„Was hast Du wieder angestellt?“, „Du musst aber nachsichtig mit Deinem kleinen Bruder sein!“, „Jetzt gib doch einfach mal nach!“ – Wenn Geschwister streiten, tappen Eltern nicht selten in die Falle, an das größere Geschwisterkind hohe Erwartungen zu haben: Es soll nicht zu hart mit dem kleineren Kind umgehen, soll Verständnis haben, nachsichtig sein, vielleicht sogar den Konflikt aktiv lösen können. Ein wenig geht nämlich aus dem Blick verloren, dass das ältere Geschwisterkind ja dennoch weiterhin ein Kind ist, vielleicht nur einige Jahre älter. Und dass ein Kind natürlich noch nicht so verständlich mit einem jüngeren Kind umgehen kann, das vielleicht gerade das sorgsam aufgebaute Spielzeug umgeworfen, freudig in den Arm des Geschwisterkindes gebissen oder scheinbar heute mehr Zuwendung bekommen hat.
Kinder haben unterschiedliche Temperamente
Unsere Kinder kommen unterschiedlich zu uns, mit verschiedenen Temperamenten, unterschiedlicher Reizbarkeit, unterschiedlichem Umgang mit Stress und Gefühlen. – Und das nicht nur in verschiedenen Familien, sondern auch innerhalb ein und derselben Familie: Geschwister können sehr unterschiedlich sein, auch wenn sie in einem scheinbar so gleichen Feld aufwachsen mit gleichen Eltern, in gleichen Räumlichkeiten. Von Anfang an aber bringen sie ihre eigene Art in das Leben mit – und Eltern reagieren darauf. Was als Temperament ins Leben mitgebracht wird, entwickelt sich über die Interaktion mit der Umwelt zu einer Persönlichkeitseigenschaft in den ersten Jahren. Eltern gehen also durchaus unterschiedlich mit ihren Kindern um, gehen unterschiedlich auf sie ein und innerhalb einer Familie können durchaus sehr verschiedene Menschen zusammenkommen, die einen Weg des gemeinsamen Lebens miteinander finden müssen.
Manchmal passt das besser, manchmal schlechter. Manchmal gibt es auch Phasen, in denen es besser oder schlechter läuft. Und manchmal gibt es Zeiten, in denen zeigt sich ein Ringen um Zuwendung, Aufmerksamkeit, Ressourcen in physischer oder psychischer Form. Dass auch das zum Geschwistersein dazu gehört, ist normal.
Das größere Kind muss nicht immer verständnisvoll sein
Auch das größere Kind hat sein persönliches Temperament, aber auch bestimmte Bedürfnisse nach Aufmerksamkeit und Zuwendung und den Wunsch nach Lernen und Exploration, dem es nachgehen möchte. Kleine Geschwister kommen diesen Bedürfnissen und Wünschen manchmal in den Weg und je nach Temperament gehen Kinder mit solchen Störungen auch unterschiedlich um. Der Anspruch, das größere Kind müsse per se folgsamer und nachsichtiger sein können, ist falsch: Weder kann es das, nur weil es etwas älter ist, noch muss es ertragen können, dass die eigenen Bedürfnisse beständig übergangen werden. Die Reihenfolge der Geschwister sagt nicht per se etwas aus über die Eigenschaften, Fähigkeiten und Möglichkeiten. Es liegt vielmehr an den Eltern, wie sie mit den Kindern umgehen und Streitigkeiten in Bahnen lenken, so dass eine Kompetenz nach und nach ausgebaut wird.
