Ausweglos – Wenn Eltern schimpfen und Kinder nicht weg können

Als Erwachsene habe ich einen großen Vorteil in schwierigen Situationen: Ich kann gehen. Wenn mich ein Ereignis emotional zu sehr belastet, wenn ein Mensch meine Grenzen übertritt, dann gehe ich. Wenn ich merke, dass ein Mensch mir über längere Zeit nicht gut tut und keine Besserung in Sicht ist, verlasse ich ihn. Nicht ohne Worte und Versuche, aber wenn sie nicht fruchten, gehe ich. Ich sorge für mich, indem ich für mich schlechte Situationen umgehe, schlechte Menschen aus meinem Leben fern halte. Wenn ich einen Text im Internet lese, der mir nicht gefällt, dann schließe ich das Fenster.

Ich habe Glück, denn ich bin erwachsen und ich kann all dies tun. Ich kann bestimmen, wann meine Grenzen überschritten sind und ich mich vor anderen schütze. Selbst bei den mir sehr nahe stehenden Personen kann ich gehen, wenn ich mich unwohl fühle.

Unsere Kinder können das nicht. Sie können nicht die Tür hinter sich schließen und sagen: „Jetzt reicht es aber, ich gehe oder ziehe aus.“ Sie können sich vor uns nur schwer zurück ziehen, wenn wir sie emotional verletzten, wenn wir schimpfen, wenn wir strafen. Sie sind auf uns angewiesen: auf unseren Schutz, unsere Fürsorge. Der einzige Ort, an den sie sich wirklich zurück ziehen können, ist in sich selbst. Sie haben nicht die Möglichkeit zu sagen: „Du bist mir zu laut, ich will das nicht, ich gehe.“ Sie sind da und dem ausgeliefert, bei uns zu bleiben. Selbst dann, wenn sie es gerade gar nicht wollen. Sie können sich nur schwer durch Rückzug selbst beschützen und für sich sorgen. Sie haben Angst und können sich nicht abwenden. Welche Kritik es auch sein mag, sie beziehen sie auf sich und ihr Selbst.

In vielen Situationen verstehen sie wahrscheinlich nicht einmal, warum wir reagieren, wie wir reagieren. Denn oft sind es ja nicht einzelne Taten der Kinder, die uns aus der Haut fahren lassen, sondern es ist ein kleiner Tropfen, der das Fass zum Überlaufen brachte, weil wir selbst es vorher nicht geleert haben. Manchmal sind es auch Erfahrungen und Gefühle, die schon lange in uns wohnen, die wir aus der eigenen Kindheit mit uns tragen und die nun erst durch das Verhalten der Kinder hervorgespült werden und ihre Antwort in einem Verhalten finden, wie wir es selbst erlebt haben.

Wenn sie noch sehr klein sind, wissen sie nicht einmal, wie sie sich schützen könnten. Sie sind auf uns angewiesen, sie brauchen uns – noch sehr lange. Dies sollten wir immer bedenken, wenn wir merken, dass unsere Gefühle uns überrennen. Es ist gut, wenn wir uns selber bremsen können oder uns bewusst vornehmen, mit unseren Kindern nicht zu schimpfen. Es ist wichtig, Strategien zu lernen, mit der eigenen Wut umzugehen. Und vor allem ist es wichtig, Stress im Alltag zu minimieren, damit unser Stresslevel nicht so hoch ist, dass Kinder der berühmte kleine Tropfen sind. Wir sind die Erwachsenen, wir können aus der Situation hinaus gehen. Unsere Kinder nicht. Sie müssen zuhören, sie müssen anhören und haben nur sich selbst als Rückzugsort. Sie beziehen all das auf sich, verinnerlichen es. Sie lernen, sich als Last oder falsch zu sehen, wenn sie immer Anlass des Ausbruchs des Ärgers sind – auch wenn sie eigentlich nicht der Grund sind für den Umfang des Gefühls, das sich in uns einen Weg bahnt. Es ist unsere Aufgabe, unser Verhalten in eine Bahn zu lenken, die unsere Kinder nicht überfordert. An manchen Tagen mag es vielleicht nicht klappen, aber es ist immer wieder wichtig, sich dies vor Augen zu führen, damit wir langfristig an uns, unserem Verständnis und unserer Beziehung arbeiten können.

