Berührungsqualität

Wir wissen: Berührung ist wichtig – nicht nur für unsere Kinder, aber gerade für sie und ihre Entwicklung. Über Berührung erfahren Neugeborene Schutz und Nähe – dies ist insbesondere auch deswegen wichtig, weil ihre Fernsinne wie das Sehen und Hören noch nicht voll ausgebildet sind. Berührung, In-den-Arm-Nehmen, gibt Sicherheit und erinnert an die geborgene Umhüllung im Uterus. Doch nicht nur das: Auch Atmung, Körpertemperatur und Blutzuckerspiegel stabilisieren sich nach der Geburt durch Berührung. Auf der anderen Seite hat auch die Körperkontakt gebende Bindungsperson einen Vorteil von dieser körperlichen Nähe: Das ausgeschüttete Hormon Oxytocin unterstützt den Aufbau der Bindung. So hat der frühe Körperkontakt nachhaltige Auswirkungen. Und noch mehr: Berührung bleibt Zeit unseres Lebens wichtig, unterstützt uns, lindert und fördert. Doch es kommt nicht nur auf die Häufigkeit an, sondern auch die Berührungsqualität ist wichtig.

Streicheleinheiten

Bei „Berührungsqualität“ fällt uns sicherlich zunächst das Streicheln ein: Wenn wir uns ganz bewusst einer anderen Person zuwenden und liebevoll die Haut dieser Person berühren. In unserer Haut gibt es für die Wahrnehmung des Streichelns ganz besondere Rezeptoren: die C-taktikeln Fasern*. Sie reagieren ganz besonders auf Berührungen mit der Temperatur von Fingerspitzen (ca. 32°C) mit einer Geschwindigkeit von ein bis zehn Zentimetern pro Sekunde. – Wahrscheinlich nutzen Eltern intuitiv in der Mehrheit genau diese Geschwindigkeit für den liebevollen Körperkontakt. Und das Baby empfindet genau diese Art der Berührung als besonders angenehm, da ein besonderes Aktivierungsmuster im Gehirn ausgelöst wird. Auf der anderen Seite sind die Fingerspitzen der streichelnden Person besonders empfindlich durch dort gebündelte sensible Nervenenden, Blutgefäße und Drüsen – mit „Fingerspitengefühl“ üben wir Berührung aus**.

Alltägliche Berührungen

Doch nicht nur für Babys ist Berührung wichtig und nicht nur in besonderen Situationen findet Körperkontakt mit Kindern satt: Auch größere Kinder brauchen regelmäßig positiven Körperkontakt und die Stimulation des Tastsinns für eine gesunde Entwicklung. Kinder, die positiven Körperkontakt erfahren, weinen weniger* – viele Eltern verhalten sich auch hier wieder intuitiv und nehmen weinende Kinder oder verängstigte Kinder in den Arm , beispielsweise bei Untersuchungen. Auch wenn wir Hilfe oder Unterstützung benötigen, verwenden wir oft Körperkontakt, denn die freundliche Berührung ermöglicht eine emotionale Verbindung durch das Ausschütten von Belohnungsreizen im Gehirn. Positive Berührung ist gut für das Kind und unterstützt das friedvolle, entspannte Miteinander. Bei Menschen, die sich emotional nahe stehen, hat das über Berührung ausgeschüttete Oxytocin eine verbindungsfördernde Funktion.

Für unserem Alltag mit Kindern bedeutet dies: die Berührungsqualität ist besonders wichtig. Ein hartes An-der-Hand-Ziehen oder ruppiges Anfassen löst etwas anderes in einem Menschen aus, als eine sanfte Berührung. Und nicht nur das: wir können sogar über die Art unserer Berührung ganz gegenteilige Reaktionen hervorrufen. Berühren wir ein Kind liebevoll und zugewandt beispielsweise bei einer Untersuchung bei der Kinderärztin, ist das Kind beruhigter und wahrscheinlich kompromissfähiger als wenn wir es ruppig festhalten und erklären, es solle sich nicht so anstellen.

Aber auch darüber hinaus gibt es viele Situationen in unserem Alltag, in dem wir auf die Berührungsqualität achten können: Beim Wickeln ist eine achtsame Berührung nicht nur angenehmer, sondern unterstützend. Wir sprechen mit dem Kind, erklären unsere nächste Handlung, warten ab und berühren liebevoll und langsam. Nicht immer einfach beim Wickeln? Das stimmt. Aber wenn wir das Wickeln langfristig so gestalten und dem Kind immer wieder Eigenaktivität ermöglichen – gerade bei einem Kleinkind – und Geduld haben, können wir ein ruhiges Ritual etablieren.

