigt die Bezugspersonen als Partner in der Regulation.
Das Annehmen der Gefühle des Kindes ist wichtig
Die Beziehung zum Kind zu gestalten in dieser Zeit, wenn die Kinder manchmal so ganz von ihren Gefühlen überrollt werden, ist nicht immer einfach. Besonders nicht, wenn sie ein Verhalten zeigen, das für die Eltern besonders anstrengend ist, weil es an die eigenen körperlichen oder seelischen Grenzen stößt, wenn das Kind aus der Wut heraus beißt, spuckt oder Schimpfworte benutzt, um diesen Gefühlen einen Raum zu bieten, um sie umzusetzen, wenn sie sich so stark in ihnen zu Wort melden. In diesen Momenten hinter das Verhalten des Kindes zu sehen und zu erkennen, dass das Beißen oder Spucken vielleicht eine Form des Widerspruchs ist, weil das Kind sich sonst machtlos uns unterlegen fühlt oder dass Schimpfworte genutzt werden, um einen Superlativ von Gefühlen und Verärgerung auszudrücken, den es anders nicht in Worte fassen kann, ist nicht immer einfach.
Dennoch ist es gerade jetzt wichtig. Denn das Kind braucht die Bezugspersonen noch immer als sicheren Hafen. Als Schutz. Es braucht das Gefühl, dass es mit allen Gefühlen bei der Bezugsperson einen Anlaufpunkt hat und Hilfe erhält bei den Herausforderungen des Alltags. Und der Umgang mit diesen starken Gefühlen ist eine Herausforderung, die das Kind nur mit uns bewältigen kann. Und darüber dann lernt in den nächsten Jahren, diese Gefühle auch allein bewältigen zu können. Wir geben mit unserer Zuwendung eine Anleitung, einen Fahrplan, eine Richtschnur. Durch uns lernt das Kind, die eigenen Gefühle zu verstehen, zu interpretieren und dann mit ihnen umzugehen: Kann es sie alleine bewältigen oder braucht es Hilfe von anderen? Und wie genau kann es das so große Gefühl auf eine Weise ausdrücken, die die Grenzen einer anderen Person nicht übertritt?
Was wir tun können in Momenten der großen Gefühle – und was wir lassen sollten
Nehmen wir also die Gefühle unseres Kindes an, wenn es mit ihnen zu uns kommt – bedingungslos. Die Gefühle der Freude und Heiterkeit wollen ebenso geteilt werden die Wut und Trauer. Und auch wenn es anstrengend sein mag an einigen Tagen, blocken wir nicht ab durch Worte der Ablehnung, der eigenen Verärgerung über das kindliche Verhalten oder auch der Überheblichkeit, dass das Problem des Kindes gerade lächerlich sei. Das, was das Kind gerade fühlt, ist für dieses Kind jetzt gerade real. Es braucht keinen Spott, keine Ablehnung, sondern Verständnis. Das Verständnis und die Annahme sind der erste Baustein, bevor wir in eine Begleitung übergehen können: Manchmal sind unsere Kinder in der konkreten Situation nicht ansprechbar, können nicht reagieren auf unsere Ansprache und wir können erst später die Situation und mögliche Handlungsalternativen besprechen. Manchmal sind die Kinder zugänglich für Sprache und Unterstützung. Und manchmal haben sie schon selbst einen guten Weg des Umgangs mit dem Gefühl gefunden, den wir genau so annehmen können.
Dieses Verständnis, das wir dem Kind und seiner Gefühlswelt entgegen bringen, lässt das Vertrauen in uns weiter wachsen und stärkt die Beziehung. Das Angenommenwerden unterstützt auch weiterhin auf dem Weg, eine sichere Bindung aufzubauen und zu erhalten.
