Hilfe, mein Baby fremdelt!

In den ersten Monaten ist es oft noch so einfach: Das Baby strahlt die anderen Menschen an, lässt sich je nach Tagesform und Temperament gerne in andere Arme legen und ist scheinbar einspannt im Kontakt mit den anderen. Und dann, irgendwann nach dem ersten halben Jahr, ändert es sich auf einmal: Auf einmal werden andere nicht mehr so leicht angestrahlt und auf den Arm zu Oma oder Opa geht es nun auch nicht mehr so entspannt.

Warum Babys fremdeln

Was zunächst als Rückschritt und unerfreulicher Umstand betrachtet wird, ist eigentlich das Anzeichen eines großen Entwicklungsschritts des Kindes: Irgendwann nach dem sechsten Monat zeigen Kinder das so genannte „Fremdeln“ – und zwar unabhängig davon, ob sie in einer Gemeinschaft aufwachsen, in der sie viel von anderen Personen außerhalb der Eltern umsorgt werden oder nur von diesen.

Rund um den sechsten Monat hat sich eine Präferenz herausgebildet für das Einfordern der „Hauptbindungsperson“, also der Person, durch die die Bedürfnisse in der meisten Zeit besonders prompt und verlässlich erfüllt werden. Die Hauptbindungsperson muss nicht einem bestimmten Geschlecht angehören, es geht allein darum, welche Erfahrungen das Baby bislang gemacht hat in Bezug auf die Bedürfniserfüllung. Wie stark das Fremdeln ist, ist von Kind zu Kind unterschiedlich: Eine Frage des Temperaments und nicht des Umstandes, ob das Kind von den Eltern zu sehr „verwöhnt“ wird oder nicht – auch wenn Eltern von stark fremdelnden Kinder leider oft hören müssen, dass das wohl an ihnen liegen würde. Es stimmt nicht.

Das Fremdeln kommt zustande, weil sich die Bindung nun ausgebildet hat. Zwar entwickelt sich die Bindung weiterhin (insbesondere innerhalb der ersten drei Jahre), aber das Baby weiß nun, wer es verlässlich umsorgt und unterscheidet zwischen fremden und vertrauten Personen. Fremd kann dabei auch sein, wer zwar bekannt, aber eben wenig da ist, um es zu umsorgen. So kommt es, dass auch Oma, Opa, Tante und Onkel, die vielleicht längere Zeit nicht gesehen wurden, zunächst abgelehnt werden.

Umgang mit dem Fremdeln

Dass Kinder fremdeln, ist also völlig normal. Als Eltern brauchen wir deswegen kein schlechtes Gewissen haben: Es ist kein Anzeichen dafür, dass irgendetwas „falsch“ gemacht wurde. Vielmehr ist es sogar wichtig, das Fremdeln des Kindes anzunehmen und auch die Personen, denen gegenüber es auftritt, aufzuklären: Das Baby lehnt sie nicht aus persönlichen Gründen ab, sondern ist aktuell in einer weiteren Entwicklungsphase, in der es gerade lernt, vertraut und unvertraut zu unterscheiden – eine wichtige und vor allem schützende Lernerfahrung.


Dos and Don’ts in der Fremdelphase
Sich nicht beirren lassen: Fremdeln ist normal
Andere Personen aufklären: Fremdeln nicht persönlich nehmen
Das Kind nicht zu Körperkontakt mit anderen zwingen, Grenzen & Temperament respektieren
Langsame Kontaktaufnahme durch andere anbahnen
Kontakt mit anderen nicht vermeiden, aber sanfte Übergänge gestalten

Das Temperament des Babys will berücksichtigt werden: Kinder, die sich jetzt gerade nur auf vertrauten Armen wohl fühlen, müssen nicht dazu überredet werden, auf anderen Armen fröhlich zu sein. Vielmehr ist es gut, dem Kind die Zeit zu lassen, die es braucht, um Kontakt aufzunehmen und sicher zu werden. Das Baby sollte also dann, wenn es Unwohlsein bekundet, nicht einfach trotzdem weiter gereicht werden im Sinne von „Da muss es jetzt durch und wird schon sehen, dass es gut ist“, sondern es darf erst einmal in Ruhe von einem „sicheren“ Arm aus Kontakt aufnehmen und dann von jemand anderem übernommen werden, wenn es bereit dazu ist. So kann auch die andere Person sich langsam den Bedürfnissen des Babys nähern, erst über Augenkontakt und Sprache Kontakt aufnehmen und dann über Berührung.

