Monat: Mai 2022

Eingewöhnung – die Angst davor, dass Mama/Papa geht

Die Eingewöhnung in die außerfamiliäre Betreuung ist für viele Familien eine herausfordernde Zeit: das Kind lernt neue Personen kennen, eine neue Umgebung mit neuen Reizen, neue Abläufe und Strukturen. An all das muss sich das Kind gewöhnen und gleichsam müssen die neuen Personen das Kind kennenlernen (sowohl Kinder, als auch Erwachsene). Gerade in Bezug auf die neue Bezugsperson muss ein gegenseitiger Abstimmungsprozess stattfinden: sich gegenseitig kennenlernen, aufeinander einstimmen. Die Trennung von den eingewöhnenden Bezugspersonen ist hierbei ein großer Meilenstein. Oft wird dabei gesagt und/oder gedacht, dass das Kind Angst hätte, sich von der gewohnten Bezugsperson zu trennen. Das lenkt den Fokus auf die Beziehung zwischen Kind und Elternteil. Schnell wird erklärt, dass die „Bindung zu eng“ sei, wenn sich das Kind nicht lösen kann. Dabei schränkt dieser Blick sowohl das Ergründen der Ursachen, als auch der möglichen Hilfen für Veränderung ein.

Das Kind hat noch kein Vertrauen in die neue Situation

Mit einem kleinen Wechsel des Blickwinkels können wir hingegen den Schwerpunkt auf die Bedürfnisse und das Temperament des Kindes lenken: Anstatt zu sagen „Das Kind hat Angst, sich vom Elternteil zu trennen!“ können wir sagen (und denken): „Das Kind hat (noch) nicht genug Sicherheit, um hier zu bleiben!“

Mit dieser Veränderung verschieben wir den Fokus von Eltern-Kind auf Kind-Erzieher*in. In den Blick genommen wird nicht die (in den meisten Fällen) normale Eltern-Kind-Beziehung, innerhalb der das Kind ein ganz normales Verhalten zeigt, da es über die bisherige Zeit eine Bindungshierarchie aufgebaut hat: Jene Personen, die besonders häufig und zuverlässig Bedürfnisse befriedigen, werden bevorzugt, wenn sie anwesend sind. Dass das Kind also in Anwesenheit der primären Bezugspersonen dazu neigen kann, Bedürfnisse von diesen einzufordern und ihre Nähe aufzusuchen, sowie sich noch schwer trennen kann, ist je nach Temperament des Kindes recht normal.

Wenn wir hingegen die neue Situation und die Beziehung von Erzieher*in-Kind in den Blick nehmen, können wir ressourcenorientiert statt defizitorientiert fragen: Was braucht das Kind, damit es ihm besser geht? Was braucht das Kind, damit es mehr Vertrauen in die neue Person fasst? Was braucht das Kind, um sich sicherer zu fühlen?

Ressourcenorientiert Bedürfnisse betrachten

Dieser Blick fokussiert die individuellen Bedürfnisse dieses Kindes. Vielleicht braucht es noch mehr Zeit allein mit der neuen Bezugsperson, um sie kennenzulernen und diese braucht mehr Zeit, um das Kind und dessen Signale kennen und verstehen zu lernen. Betreuungsrandzeiten, zu denen nicht so viele Kinder anwesend sind, können hier hilfreich sein. Vielleicht muss das Kind auch mit den Örtlichkeiten noch vertrauter werden und muss in Ruhe erklärt bekommen, was es wo findet. Vielleicht ist das Kind von den vielen neuen Reizen überfordert und fühlt sich sicherer, wenn es einen ruhigen Rückzugsort vorgestellt bekommt. – Es können verschiedenste Aspekte sein, die dem Kind ein besseres und sichereres Gefühl geben.

Der Wechsel des Blickwinkels weg vom „fehlerhaften Kind“, das sich nicht lösen kann oder dessen Eltern nicht loslassen wollen, hin zum Menschen mit Bedürfnissen ist eine kleine Änderung mit großer Wirkung. Diese Veränderung kann auch den Eltern mehr Vertrauen und Sicherheit geben in Bezug auf die neue Situation.

Eure

Zur Autorin:
Susanne Mierau ist Diplom-Pädagogin (Schwerpunkt Kleinkindpädagogik) und Familienbegleiterin. Sie arbeitete an der FU Berlin in Forschung und Lehre, bevor sie sich 2011 im Bereich bedürfnisorientierte Elternberatung selbständig machte. Ihr 2012 gegründetes Blog geborgen-wachsen.de und ihre Social Media Kanäle sind wichtige und viel genutzte freie Informationsportale für bedürfnisorientierte Elternschaft und kindliche Entwicklung. Susanne Mierau gibt Workshops für Eltern und Fachpersonal und spricht auf Konferenzen und Tagungen über kindliche Entwicklung, Elternschaft und Familienrollen.