Eure

8 Kommentare

  1. Hallo Susanne,

    ich stimme Dir voll zu, dass wir die Erwachsenen sind und uns dementsprechend verhalten sollten. Die Kinder sind ganz und gar von uns abhängig, von unserer Liebe, unserer Fürsorge und unserer Zuwendung.
    Aber meinst Du nicht, dass Kinder mehr Strategien haben als Rückzug? Wenn bei mir der Tropfen überläuft und ich böse werde, bekomme ich die Quittung von meiner fast zweijährigen Tochter sofort. Sie schreit dann und zeigt mir sehr deutlich, dass ich jetzt ihre Grenze überschritten habe. Und das ist auch gut so. Denn sie kann ja wirklich nicht weglaufen.

  2. Katharina

    Danke für dieses Bild! Ich bin ein sehr bildlicher Typ und dieses Bild, das du im Text vermittelst, wird dazu beitragen, dass mein Kind in Frieden aufwächst. Danke❤

  3. JungeMami

    Ein wichtiges Thema, danke! Auch wenn das erst ab einem gewissen Alter möglich war (und sofern bei manchen überhaupt vorhanden), so war unser eigenes Zimmer immer der geschützte Rückzugsort. Sowohl für unsere Eltern (“ Wenn du erstmal rumschreien willst/musst, mach das in deinem Zimmer/im Garten/im Treppenhaus…, uns ist das zu laut!“), als auch für uns. In unser Zimmer wurde uns nicht nachgelaufen, wenn wir dorthin flüchteten. Erst, wenn alle sich beruhigt hatten. Und dann wurde geredet. Allerdings gab es auch nie mehr als Streit und „schimpfen“ und wir Kinder durften auch immer zurückschimpfen! Das ist mir auch jetzt bei meinen Kindern wichtig: ich schaffe es leider nicht, NICHT zu meckern. Aber sie dürfen mir gerne Paroli bieten (und tun das auch ordentlich ;-p) und darüber bin ich froh statt sauer. Mein Mann „lernt“ das noch, denn er kennt nur die „jetzt bin ich aber furchtbar traurig/enttäuscht/sauer“-Schiene. Das finde ich persönlich noch schlimmer als mal seinen Frust raus zu lassen. Trotzdem bin ich auch dafür, sich lieber einmal mehr zusammenzureißen. Und wenn schon motzen, dann mit ICH-Botschaften. „Es nervt mich, wenn du das machst“ oder „Ich bin genervt“ klingt ganz anders als „DU nervst!“

  4. Mein Kind sagt mir (Gott sei Dank): „Du bist zu laut.“ Oder: „Blöde Schimpfmama.“, wenn ich am meckern bin.

    Es lässt sich ja auch nicht immer vermeiden, gerade weil wir Erwachsene eben auch nicht immer gehen können. Formal betrachtet, ja. Aber wie oft sind wir selbst klein und unfrei und wissen gar nicht um die Gründe, die uns handeln lassen, wie wir handeln.

    Darum glaube ich auch, dass es nicht das Ziel ist, Schimpfen grundsätzlich zu vermeiden (an solchen Zielen scheitern man oft schneller, als wenn man sie sich gar nicht erst steckt), sondern eine stabile Beziehung miteinander zu haben, die es erlaubt, dass wir Fehler machen und uns danach in die Arme nehmen.

