Tag: 18. November 2019

Ich spüre nicht die Liebe

Und da liegt es dann, dieses kleine Wesen in unserem Arm. Nach einer längeren oder kürzeren, nach einer einfachen oder schweren Geburt. Wir blicken es an, berühren es, staunen über den kleinen Menschen, der dort im Arm liegt – und fühlen… Ja, was eigentlich? Ja, es gibt die Liebe auf den ersten Blick. Die Liebe, die sich an die Geburt anschließt und sofort erscheint und einen wie eine Welle überrollt voller Emotionen. Neben dieser gewaltigen Flutwelle gibt es aber auch kleine Wellen oder auch erst einmal Ebbe. Es ist unterschiedlich, wie wir uns nach der Geburt fühlen und es ist unterschiedlich, was wir nach der Geburt fühlen.

Die große Angst

Wenn sich dieses große Gefühl direkt nach der Geburt erst einmal nicht einstellt, schleicht sich oft langsam die Unsicherheit ein: Du müsstest doch aber jetzt…? Warum fühlst Du jetzt nichts? Und diese Unsicherheit sich selbst gegenüber wandelt sich nicht selten dann in eine Angst: Wenn ich keine Liebe fühle, was tue ich meinem Kind an? Bindung ist so wichtig, mein Kind wird es immer schwer haben, wenn ich es jetzt nicht liebe!

Es ist gut, wenn dieses Gefühl in Worte gefasst wird, wenn es gegenüber Partner*in oder Hebamme formuliert wird. Dann kann beruhigt und geholfen werden. Nicht selten aber überwiegt erst einmal die Scham, die still macht. Die dazu führt, über die fehlenden Gefühle nicht zu sprechen, sondern diese schweren Gefühle und Gedanken in sich zu tragen, in sich zu konservieren und zu hoffen, dass es irgendwann anders wird oder sich irgendwie damit abzufinden.

Manchmal kommt die Liebe später

Wir müssen uns aber nicht schämen, wenn die Liebe nicht sofort kommt. Manchmal stehen andere Empfindungen nach der Geburt im Vordergrund und es ist kein Raum dafür da, gerade die Beziehung zum Kind einzugehen: die Geburt muss verarbeitet werden, Traumata verarbeitet werden, die Rahmenbedingungen der neuen Familie sind schwierig oder der Start war unglaublich kräftezehrend und die Beziehung konnte nicht aufgebaut werden, weil vielleicht das Kind oder die Mutter medizinisch versorgt werden mussten und keinen Kontakt hatten. Es kann viele Gründe dafür geben, dass das Gefühl der Liebe erst einmal nicht da ist.

Was tun, wenn die Liebe auf sich warten lässt?

Wenn sich das Gefühl der Liebe nicht zeigt, müssen sich Eltern also nicht schämen. Gut ist es aber, das fehlende Gefühl Fachpersonen gegenüber anzusprechen. Die erste Anlaufstelle kann die Hebamme sein. Sollte keine vorhanden sein, die Frauenärztin/der Frauenarzt, die entsprechend weiter verweisen können. Aber auch Familienberatungsstellen und auch der Verein Schatten und Licht können weitere Unterstützung bieten.

Je nach Ursache können Fachpersonen dann verschiedene Methoden anwenden, um den Gefühlsweg zwischen Baby und Elternteil anzubahnen: Das kann nach einer als traumatisch erlebten Geburt ein Bondingbad (pdf) sein oder aber eine Gesprächstherapie oder andere Form der Begleitung. Manchmal braucht es auch „einfach“ Zeit und die Gefühle entwickeln sich nach und nach ohne weitere Unterstützung.

Schade ich meinem Kind?