Foto: Ronja Jung für geborgen-wachsen.de

Gebote statt Verbote – wie sie das Erleben deines Kindes verändern können

„Das darfst du nicht!“ – Gerade wenn unsere Kinder noch klein sind, gibt es viele Dinge, die sie noch nicht tun können oder sollen. Als Eltern sollten wir unseren Kindern nicht nur die Freiheit geben, die Welt zu erkunden, sondern müssen ihnen auch als Sicherheit gebende Bezugspersonen zur Seite stehen, ihnen die Welt erklären und sie an vielen Stellen auch noch anleiten. In der Kleinkindzeit, wenn Kinder selbständig die Welt erkunden wollen, selbstwirksam Erfahrungen machen wollen und ihren eigenen Entwicklungsplan verfolgen, stoßen sie dann mit ihrem kindlichen Erkundungsdrang gegenüber der Fürsorgeverantwortung der Eltern an Grenzen und drücken ihren Unmut je nach Temperament stärker oder weniger stark aus.

Alle Probleme lassen sich nicht umschiffen

Natürlich lassen sich nicht alle Situationen umschiffen, in denen der Wunsch des Kindes der Verantwortung der Eltern entgegensteht. Das muss es auch nicht, denn auch Konflikte gehören zum Leben dazu und Kinder lernen in der Familie Konfliktlösungsstrategien und den Umgang mit den eigenen Gefühlen wie Wut und Trauer, wenn Situationen anders laufen, als geplant. Auch das gehört zum Alltag und Entwicklungsplan der Kinder dazu. Aber wie bei der Ja-Umgebung für Babys lohnt es sich, auch in der Kleinkindzeit (und danach) den Fokus nicht auf die Verbote zu richten, sondern auf die Möglichkeiten und Alternativen.

Was ist alles möglich?

Regeln bestimmen nicht nur, was alles nicht gemacht werden kann, sondern auch, was alles möglich ist. Für den Alltag sind Regeln und Rituale hilfreich, weil sie uns eine Struktur geben, an der wir uns orientieren können. Auch hier gilt übrigens: einige Kinder (und Erwachsene) benötigen mehr Regelmäßigkeiten und Strukturen, andere weniger.

Wenn wir den Fokus auf die Möglichkeiten setzen, statt auf Verbote, erlebt sich das Kind weniger eingeschränkt in den Handlungsräumen, reagiert mit weniger Gegenwillen und ist mehr beteiligt. Im konkreten Alltag bedeutet das beispielsweise, bewusst Alternativen anzubieten: Statt „Damit darfst du nicht spielen!“ sagen „Schau, hier drüben stehen die Sachen, mit denen gespielt werden kann!“. Oder statt „Das darfst du (jetzt) nicht essen!“ anzubieten „Wenn du Hunger hast, kannst du jetzt ein Stück Gurke oder einen Apfel bekommen.“ Auch im Spielalltag können wir den Fokus verlagern von „Jetzt wird nicht xy gemacht!“ zu „Jetzt räumen wir zusammen den Tisch ab, danach kannst du aussuchen, was wir zusammen spielen.“ bzw. von „Ich hab keine Lust mit dir zu spielen!“ zu „Jetzt ruhe ich mich kurz aus und du kannst in der Zwischenzeit xy spielen, nachher machen wir was zusammen.“

Den Fokus von den Verboten auf die Möglichkeiten zu verlegen, ist eine kleine Veränderung. Weg vom Negativen, ausrichten auf das Positive. Es mag uns Erwachsenen vielleicht zunächst als unnötig oder wenig bedeutsam erscheinen, aber für unsere Kinder kann es einen Unterschied im Alltag machen und uns selbst auch Erleichterung schenken. Einen Versuch des Umdenkens und Ausprobierens ist es wert.

Eure

Zur Autorin:
Susanne Mierau ist Diplom-Pädagogin (Schwerpunkt Kleinkindpädagogik) und Familienbegleiterin. Sie arbeitete an der FU Berlin in Forschung und Lehre, bevor sie sich 2011 im Bereich bedürfnisorientierte Elternberatung selbständig machte. Ihr 2012 gegründetes Blog geborgen-wachsen.de und ihre Social Media Kanäle sind wichtige und viel genutzte freie Informationsportale für bedürfnisorientierte Elternschaft und kindliche Entwicklung. Susanne Mierau gibt Workshops für Eltern und Fachpersonal und spricht auf Konferenzen und Tagungen über kindliche Entwicklung, Elternschaft und Familienrollen.

Foto: Ronja Jung für geborgen-wachsen.de

Die Eingewöhnung nach dem Temperament des Kindes ausrichten

Eigentlich wissen wir, dass Kinder unterschiedlich sind und über verschieden ausgeprägte Temperamentsdimensionen verfügen. Und dennoch kommt es immer wieder vor, dass wir doch versuchen, sie in bestehende Schemata zu pressen, die scheinbar für alle Kinder gelten sollen. So finden wir immer wieder starre Richtlinien in Bezug auf den Schlaf von Kindern, in Bezug auf die Beikost und eben auch in Bezug auf die Eingewöhnung. In all diesen Bereichen sind Eltern verunsichert, wenn ihre Kinder nicht in das starre Schema passen und manchmal wirkt sich die fehlende Einpassungsfähigkeit dann auch auf das eigene Empfinden aus: Mache ich meine Sache als Elternteil falsch? Habe ich irgendwo einen groben Fehler gemacht, weil das Kind nicht nach Plan xy macht? Gerade auch bei der Eigewöhnung sind viele Eltern verunsichert, wenn sie anders als erwartet läuft und fragen sich, ob etwas „mit ihrer Eltern-Kind-Bindung nicht stimmt“.