Susanne Mierau ist u.a. Diplom-Pädagogin (Schwerpunkt Kleinkindpädagogik)Familienbegleiterin und Mutter von 3 Kindern. 2012 hat sie „Geborgen Wachsen“ ins Leben gerufen, das seither zu einem der größten deutschsprachigen Magazine über bindungsorientierte Elternschaft gewachsen ist. Sie ist Autorin diverser Elternratgeber, spricht auf Konferenzen und Tagungen, arbeitet in der Elternberatung und bildet Fachpersonal in Hinblick auf bindungsorientierte Elternberatung mit verschiedenen Schwerpunkten weiter.  

6 Kommentare

  1. Hallo Susanne,
    sehr interessant! Aber wie ist es mit Kindern, die irgendwie so gar nicht fremdeln/gefremdelt haben? Ist das dann im Umkehrschluss ein Zeichen für eine mangelnde Bindung?

    • Nein, denn das Fremdeln ist auch eine Frage des Temperaments. Lise Elliot hat Kinder in „gehemmt“ und „ungehemmt“ in einer Studie unterteilt (ich finde die Bezeichnung unpassend, weiß nicht, ob das nur an der Übersetzung liegt, kenne die Studie nicht auf englisch). Gehemmt/ungehemmt sind eta 15% der Kinder, dazwischen sind alle anderen. Die „ungehemmten“ Kinder sind jene, die besonders mutig, kontaktfreudig, draufgängerisch sind und die auch eher gefährliche Situationen nicht so sehr gefährlich einschätzen. Das ist unabhängig von der Bindung.

  2. Hallo Susanne,
    Wie kann ich einem stark fremdelnden Baby gerecht werden wenn ich Termine wahrnehmen möchte? Normalerweise hat hier die Oma ausgeholfen, aber jetzt wird sie nicht akzeptiert. Auch nach langer Aufwärmphase zu dritt, möchte sie grad nicht von Mama weg. Hilft hier nur die Oma öfter zu dritt zu treffen bis sich die Kleine wieder gewöhnt? Oder abwarten bis das fremdeln zurück geht? Nachdem ich sie jetzt trotzdem einmal kurz allein mit Oma gelassen habe, hab ich das Gefühl sie klebt noch mehr an mir.
    Liebe Grüße, Jitka

    • Sicherheit aufbauen und beim Kind das Gefühl ausbauen, dass es auch von der Oma sicher und passend umsorgt wird erscheint dann der praktischste Weg zu sein

  3. Hallo Susanne ?
    Mein Sohn ist jetzt ziemlich genau 2,5 Jahre alt und fremdelt ganz arg. Er mochte noch nie von fremden berührt oder auf den Arm genommen werden und diese Grenze haben wir für ihn, als er noch nicht sprechen konnte, auch immer gewahrt. Mittlerweile spricht er richtig gut, ist kompromissbereit und verständnisvoll. Aber wehe eine Person, die nicht unserem engsten Kreis angehört betritt einen für ihn sicheren Raum. Also zu Hause, bei Oma, bei der Tagesmutter.
    Er springt mir förmlich auf den Arm und ist voller Panik, lässt sich nicht beruhigen und weint. Er vermeidet sogar den Blickkontakt mit dem Besucher. Außerhalb also beim Einkaufen, auf dem Spielplatz oder sonst wo gibt es kaum Probleme. Er spricht nicht mit Fremden, egal wie freundlich sie sind und egal ob sie ihm gerade an der Wursttheke eine Scheibe Fleischwurst schenken wollen, aber es ist total okay für ihn und er wirkt unbeschwert. Vllt weil die Abläufe doch vertraut sind. Ich kann mir nur so gar nicht erklären, wieso es zu Hause so arg ist und ich sorge mich natürlich, dass es an mangelnder Sicherheit in der Bindung liegt. Wobei ich mir auch das nicht erklären könnte ??‍♀️
    Vielleicht hast du ja noch einen hilfreichen Tipp oder eine gute Idee für mich. Ich würde mich auf jeden Fall freuen!
    Viele Grüße,
    Laura

    • Liebe Laura, natürlich ist es wichtig, auch zu hinterfragen, ob es eine konkrete Ursache in der Beziehung oder ein bestimmtes Ereignis gab, das dieses Verhalten beeinflusst haben kann. Es gibt aber auch die verschiedenen Temperamentsdimensionen bei Menschen, von denen (nach Thomas und Chess) eine Dimension die „Erstreaktion bei Neuem“ ist und es hier ein breites Verhaltensspektrum von Rückzug bis Annäherung gibt.

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