  5. Hmm.. Ein interessanter Ansatz, den ich so aber nicht teilen kann. Zunächst einmal stellst du „emotional verletzen“, „schimpfen“ und „strafen“ auf eine Ebene und schon da möchte ich gerne widersprechen. Schimpfen und strafen sind keine emotionale Verletzung – jedenfalls solange nicht, wie ich meine Kinder nicht grundlos regelmäßig anschreie bzw. unfair wegen Nichtigkeiten bestrafe. Strafen für „Fehlverhalten“ (nicht an allgemein bekannte, einleuchtende Regeln halten) gehören bei uns ebenso zum Alltag wie Schimpfen, das der Strafe meistens vorausgeht. Dabei wissen meine Kinder immer sehr genau, weshalb ich gerade wütend auf sie bin. Deswegen finden sie das natürlich noch lange nicht schön, aber emotional verletzt sind sie deswegen noch lange nicht – im Gegenteil, meine Kinder sind sehr aufgeweckte, fröhliche, mutige und selbstbewusste (manchmal denke ich mir da ein „leider“ dazu) Persönlichkeiten.

    Auch möchte ich an dem Punkt widersprechen, dass Kinder keine Rückzugsmöglichkeiten haben. Du machst schon selbst die Einschränkung, „außer in sich selbst“ – manchmal ist es gar nicht so verkehrt, mal in sich zu gehen. Auch Kinder können das schon. Desweiteren können selbstverständlich meine Kinder die Situation verlassen, in der ich schimpfe, ich halte sie ja nicht körperlich fest. Sie können sich also, räumlich gesehen, beispielsweise in ihr Zimmer zurückziehen. Ab einem gewissen Alter geben sie Widerworte – was der Situation nicht unbedingt zuträglich ist, aber selbstverständlich einen Ausweg für sie darstellt. Sie finden – gerade in Familien mit mehreren Kindern – meistens einen Ansprechpartner für ihre Unzufriedenheit darüber, dass Mama „schon wieder schimpft“, in einem ihrer Geschwister. Wenn sie etwas älter sind, haben sie Freunde, zu denen sie sich zurückziehen können.
    Kinder haben keine Rückzugsmöglichkeit? Das sehe ich ganz und gar nicht so – und halte es andersherum aber auch nicht für klug, als Erwachsener aus Situationen sang- und klanglos zu verschwinden. Das ist für mich aufgeben.

    Liebe Grüße,
    Nina

    • Mamaglucke

      Warum bestrafst du deine Kinder und wofür?
      Ich finde es gibt keine Situation in der ein Elternteil das Recht hat seine Kinder zu „ bestrafen“ . 🙁

  6. Schöner Artikel und schade, dass es Leute gibt die ihn nicht verstehen und noch Worte wie „Strafe“ benutzen und dieses verrückte Konzept tatsächlich auch noch anwenden…

  7. Danke! Dieser Artikel hat sehr viel in mir ausgelöst.

    Mein Sohn ist gerade drei Jahre alt. Vorher dachte ich oft darüber nach, wie ich in Situation X reagieren kann, ohne zu schimpfen. Wie ich die widerkehrenden Handlungen X Y Z meines Kindes verstehen kann und dazu Lösungen finden kann. Zum einen fühlte es sich wie ein innerer Kampf an und ich war ständig von mir selbst enttäuscht, wenn ich keine andere Handlung als schimpfen fand. Die Anhäufung von „Es tut mir leid, das war gerade nicht okay von mir.“ (die immer auf Schimpfen folgen) zeigte mir, dass sich etwas ändern muss. Aber ich dachte immer, es seien die Umstände im Alltag oder mein Geisteszustand, an dem ich arbeiten muss. Nach deinem Artikel war es so leicht, wie ich nie im Leben erwartet habe. Es braucht nichts, als diese Empathie, die durch den Text und das darin enthaltende Wissen ausgelöst wird. Die Erinnerung an ähnliche unangenehme Situationen als Erwachsene, in denen ich einem wütenden schimpfenden Partner ausgesetzt war, der sich nicht anders zu helfen wusste, öffnete mir die Augen.

    Einige Tage war Schimpfen gar kein Thema mehr. Wenn es jetzt hoch kommt, merke ich es sofort und schon nach wenigen Worten kann ich mich besinnen und es stoppen ohne mein Kind in meinen Monolog zu reißen und zu hoffen, dass es uns nach meiner kleine Schimpftirade besser geht.

    <3
    Danke

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