Da stimmt was mit der Bindung nicht!

Wenn sich ein Kind wahlweise besonders schnell oder besonders langsam von den Bezugspersonen löst, wenn es wahlweise besonders forsch auf neue Personen und Situationen zugeht oder besonders abwartend ist, wird dies schnell der Bindung zugeschrieben: „Was, das Kind ist so schüchtern/so kontaktfreudig, da stimmt doch was nicht bei denen!“ Natürlich wirken sich Bindungsmuster auch auf das Verhalten aus und die Art der Interaktion des Kindes mit der Umwelt. Durch die Art, wie wir mit unseren Kindern umgehen, erleben die Kinder die sie umgebende Welt als sicher/gehen vertrauensvoll auf Neues zu bis hin zu unsicher/ängstlich. Dennoch ist die Art der Beziehung zu den nahen Bindungspersonen nicht der einzige Einfluss auf das Verhalten des Kindes.

Das Temperament nimmt Einfluss auf das Verhalten

In der Temperamentsforschung wurden von der amerikanischen Kinderpsychiaterin Stella Chess und ihrem Mann Alexander Thomas in einer Längsschnittstudie schon in den 80er Jahren verschiedene Temperamentsdimensionen identifiziert, auf denen sich Menschen in unterschiedlicher Ausprägung bewegen: Aktivitätsniveau, Rhythmus, Ablenkbarkeit, Erstreaktion bei Neuem, Anpassungsfähigkeit, Ausdauer und Aufmerksamkeit, Reaktionsintensität, Sensitivität, Stimmungsqualität.

Diese Temperamentsdimensionen nehmen Einfluss auf das alltägliche Verhalten, aber eben auch auf Eingewöhnung im Kindergarten. Gerade die Dimensionen „Anpassungsfähigkeit“ und „Erstreaktion bei Neuem“ wirken sich entscheidend aus auf die Eingewöhnung, aber auch die Abweichung vom bisherigen Rhythmus kann für ein Kind, das einen besonders regelmäßigen Rhythmus einfordert, zunächst herausfordernder sein als für ein Kind, das ohnehin weniger einen regelmäßigen Rhythmus benötigt (das dann vielleicht aber Schwierigkeiten damit haben kann, wenn es viele und enge Rituale in der Kita gibt). Auch der Umgang mit den neuen Reizen im Kindergarten (beispielsweise durch Gruppengröße und Lautstärke) kann bei Kindern unterschiedlich sein.

Es gibt also viele Bereiche, in denen Kinder auf verschiedenen Ebenen vor Herausforderungen stehen können, die sich darauf auswirken, wie schnell sie sich in die neuen Rahmenbedingungen einpassen können. Dies macht deutlich, dass Kinder sowohl eine unterschiedliche Zeitspanne brauchen können, um sich in der neuen Situation einzufinden, als auch unterschiedliche Arten der Begleitung, die ihre jeweiligen Bedürfnisse anerkennen.

Umgang mit dem Temperament nimmt Einfluss auf das Kind

Die Art der Interaktion der Umwelt mit den jeweiligen Temperamentsdimensionen nimmt starken Einfluss auf die Entwicklung des Kindes. Gerade Kinder mit extremen Ausprägungen von einzelnen Temperamentsdimensionen brauchen eine gute Unterstützung, damit sie lernen, damit gut umzugehen und sich keine langfristigen Nachteile entwickeln – das gilt sowohl zu Hause, als auch in der außerfamiliären Betreuung, beispielsweise wenn Kinder Schwierigkeiten haben in der Reaktionsintensität und deswegen viel und angemessene Begleitung von Emotionen benötigen. Diese an das jeweilige Temperament angepasste Begleitung sollte bereits in der Eingewöhnung beginnen und dann im pädagogischen Alltag fortgeführt werden. Hierfür ist es wichtig, dass bereits in der Eingewöhnung genügend Zeit vorhanden ist, um das Kind zu beobachten und die einzelnen Ausprägungen zu verstehen.

Eure

Zur Autorin:
Susanne Mierau ist Diplom-Pädagogin (Schwerpunkt Kleinkindpädagogik) und Familienbegleiterin. Sie arbeitete an der FU Berlin in Forschung und Lehre, bevor sie sich 2011 im Bereich bedürfnisorientierte Elternberatung selbständig machte. Ihr 2012 gegründetes Blog geborgen-wachsen.de und ihre Social Media Kanäle sind wichtige und viel genutzte freie Informationsportale für bedürfnisorientierte Elternschaft und kindliche Entwicklung. Susanne Mierau gibt Workshops für Eltern und Fachpersonal und spricht auf Konferenzen und Tagungen über kindliche Entwicklung, Elternschaft und Familienrollen.

Foto: Katja Vogt