Eure
Zur Autorin:
Susanne Mierau ist Diplom-Pädagogin (Schwerpunkt Kleinkindpädagogik) und Familienbegleiterin. Sie arbeitete an der FU Berlin in Forschung und Lehre, bevor sie sich 2011 im Bereich bedürfnisorientierte Elternberatung selbständig machte. Ihr 2012 gegründetes Blog geborgen-wachsen.de und ihre Social Media Kanäle sind wichtige und viel genutzte freie Informationsportale für bedürfnisorientierte Elternschaft und kindliche Entwicklung. Susanne Mierau gibt Workshops für Eltern und Fachpersonal und spricht auf Konferenzen und Tagungen über kindliche Entwicklung, Elternschaft und Familienrollen.
Foto: Ronja Jung für geborgen-wachsen.de
Weiterführende Literatur*:
Mierau, Susanne (2017): Ich! Will! Aber! Nicht! Die Trotzphase verstehen und gelassen meistern. – München: GU.
Mierau, Susanne (2017): Geborgene Kindheit. Kinder vertrauensvoll und entspannt begleiten. – München: Kösel.
Prehn, Anette (2017): Hirnzellen lieben blinde Kuh. Was die Hirnforschung über starke Kinder weiß. – Weniheim: Beltz.
Becker-Stoll, Fabienne/Beckh, Kathrin/Berkic, Julia (2018): Bindung. Eine sichere Basis fürs Leben. Das große Elternbuch. – München: Kösel.
* Dieser Artikel enthält Affiliate-Links zu Amazon, durch die Geborgen Wachsen im Falle einer Bestellung eine Provision erhält ohne dass für dich Mehrkosten anfallen. Die vorgeschlagenen Bücher haben wir selbst gekauft, geschrieben oder waren Rezensionsexemplare.
Ich frag mich, was man beim beißen genau machen kann. Ich möchte meine Grenzen ja waren (nicht gebissen zu werden), soll authentisch bleiben (den Schmerz über das Beißen äußern dürfen) und gleichzeitig dem Kind zeigen, dass deine Gefühle okay sind.
Theoretisch ist das alles ganz klar, Praktisch fehlt es jedoch an echten Handlungsmöglichkeiten. Alternativen anbieten funktioniert in der akuten Situation nämlich nicht.
Schau mal hier ist ein passender Artikel zum Beißen: https://geborgen-wachsen.de/2017/06/23/hilfe-mein-kind-beisst-der-liebevolle-weg-durch-eine-schwere-zeit/
Ich denke, ich habe bei meiner Tochter, heute 7, alles falsch gemacht. In Situationen von Witausbrüchen habe ich diese nicht ausgehalten, gewertet, selber geschimpft. Ich bereue das zutiefst, zumal sie heute noch zu Ausbrüchen neigt. Dann beschimpft sie mich mit Schompfwörtern. Die sie neu in der Schule gelernt hat. Was kann ich tun. Soll ich das dann einfach zulassen, wenn sie mich mit Arschloch und Ficker beschimpft? Und kann ich das Vertrauen meiner Tochter denn noch gewinnen ? Vielen Dank
AYSE
Liebe Ayse,
glücklicherweise können wir an jeder Stelle die Richtung ändern und die Beziehung zu unseren Kindern neu gestalten. Oft ist das nicht so richtig einfach, denn es haben sich ja Gewohnheiten eingeschliffen und auch das Kind ist es gewohnt, dass in einer bestimmten Weise mit ihm interagiert wird und reagiert selbst so. Aber wenn du beharrlich nun die Richtung änderst, mehr auf die Beziehungsebene gehst mit deinem Kind, mehr über Gefühle redest, dich auch entschuldigst und dem Kind sagst, dass du verletzt bist von den Worten anstatt gleich zu schimpfen, könnt ihr damit beginnen. Manchmal tut es auch gut, Hilfe von einer Beratungsstelle zu bekommen.
Und wegen der Schuldgefühle: Wir tun ja alle immer das, von dem wir denken, dass es am besten ist. Weil wir es so gelernt haben. deswegen ist es nicht richtig, wenn du dich schuldig fühlst für das, was du aus damaligem Denken getan hast, denn du wolltest es ja richtig machen.
Hallo Susanne,
vielen Dank für deinen tollen Artikel. Er kommt gerade zur rechten Zeit, weil hier momentan täglich Wutanfälle die kleine Seele durcheinander wirbeln.