Die häufigste Angst bei fehlender Liebe ist, dem Kind damit zu schaden, wenn nicht von Anfang an tiefe Emotionen gefühlt werden, sie kann in einen regelrechten Bindungsstress verfallen. Wichtig ist zunächst, dass die grundlegenden Bedürfnisse des Kindes befriedigt werden: es gut versorgt wird in allen Bereichen der Pflege und Ernährung, dass es Körperkontakt hat und angesprochen wird. Durch dieses Gefühl des sicher umsorgt Werdens baut sich beim Kind die Bindung zur Bezugsperson aus, denn von Seiten des Kindes ist Bindung zunächst ein Sicherheitssystem, wie der Facharzt für Kinder- und Jugendpsychiatrie und Psychotraumatologe Prof. Dr. Karl-Heinz Brisch es formuliert. Das Kind vertraut darauf, dass sein Leben sicher ist und es Erwachsene gibt, die sich darum sorgen. Die Art der Interaktion wirkt sich dann auf die tatsächliche Art der Bindungsbeziehung aus. Aber: Bindung braucht Zeit. Auf Seiten des Kindes wie auch der Erwachsenen.

Erwachsene gehen nach und nach eine Bindung zum Kind ein und diese langsame Bindungsentwicklung ist in Anbetracht der Menschheitsgeschichte und früher hohen Säuglingssterblichkeit durchaus sinnvoll. Bis das Bindungsmuster vollständig aufgebaut ist, dauert es etwa drei Jahre. Zwar werden im ersten Jahr die Grundlagen gebildet und um den ersten Geburtstag herum zeigt das Kind dann jene Verhaltensweisen, die wir als Ausdruck von Bindungsbeziehungen kennen: Es versucht aktiv, Nähe herzustellen und reagiert mit Abwehr auf Trennung, sucht Sicherheit bei der Bindungsperson und erkundet von ihr ausgehend die weitere Umgebung und kehrt wieder zurück, wenn es das braucht.

Wenn es mir schwer fällt

Wenn es also einem Elternteil schwer fällt, eine tiefe emotionale Verbundenheit zum Kind aufzubauen, ist es – wie schon erwähnt – sinnvoll, sich Hilfe zu holen. Darüber hinaus sollte sicher gestellt werden, dass eine andere Bezugsperson jene Verbindung aufbaut, die vielleicht aktuell noch fehlt. Das kann der andere Elternteil sein oder aber auch weitere Familienmitglieder, die sich aktiv und viel um das Kind kümmern können. Im Laufe des Lebens wird das Kind viele Bindungen zu unterschiedlichen Personen aufbauen in unterschiedlicher Art und unterschiedlicher Qualität. Die eigene tiefe Bindung kann ebenso später aufgenommen werden, wenn eventuelle Hindernisse beseitigt sind. Auch wenn erst zu einem späteren Zeitpunkt diese tiefe Verbundenheit empfunden und ausgebildet wird, ist sie deswegen nicht einer schlechteren Qualität. Manchmal braucht Liebe Zeit.

Es ist wesentlicher häufiger, dass die anfängliche Verliebtheit fehlt, als wir oft denken, Nur sprechen viele Eltern nicht darüber. Traut Euch, Gefühle und fehlende Gefühle anzusprechen.
Eure

Weiterführende Literatur:
Mierau, Susanne (2019): Mutter.Sein – Von der Last eines Ideals und dem Glück des eigenen Wegs.
Brisch, Karl-Heinz (2010): SAFE – Sichere Ausbildung für Eltern. Stuttgart: Klett-Cotta.
Meissner, Brigitte (2013): Emotionale Narben aus Schwangerschaft und Geburt auflösen. – Brigitte Meissner Verlag.

Zur Autorin:
Susanne Mierau ist Diplom-Pädagogin (Schwerpunkt Kleinkindpädagogik) und Familienbegleiterin. Sie arbeitete an der FU Berlin in Forschung und Lehre, bevor sie sich 2011 im Bereich bedürfnisorientierte Elternberatung selbständig machte. Ihr 2012 gegründetes Blog geborgen-wachsen.de und ihre Social Media Kanäle sind wichtige und viel genutzte freie Informationsportale für bedürfnisorientierte Elternschaft und kindliche Entwicklung. Susanne Mierau gibt Workshops für Eltern und Fachpersonal und spricht auf Konferenzen und Tagungen über kindliche Entwicklung, Elternschaft und Familienrollen.

Foto: Ronja Jung für geborgen-wachsen.de