Tag: 26. Oktober 2020

Erwartungsanpassung

„Meine Güte, warum kannst du denn nicht einmal ruhig am Tisch sitzen bleiben!“, „Du darfst nicht so dicht an die Straße rennen, wie oft soll ich das noch sagen?!“, „Du isst jetzt bitte auf, was auf deinem Teller liegt!“ Wie oft haben Eltern diese oder ähnliche Erwartungen an ihre Kleinkinder und werden darin enttäuscht? Oft nicht nur einmal, sondern immer wieder. Und immer wieder taucht der Streit auf, warum das Kind denn nun nicht macht, was man doch schon x Mal besprochen hat, was man vom Kind erwartet. – Anstatt zu überlegen: Wenn das hier immer schief läuft, dann ist vielleicht nicht das Kind „das Problem“, sondern meine Erwartung?

Wir erwarten oft zu viel

Was können Kinder in welchem Alter überhaupt umsetzen? Diese Frage ist für viele Eltern gar nicht so einfach zu beantworten. Auch, da Referenzwerte fehlen: Im Alltag sind wir wenig mit Kindern unterschiedlicher Altersgruppen zusammen und an unser eigenes Können und Tun in der frühen Kindheit können wir uns oft nur gering oder verzerrt erinnern. Wir gehen daher oft von Erwartungen aus, von denen wir annehmen, dass sie für ein Kind einfach zu erfüllen wären: Schließlich kann das Kind doch auf unsere Worte hören, wenn es sie versteht? Wenn es weiß, was „Stopp“ heißt, dann kann es doch an der Straße auch stoppen? Und es ist doch auch nicht zu viel verlangt, einfach am Tisch mal eine halbe Stunde ruhig zu bleiben und zu entspannen? das klingt doch alles ganz logisch und nachvollziehbar und irgendwie auch einfach.

Aber das ist es nicht. Kleinkinder denken anders als wir. In vielen Situationen übernimmt das emotionale Gehirn die Führung. Und auch ihr Einfühlungsvermögen ist noch anders als bei uns. Zudem haben sie vielleicht noch nicht passende Arten gelernt, um mit ihrem Temperament gesellschaftskonform umzugehen (bspw. wie man Wut in einer sozialen Gruppe ausdrücken kann ohne andere körperlich zu verletzen). Und unsere Erwartungshaltung schränkt in vielen Punkten ihre Neugier ein, die aber ein Motor der Entwicklung ist. Vielleicht erwarten wir auch gerade dann etwas, wenn das Kind sich schon sehr viel am Tag angepasst hat und gegen Nachmittag/Abend nicht mehr bereit oder fähig ist, noch weitere Anpassungen zu leisten. Kurz: Wir können uns oft nicht in das kindliche Denken und Fühlen hineinversetzen und setzen eher erwachsene Verhaltens- und Denkweisen voraus.

Der große Krach

Der große Streit entsteht oft dann, wenn das Kind den elterlichen Erwartungen (natürlicherweise) nicht entspricht und es entweder harsch abgehalten wird vom Tun oder nach dem aus Elternsicht falschen Verhalten noch angeschimpft/bestraft wird. So ergeben sich Konfliktfelder, die immer wieder auftreten und sich oft über die Zeit zuspitzen durch ein „Ich hab doch schon tausendmal gesagt, dass du…“

Statt Erwartungen: Nachdenken & Verantwortung übernehmen

Ein Kleinkind ist keine erwachsene Person. Es kann und muss noch nicht verantwortungsbewusst handeln. Es kann noch nicht alles überblicken, abwägen und immer richtige Entscheidungen treffen. Es kann vielleicht nicht über einen längeren Zeitraum ruhig am Tisch sitzen, kann nicht die Verantwortung dafür übernehmen, im Straßenverkehr richtig zu handeln und Risiken richtig einzuschätzen und es kann oft nicht die Mengen abschätzen, die es essen kann. Ein Kleinkind ist ein Kleinkind.

Wenn wir merken, dass wir immer wieder in Streitsituationen kommen, lohnt sich ein Blick auf diese Situation und eine der ersten Fragen kann immer sein: Sind meine Erwartungen an das kindliche Verhalten vielleicht zu hoch? Und zwar nicht nur in Bezug auf das Alter, sondern in Bezug auf dieses individuelle Kind mit seinem persönlichen Temperament und Entwicklungsprofil. Wenn wir feststellen, dass dies so ist, müssen wir die Verantwortung übernehmen. Das bedeutet, dass wir nicht erwarten, dass das Kind still sitzt, nicht auf die Straße rennt und sich die passende Menge auftut, sondern dass wir Rahmenbedingungen schaffen, die dem Kind angepasst sind.

Solche Rahmenbedingungen sind beispielsweise, dass wir das Kind im Straßenverkehr schützen und die Verantwortung nicht abgeben. Dass wir Mahlzeiten so gestalten, dass wir in Ruhe essen können bis wir satt sind, aber das Kind vielleicht früher aufstehen kann oder am Tisch etwas anderes machen kann. Oder dass wir vielleicht kleine Schöpfkellen nutzen und die Mahlzeit so gestalten, dass immer kleine Portionen genommen werden und nachgenommen wird, wenn mehr gebraucht wird.

Vor allem müssen wir verstehen lernen, dass es nichts bringt, ein Kind auszuschimpfen oder zu bestrafen, weil es unsere zu hohen Erwartungen nicht erfüllt. Denn das qüält das Kind, uns selbst und unsere Beziehung.

Eure

Zur Autorin:
Susanne Mierau ist Diplom-Pädagogin (Schwerpunkt Kleinkindpädagogik) und Familienbegleiterin. Sie arbeitete an der FU Berlin in Forschung und Lehre, bevor sie sich 2011 im Bereich bedürfnisorientierte Elternberatung selbständig machte. Ihr 2012 gegründetes Blog geborgen-wachsen.de und ihre Social Media Kanäle sind wichtige und viel genutzte freie Informationsportale für bedürfnisorientierte Elternschaft und kindliche Entwicklung. Susanne Mierau gibt Workshops für Eltern und Fachpersonal und spricht auf Konferenzen und Tagungen über kindliche Entwicklung, Elternschaft und Familienrollen.

Foto: Ronja Jung für geborgen-wachsen.de