Wir alle kennen es: Situationen, in denen wir merken, dass das Kind etwas tun möchte, aber noch nicht kann. Das Baby, das sich vom Rücken auf den Bauch drehen möchte, den Kopf auf die Brust zieht, das Bein anknickt und sich mit einem Ächtzen versucht, umzudrehen. Das Kind, das die ersten Schritte machen möchte, aber sich scheinbar nicht traut, loszugehen. Das größere Kind, das ein Wort schreiben möchte, aber die Buchstaben sich einfach nicht formen wollen lassen. – Je nach Temperament des Kindes sind die Kinder unterschiedlich im Ausdruck ihrer Frustration und schimpfen oder schreien. Viele Eltern sind dann verunsichert: Soll das Kind weiter probieren oder soll ich eingreifen?
Es geht nicht nur um das Ziel, auch um den Weg
Der Lernprozeß, die Lücke zu schließen zwischen dem, was ein Kind ohne Hilfe bewerkstelligen kann und dem, wobei es noch Hilfe braucht, wird als Scaffolding bezeichnet. Wir kennen dies aus vielen Bereichen des Alltags mit Kindern und in der Begleitung über die Jahre hinweg wird es uns immer wieder begegnen. Manchmal sind Eltern versucht, die Anstrengungen des Kindes einfach zu beenden und selber tätig zu werden: Das Baby, das sich umzudrehen versucht, wird einfach auf den Bauch gelegt, das Kind, das nicht alleine laufen kann, wird an beiden Händen geführt und dem Kind, das die Buchstaben noch nicht so formen kann, wie sie eigentlich aussehen sollen, wird der Stift aus der Hand genommen, um als Erwachsener selber schnell zu schreiben. Dies erscheint uns Erwachsenen oft als einfache Lösung, denn scheinbar haben wir das Problem des Kindes gelöst. Manchmal werden die Kinder aber gerade dann erst besonders ungehalten und Eltern fragen sich: Aber es hat doch jetzt genau das, was es haben wollte? Nicht selten führt eine solche Situation dann zum Streit. Übersehen wurde dabei nämlich, dass es nicht nur um das Ziel geht, sondern auch um den Weg.
Hilfe, es selbst zu tun
Kinder wollen lernen und ihre Fertigkeiten ausbauen – jeden Tag in vielen Situationen. Manchmal kennen sie noch nicht den richtigen Weg, um zum erwünschten Ziel zu kommen, aber sie wollen auch den Weg kennenlernen, um nachhaltig zu lernen und dieses Ziel immer wieder erreichen zu können oder sogar darauf aufbauend noch weitere Fertigkeiten lernen. Gleichzeitig sind sie frustriert, wenn es nicht funktioniert. Die Aufgabe der Eltern ist es nun, einzuschätzen, ob das Kind mit eigenen Mitteln doch noch das Ziel erreichen kann oder ob es eine Hilfe braucht. Diese Hilfe meint aber nicht, dem Kind die Aufgabe abzunehmen, sondern vielmehr im Sinne von Maria Montessoris „Hilf mir, es selbst zu tun!“ das Kind darin zu unterstützen, das Problem allein zu bewältigen.
Was also können wir tun? Zunächst müssen wir beobachten: Ist dies eine eventuell schaffbare Situation für das Kind? Was braucht es für Unterstützung, um es selbst zu schaffen? Kann ich das sich drehende Kind unterstützen, in dem ich ihm zeige, wie es sich noch mehr runden kann, um in die Drehung zu kommen? Kann ich dem laufenden Kind anbieten, dass es meine Hand auf der für das Kind passenden Höhe halten kann? Kann ich das schreibende Kind mit Schwungübungen unterstützen, damit die Buchstaben runder werden?
Selbstwirksamkeit fühlen
Wenn das Kind die Aufgabe mit etwas Hilfe selbst bewältigen kann, fühlt es sich selbst wirksam: Es macht die Erfahrung, aus eigenem Antrieb heraus etwas zu verändern, zu schaffen. Es freut sich. Diese Freude können wir teilen durch ein Lächeln, Worte der Beschreibung „Du lachst! Freust du dich, dass du es geschafft hast?“ und Anteilnahme an der Freude des Kindes. Wir müssen nicht zwangsweise mit Worten loben, sondern wirklich sehen und Anteil nehmen an dem Fortschritt und der Entwicklung, die das Kind gerade jetzt gezeigt hat.