Statt Erwartungen: Offenheit, Verständnis, Einfühlungsvermögen
Natürlich wäre es der einfachere Weg, wenn das größere Kind einfach immer nachgeben würde. Es würde uns Eltern vielleicht entlasten, denn die Aufgabe, Konflikte zwischen Geschwistern zu moderieren, ist anstrengend. Dies umso mehr, je kleiner die Kinder sind und wenn gar das kleinere Geschwisterkind noch nicht sprachlich die Situation ausdrücken kann, ist es umso schwerer, objektiv zu bleiben und beiden Kindern das Gefühl zu geben, gesehen und nicht bewertet zu werden. Dennoch ist es langfristig der bessere Weg, genau dies zu tun: die Kinder nicht in „schuldig“ und „unschuldig“ einzuteilen und nicht das größere Kind zu beschimpfen oder zu bestrafen. Denn Strafen sind weder hier noch sonst ein gutes Mittel, damit Kinder langfristig etwas lernen könnten und bei Geschwisterstreitigkeiten verteilte Strafen vertiefen nur den Graben, lassen das Gefühl der Ungerechtigkeit wachsen und verstärken Auseinandersetzungen.
Es mag sein, dass Kinder in einigen Situationen gemeinsam eine Lösung finden und manchmal finden sie sogar beeindruckend kreative, sanfte, kooperative Lösungen. Aber dann, wenn sie das nicht schaffen, brauchen sie unsere Hilfe. Dass sie es nicht (immer) schaffen, ist auch normal und kein Zeichen unseres elterlichen Versagens. Sie sich dann aber sich selbst zu überlassen, ist nicht sinnvoll. Hilfe meint nicht, dass Eltern die Lösung finden müssten. Hilfe meint, einen Lösungsweg anzuschieben und sie darin zu unterstützen, gut miteinander umzugehen. Damit sie das tun – gerade auch im Konfliktfall – ist unser positives Vorbild wichtig und ein offenes Begleiten von Konfliktsituationen (wie das geht, steht hier).
Beim nächsten Geschwisterstreit heißt es deswegen: Erst einmal tief durchatmen, bevor ein „Was hast du jetzt wieder gemacht?“ oder „Kannst du nicht einfach nachgeben?“ über die Lippen kommt und sich dann mit allen beteiligten Kindern gemeinsam hinsetzen, jedes trösten und dann gemeinsam die Situation besprechen. Und auch dann, wenn ein noch nicht sprechendes Kind beteiligt ist, können wir trösten und erklären: „Ich war nicht dabei, ich kann das nicht mitfühlen, aber ich kann versuchen, mit euch zusammen jetzt eine Lösung zu suchen für das Problem.“
Eure
Zur Autorin:
Susanne Mierau ist Diplom-Pädagogin (Schwerpunkt Kleinkindpädagogik) und Familienbegleiterin. Sie arbeitete an der FU Berlin in Forschung und Lehre, bevor sie sich 2011 im Bereich bedürfnisorientierte Elternberatung selbständig machte. Ihr 2012 gegründetes Blog geborgen-wachsen.de und ihre Social Media Kanäle sind wichtige und viel genutzte freie Informationsportale für bedürfnisorientierte Elternschaft und kindliche Entwicklung. Susanne Mierau gibt Workshops für Eltern und Fachpersonal und spricht auf Konferenzen und Tagungen über kindliche Entwicklung, Elternschaft und Familienrollen.
Foto: Ronja Jung für geborgen-wachsen.de
Mehr zum Thema Geschwisterstreit findest Du hier:
Wenn Geschwister streiten – Teil 1: Streit als Entwicklungsressource betrachten
Wenn Geschwister streiten – Teil 2: Hauen, kämpfen, balgen – Ist das noch normal?
Wenn Geschwister streiten – Teil 3: Wann muss ich eingreifen?
Wenn Geschwister streiten – Teil 4: „Meine Mama, mein Papa!“ – mit Rivalität umgehen
Foto: Ronja Jung für geborgenwachsen.de
Folgende Schritte können Eltern als „Konfliktcoaches“ anwenden:
Gefühle beider benennen und akzeptieren
Herausarbeiten, was jeder wollte, und anerkennen, dass das eine schwierige Situation ist
Mit beiden erarbeiten, wie sie sich in Zukunft bei ähnlichen Situationen verhalten können
Einladen zur Problemlösung (zum Beispiel „Wie wollt ihr jetzt …?“)
Die Eltern werden vor allem bei der Emotionsregulation (Schritte 1 und 2) gebraucht, also dabei, die Gefühle zu akzeptieren und die Bedürfnisse herauszuarbeiten, bis die Wogen sich geglättet haben.