„Jetzt sei aber mal lieb zu dem anderen Kind!“ – Wie Kinder soziales Verhalten lernen

„Jetzt sei mal schön lieb zu dem anderen Kind!“ schallt es über den Spielplatz. Das Kleinkind, das gemeint ist und einem anderen gerade den Eimer wegnehmen möchte, erscheint es wenig verunsichert, streckt den Arm aus, streichelt das andere Kind und nimmt dann den Eimer an sich. Das Konzept von „lieb sein“ wie es seine Bezugsperson gemeint hat, hat es noch nicht genau verstanden und verinnerlicht. Es denkt, es soll ein bestimmtes, erlerntes Verhalten zeigen und weiß nicht, dass dieses „lieb sein“ eher eine Haltung ist, denn eine Handlung. Und diese Haltung hat es als bewusste Haltung nicht verinnerlicht. Der eben noch rufende Elternteil kommt über den Spielplatz gespurtet, reißt den Eimer aus der Hand und stellt ihn dem anderen Kind wieder hin. „Du solltest den Eimer zurückgeben, hab ich gesagt!“ – Das Kind schaut wieder verwundert, denn natürlich wurde das nicht gesagt, auch wenn es gemeint wurde. WAS aber gemeint wurde, hat das Kind nicht verstanden.

Eltern wünschen sich einfühlsame, „liebe“ Kinder

Kinder sind von sich aus kooperativ und sozial. Allerdings sind Kinder auch Kinder und der kindlichen Entwicklung unterworfen, weshalb ihr kooperatives und soziales Verhalten Grenzen hat (was übrigens auch bei uns Erwachsenen so ist, nur dass unsere Grenzen meistens weiter sind) und beispielsweise ausgeschöpft oder erschöpft sein kann bzw. auch den eigenen Bedürfnissen unterliegt und dem Umstand, sich noch nicht gut in andere Personen hineinversetzen zu können und die Gefühle anderer immer richtig einschätzen oder vor-einschätzen zu können.

Als Eltern nehmen wir die Kooperation des Kindes und sein soziales Verhalten im Alltag oft nicht als solches wahr, bis zu dem Zeitpunkt, wo es gerade nicht auftritt und wir uns wünschen, dass das Kind sich aber „gut“ verhalten soll. Oft sind das Situationen, in denen wir gestresst sind durch Zeitdruck oder durch beobachtende Dritte und nicht als Eltern schlecht bewertet werden wollen. Dann fordern wir von unseren Kindern ein „liebes“ Verhalten ein oder versuchen, dem Kind das „lieb sein“ aktiv vorzuführen: Streichel mal das andere Kind, teil doch mal dein Spielzeug, begrüße mal lieb die Tante,… Manchmal fordern wir dabei mehr ein, als das Kind eigentlich gerade in diesem Alter leisten kann, beispielsweise wenn wir Kleinkinder zum Teilen ihrer Lieblingsspielsachen auffordern.

Viele Eltern übersehen bei dem Wunsch nach einem „lieben“ Kind auch, dass das Kind ein Mensch ist. So wie Erwachsene auch. Wir alle haben jeden Tag eine Vielzahl unterschiedlicher Gefühle und niemand ist „nur freundlich“, ganz besonders Kinder nicht, die noch Schwierigkeiten haben, ihre Gefühle zu regulieren. Es ist wichtig, dass Kinder die breite Palette an Gefühlen erfahren dürfen, denn sie gehören zum Leben dazu und jedes Gefühl hat auch einen anderen Gefühlspart: wütend – zufrieden, traurig – munter,… Durch die Wahrnehmung des einen ist bewusster Raum für die Wahrnehmung des anderen vorhanden. Kein Kind muss „lieb sein“, wenn es sich nicht danach fühlt und kein Kind muss beständig freundlich und zuvorkommend sein. Kinder lernen zunehmend, ihre Gefühle in einer Gesellschaft passend auszudrücken. Mit zunehmenden Alter lernen sie, was sie tun können, wenn sie auf einer Familienfeier schlechte Laune haben, ohne sich dabei verstellen zu müssen. Sie lernen Kompetenz im Umgang mit unterschiedlichen Gefühlen und diese Kompetenz bedeutet nicht zwangsweise Anpassung an Erwartungen, sondern einen guten Umgang damit: Niemand sollte fröhlich sein müssen, obwohl er gerade extrem traurig ist.

Wie Kinder wirklich lernen, sich sozial zu verhalten

All diese freundlichen, lieben Verhaltensweisen lernen Kinder aber viel weniger durch direkte Anleitung oder Aufforderungen, als durch Vorbildverhalten von uns Erwachsenen: wie wir mit anderen umgehen und auch mit dem Kind selbst. Die Art, wie andere Menschen dem Kind begegnen, mit ihm interagieren und es behandeln, prägt das Bild über soziales Verhalten. Wenn wir wollen, dass unsere Kinder freundlich zu anderen sind, nicht übergriffig und langfristig sozial agieren, müssen wir uns fragen, wie wir diese Werte im Alltag transportieren. Wir können uns Fragen stellen wie:

  • Wie begegne ich dem Kind respektvoll?
  • Wie fasse ich es an?
  • Wie reagiere ich auf Fragen, Wünsche, Bedürfnisse?
  • Wie spreche ich mit dem Kind und lasse ich es ausreden oder fahre ich ihm über den Mund? In welchem Tonfall und welcher Lautstärke rede ich mit meinem Kind?
  • Reiße ich meinem Kind die Dinge aus der Hand, wenn ich etwas haben möchte, oder bin ich geduldig?
  • Erkläre ich Dinge ruhig, oder handle ich einfach anstatt zu reden?

Wenn wir uns die Frage stellen, wie unsere Kinder sind und sein sollen, sollten wir zunächst darauf schauen, wie wir sind.
Eure

Zur Autorin:
Susanne Mierau ist Diplom-Pädagogin (Schwerpunkt Kleinkindpädagogik) und Familienbegleiterin. Sie arbeitete an der FU Berlin in Forschung und Lehre, bevor sie sich 2011 im Bereich bedürfnisorientierte Elternberatung selbständig machte. Ihr 2012 gegründetes Blog geborgen-wachsen.de und ihre Social Media Kanäle sind wichtige und viel genutzte freie Informationsportale für bedürfnisorientierte Elternschaft und kindliche Entwicklung. Susanne Mierau gibt Workshops für Eltern und Fachpersonal und spricht auf Konferenzen und Tagungen über kindliche Entwicklung, Elternschaft und Familienrollen.

Foto: Ronja Jung für geborgen-wachsen.de

2 Kommentare

  1. K. Paulat

    Ein sehr wahrer Artikel. Für mich erhöht er den Druck aber ich sehe schon auch, dass meine forschen Kinder durchaus das Ergebnis der Erziehung durch eine derzeit leicht reizbare, laute, ungeduldige Mutter sind… Also, nicht verzweifeln, weitermachen, reflektieren und jeden Tag ein bisschen besser werden…

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