Eure
Zur Autorin:
Susanne Mierau ist Diplom-Pädagogin (Schwerpunkt Kleinkindpädagogik) und Familienbegleiterin. Sie arbeitete an der FU Berlin in Forschung und Lehre, bevor sie sich 2011 im Bereich bedürfnisorientierte Elternberatung selbständig machte. Ihr 2012 gegründetes Blog geborgen-wachsen.de und ihre Social Media Kanäle sind wichtige und viel genutzte freie Informationsportale für bedürfnisorientierte Elternschaft und kindliche Entwicklung. Susanne Mierau gibt Workshops für Eltern und Fachpersonal und spricht auf Konferenzen und Tagungen über kindliche Entwicklung, Elternschaft und Familienrollen.
Foto: Ronja Jung für geborgen-wachsen.de
Hallo,
danke für diesen Artikel. Ich lese hier schon lange mit muss nun endlich mal mein großes Lob für dich, deine Seite und deine Ansichten äußern. Du sprichst mir aus der Seele.
Grüße
Jana
Danke <3
Liebe Susanne, ich finde die Begleitung dieser Frustration nicht immer einfach: gestern abend hat mein 11 Monate alter Sohn immer wieder versucht, den Klickverschluss der Trage alleine zu verschließen. Völlig übermüdet, aber mit erstaunlicher Konzentration und über einen sehr langen Zeitraum hinweg. Trotz seiner großen Bemühungen haben seine kleinen Händchen es einfach nicht geschafft, es war eine unlösbare Aufgabe für ihn. Er wurde immer ärgerlicher und weinte irgendwann herzzerreißend. Ich habe versucht, ihn in seinen Gefühlen gut zu begleiten, mit Worten und mit meiner stützenden Hand an seinem Rücken. Nach langer Zeit hat er dann endlich von der Trage abgelassen und ließ sich hochnehmen, hat aber noch lange geweint. Puh! Gibt es einen Artikel über die gute Begleitung in solchen Momenten? Danke für diesen tollen Blog, der mich schon viele Jahre in meinem Muttersein begleitet und prägt, Tine
Ja, das Aushalten von Gefühlen und Annehmen ist manchmal gar nicht so einfach. Hier steht dazu noch etwas mehr: https://geborgen-wachsen.de/2021/02/22/natuerlich-darfst-du-wuetend-traurig-aengstlich-sein/
Hallo Susanne,
du schreibst immer so schöne Artikel und ich versuche mir das ein oder andere anzunehmen. Zum Thema Wut habe ich eine Frage. Wir haben neben unserer 4-Jähringen Tochter auch einen kleinen 7-Monate kleinen zornigen Hosenmatz. Grundsätzlich ist er ein sehr fröhlicher und freundlicher Zeitgenosse bis er etwas nicht hinbekommt oder etwas nicht darf.
Er zieht sich seit 3 Wochen überall hoch, kommt aber noch nicht wieder runter. Fängt logischerweise an zu fürchterlich vor Wut an zu weinen wenn er nicht mehr kann oder er umfällt (auf ein Kissen oder im Laufgitter). Muss ich ihm diese Frustration nehmen oder kann ich es irgendwie?
Bestimmte Sachen im Haushalt soll er einfach nicht anfassen (Klobürste, Schuhe, Pflanzen, Kabel). Wenn ich es ihm verbiete fängt er sofort an zu bitterlich zu schreien und krabbelt unter Weinen trotzdem wieder hin. Kann ich ihn dabei unterstützen mit dieser Wut umzugehen?
Bei seiner großen Schwester hat es in diesem Alter auch schon wunderbar geklappt und ich möchte nicht alles wegstellen.
Für ein oder zwei Tipps oder Vorschläge wäre ich dir sehr dankbar.
Liebe Grüße
Julia
Hier gibt es noch einige Ideen zum Umgang mit der Wut: https://geborgen-wachsen.de/2021/02/22/natuerlich-darfst-du-wuetend-traurig-aengstlich-sein/
Danke für den Artikel.
Unser „Problem“ ist aktuell, dass wir manchmal nicht erkennen was er schaffen will… Da ist auch für uns dann frustrierend weil wir ihm weder helfen können noch abschätzen können, kann er es überhaupt schon schaffen..?