Wir alle genießen als Erwachsene Momente der achtsamen Körperpflege: wenn wir beispielsweise aus dem Bad steigen und Zeit haben, uns einzucremen und unserem Körper etwas Gutes zu tun. Genauso können es auch Babys und Kinder genießen. Für die Pflegemomente sollte daher immer Zeit eingeplant werden.

S. Mierau (2016): Geborgen wachsen: Wie Kinder glücklich groß werden

Beim Einschlafen hilft es, ruhig und entspannt mit Worten und Berührungen zu unterstützen, statt mit unruhiger Atmung und angespanntem Körper auf das Einschlafen des Kindes zu warten. Wenn wir die Aufmerksamkeit des Kindes auf etwas richten oder dem Kleinkind zeigen wollen, dass wir es gehört und verstanden haben, hilft uns liebevolle Berührung: wir können es kurz anfassen und uns zuwenden und so signalisieren: „Ich habe dich gehört, gleich kümmere ich mich um dein Bedürfnis!“

Wie genau wir die Berührung auf unser Kind abstimmen, ist individuell: Manche Kinder genießen einen stärkeren Druck, andere weniger starken. Aber genau das ist wichtig: Die individuelle Wohlfühlart des eigenen Kindes herauszufinden. Und diese dann ganz selbstverständlich in den Alltag einzubauen.

Eure

Zur Autorin:
Susanne Mierau ist Diplom-Pädagogin (Schwerpunkt Kleinkindpädagogik) und Familienbegleiterin. Sie arbeitete an der FU Berlin in Forschung und Lehre, bevor sie sich 2011 im Bereich bedürfnisorientierte Elternberatung selbständig machte. Ihr 2012 gegründetes Blog geborgen-wachsen.de und ihre Social Media Kanäle sind wichtige und viel genutzte freie Informationsportale für bedürfnisorientierte Elternschaft und kindliche Entwicklung. Susanne Mierau gibt Workshops für Eltern und Fachpersonal und spricht auf Konferenzen und Tagungen über kindliche Entwicklung, Elternschaft und Familienrollen.

Foto: Ronja Jung für geborgen-wachsen.de

Zum Nachlesen:
*Böhme, Rebecca (2019): Human Touch. Warum körperliche Nähe so wichtig ist. Erkenntnisse aus Medizin und Hirnforschung. – München: C.H. Beck.
** von Thadden, Elisabeth (2018): Die berührungslose Gesellschaft. – München: C.H. Beck.

6 Kommentare

  1. Liebe Susanne, wie schön von dir zum Thema „Berührung zu Lesen ? ich habe mich schon die ganze Woche damit beschäftigt, weil es darüber so viel zu sagen gibt und lerne immer noch Neues.

    Eine Sache mag ich leider garnicht: Wenn meine Kinder mich im Gesicht berühren. Ich weiß nicht so genau woher es kommt. Aber es gibt auch bei Berührung offensichtlich persönliche Grenzen.

    Alles Liebe,
    Ella

  2. Liebe Susanne, danke für diesen Artikel. Ich bin inhaltlich ganz bei dir. Allerdings wollte ich fragen, ob du auch noch etwas über das Kitzeln sagen kannst. Ich gerate um Augenblick immer wieder in Konflikt mit meinem Mann, da ich sehr sehr kritisch zum Kitzeln von Kleinkindern stehe. Für ihn hingegen gehört das dazu und er kitzelt unsere Kleine (14 Monate) immer wieder, wenn er sich um sie kümmert. Oft einfach so, zwischendurch. Wie es ihm gerade so in den Sinn kommt. Ich empfinde das eigentlich generell als übergriffig und auch degradierend. Das Kind wird zum Objekt gemacht, um vermeintlich Spaß zu haben. Ich bin der Meinung, dass kein Kind das Bedürfnis hat, gekitzelt zu werden.
    Spass haben, herumtollen und auch berühren (ich deute kitzeln in ausgelassenen Situationen manchmal an und die Kleine lacht von Herzen) gehört dazu, aber einfach das Kind in beliebigen Situationen zu kitzeln, kann ich kaum mit ansehen.
    Ich wäte dir sehr dankbar, wenn du dich dazu auch äußern könntest.

    • Liebe Alexandra, ich schaue mal, ob ich dazu einen eigenen Artikel schreibe. Bei Powell et al. (die über den Kreis der Sicherheit schreiben), ist das Kitzeln nur dann problematisiert, wenn das Kind nicht in Selbstregulation gehen kann/nicht mitbestimmen kann.

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