Eine Frage stellt sich mir jedoch:
Wie begleitet man das wütende Kleinkind am besten? Momentan versuche ich zu trösten und teilweise auch zu spiegeln. Gerade das Spiegeln gelingt mir in den Situationen, in denen mein Verbot Auslöser für die Wut ist, eher schlecht.
Ich freue mich über einen Tipp.
Liebe Grüße
Jana
Absolut. In „Ich! Will! Aber! Nicht!“ beschreibe ich das auch: Die Kinder wollen nicht gleich getröstet werden. Wichtiger ist dann: Warten, bis es für Worte oder Berührung wieder empfänglich ist
Liebe Susanne, danke für deinen Text. Ich versuche allen Gefühlen Raum zu geben – bei meiner 2jährigen Tochter klappt das ganz gut. Bei meiner 4jährigen fällt es mir deutlich schwerer. Oft weiss ich nicht wie ich ihr Alternativen zu Schreien und Weinen aufzeigen kann. In der Situation selbst kommt so gut wie nichts bei ihr an. Sie kann einfach nicht anders. Vielleicht könntest du noch einen Artikel zu dem Thema schreiben. „Gefühle annehmen und dann?“ Danke dir 🙂
Ich erlebe selbst unter Pädagoginnen, dass Trauer bei Kindern akzeptiert wird, aber Wut wird ihnen als Gefühl immer versagt! Da erfahren die Kinder kein Verständnis, keine Empathie, da heißt es nur: Das ist jetzt nur Bock! Kannst aufhören, da kommen ja nicht mal Tränen!
Danke für diesen Artikel!
Hallo Susanne,
ehrlich gesagt, kann ich mir unter „Gefühle annehmen“ zu wenig konkret vorstellen, auch wenn ich es schon oft gehört habe und daran denke.
Die Situation, die mir am meisten abverlangt, ist oft das Wickeln, meine Tochter (1,5) schreit dann, windet sich und möchte weg. Wickeln muss ja nunmal sein und kann auch manchmal nicht noch eine halbe Stunde warten o.ä. Wie würdest du in diesem Fall dann vorgehen? Lieben Dank für eine Antwort
Schau mal hier gibt es konkrete Tipps zum Wickel mit Kleinkindern: https://geborgen-wachsen.de/2017/09/27/ein-kleinkind-wickeln/
Hallo, das war für uns damals der Grund am Tag auf eine Windel zu verzichten. Stattdessen haben wir Toilette und Topf in Toilettenform angeboten, dazu eine Kiste mit alten Mulltüchern. Und natürlich Wechselkleidung. Am Tag Selbstbestimmt sein Geschäft verrichten zu können hat das annehmen einer Windel für den Abend sehr erleichtert.
Liebe Susanne,
mein Kind wirft seit kurzem mit harten, schweren Gegenständen, zerrt an mir rum, rennt auf die Strasse wenn es wütend ist. Ich meine, ich reagierte bis jetzt deinen Vorstelluhgen entsprechend auf seine Wut. Ist er Zeit für eine Erziehungsberatung?
Liebe Grüsse
Heike
Liebe Heike, das kann gut sein, dass euch da eine Beratung eher helfen kann. Ansonsten hier noch ein Impuls: https://geborgen-wachsen.de/2020/06/03/auch-eltern-haben-grenzen/
Ich hatte noch nie ein Kind, werde aber bald eins haben. Schade, dass in dem Artikel nichts konkretes steht. Ich bin nun nicht schlauer – wie kann ich denn das Kind genau begleiten und es annehmen, wenn es wütend ist? Wie genau funktioniert das – auf der Beziehungsebene bleiben? Kannst du konkrete Beispiele hinzufügen?
Hallo A.T. – auf dem Blog gibt es noch viele weitere Artikel dazu. In einem Blogartikel allein lässt sich dieses komplexe Thema nicht abhandeln. Es gibt immer nur einzelne Aspekte des Themas, die herausgegriffen werden können. Du kannst in das Suchfeld „Wut“ oder „Trotzphase“ eingeben und findest dann weitere Artikel.