Da stehen wir. Es wird langsam kalt. Die Winterjacke des letzten Jahres wurde aus der Truhe heraus geholt und passt leider nicht mehr. Doch nun soll es eigentlich raus gehen in die Kälte. „Dann zieh bitte einen Pullover an und darüber die andere Jacke.“ „NEIN!“ „Bitte.“ „Nein, ich ziehe nie wieder eine Jacke an!“ Sagt es und stampft hinaus in die Kälte, so ganz ohne Jacke.
Als Kleinkind ist es schwer, mit einer solchen Situation umzugehen. Während uns Erwachsenen die Logik sagt „Es ist kalt, meine Jacke passt nicht, dann ziehe ich eben eine andere an und einen dicken Pullover“, ist das für Kinder kein schlüssiges Argument. Die Vorstellung weicht von der Möglichkeit ab, das logische Nachdenken funktioniert in der mit Verärgerung überladenen Situation nicht. Wut!
Jetzt wird nicht nachgedacht
Mit Argumenten werden wir gerade jetzt nicht einen Wandel des Denkens erreichen: „Es ist aber doch kalt!“, „Du holst Dir sonst eine Erkältung!“ Alle Erklärungen bringen nun nichts. Das Kind hat in seinem Gehirn noch nicht viele ähnliche Situationen abgespeichert, auf die es nun zurück greifen könnte. Während wir auf ein Leben voller Erfahrungen mit Wärme und Kälte zurückblicken, ist es vielleicht gerade der dritte Winter des Kindes und Erfahrungen gibt es noch kaum. Unsere Worte „Du könntest dich erkälten“ haben für das Kind nicht die Tragweite, wie sie es für uns vielleicht haben. Jetzt gerade kann das Kind nur emotional reagieren, der unsere Überlegungen steuernde Neocortex ist bei ihm noch nicht ausgereift.
Ist dir überhaupt kalt?
So stampft es da nun also in der Kälte auf. Keine Spur von Einsicht. „Merkst Du: Es ist doch ganz schön kalt!“ Aber das Kind schüttelt energisch den Kopf. Vielleicht ist ihm aktuell wirklich nicht kalt: Unser Temperaturempfinden unterscheidet sich nach Tagesform, aber auch dadurch, dass verschiedene Menschen eine unterschiedliche Dichte und Menge an Kälterezeptoren haben. Und auch durch die aktuelle Ablenkung und den Fokus auf die Wut spürt das Kind vielleicht jetzt gerade gar keine Kälte.
Der Weg aus dem Konflikt
Mit für uns logischen Argumenten werden wir in dieser Situation also keine Lösung finden. Gleichzeitig können wir die Aufgabe der Problemlösung noch nicht unserem Kleinkind überlassen: Es kann die Folge von „Na gut, dann läufst du eben ohne Jacke, du wirst schon sehen…“ nicht abschätzen. Noch ist das Kind darauf angewiesen, dass Erwachsene die Situationen auflösen und gleichzeitig damit dem Kind auch zukünftige Lösungsansätze zeigen. Würden wir nun Druck ausüben und versuchen, das Kind in die Jacke zu zwingen, würde das Kind nur noch mehr in einen Gegenwillen verfallen und der Konflikt würde sich verschärfen. Zwang und Druck helfen uns gerade mit wütenden Kindern – aber auch sonst – nicht langfristig weiter.
Wir können das Kind deswegen nur begleiten: Wir können beschreiben, was wir wahrnehmen und fühlen: „Du bist ganz schön traurig, dass die alte Jacke nicht mehr passt.“. Wir können beschreiben, was wir sehen: „Du bist ganz schön wütend. Aber ich glaube, Dein Körper friert schon ein wenig. Schau, du zitterst schon.“ Wir können die Jacke dabei haben und sie dem Kind geben, wenn es sich beruhigt hat und merkt, dass es doch kalt ist. Wir können eine alternative Planung machen, wenn das Kind den großen Teil der Wut hinter sich gebracht hat und wieder bereit für Worte ist: „Wenn dir die Jacke so gut gefallen hat, kann ich mal schauen, ob ich sie in deiner neuen Größe noch einmal bekomme.“ oder „Was mochtest du besonders an der alten Jacke? Die Elefanten darauf? Vielleicht finden wir eine andere Jacke mit Elefanten oder bügeln dir ein Bild darauf.“
Wir können viele Ideen und Anregungen einsetzen, anstatt das Kind zu beschämen, zu beschimpfen oder zum Anziehen zu zwingen. Manchmal brauchen wir einen kleinen Moment des Nachdenkens, damit sie uns einfallen. Aber diesen kleinen Moment sollten wir uns gönnen. – Für uns und unsere Kinder.
Eure
Zur Autorin:
Susanne Mierau ist Diplom-Pädagogin (Schwerpunkt Kleinkindpädagogik) und Familienbegleiterin. Sie arbeitete an der FU Berlin in Forschung und Lehre, bevor sie sich 2011 im Bereich bedürfnisorientierte Elternberatung selbständig machte. Ihr 2012 gegründetes Blog geborgen-wachsen.de und ihre Social Media Kanäle sind wichtige und viel genutzte freie Informationsportale für bedürfnisorientierte Elternschaft und kindliche Entwicklung. Susanne Mierau gibt Workshops für Eltern und Fachpersonal und spricht auf Konferenzen und Tagungen über kindliche Entwicklung, Elternschaft und Familienrollen.
Foto: Ronja Jung für geborgen-wachsen.de
Hallöchen, ich wünschte unsere Kleine würde „nur“ die Jacke verweigern. Aber sie möchte gar nichts anziehen. Alles ist ihr „zu eng“. Auch luftige Kleider, auf die sie sich im Sommer noch eingelassen hat, nutzen jetzt nichts mehr. In eine Decke eingewickelt zu werden ist OK für sie, dann entsteht aber der nächste Konflikt, wenn wir draußen sind und sie selbst laufen möchte. Wir haben auch alles dabei für sie, für den Fall dass sie die Kälte spürt und die Sachen von sich aus anziehen will. Aber auch das tritt nicht ein und wir haben es ausgereizt. Jetzt hat sie eine leichte Erkältung und wir sind mit unserem Latain am Ende. Wir zwingen sie nicht die Sachen anzuziehen. Aber unsere Verantwortung für ihre Gesundheit zwingt uns dazu entweder den Ausflug abzubrechen (was ihr auch nicht passt) oder gar nicht erst raus zu gehen.
Für Tipps wäre ich sehr dankbar. LG Florian
Gibt es etwas, das sie beschreibt, was sie nicht mag? Zu eng? Nähte? Tags? Manchmal sind es ja auch solche Dinge bei sehr empfindsamen Kindern, die einfach stören. Mag sie sich auch nicht selbst anziehen ganz alleine mit selbst aussuchen?
Liebe Susanne, vielen Dank für die Antwort. Auch selbst aussuchen lassen haben wir probiert. Sie sagt immer nur, welches Teil sie mag, will es aber nicht ziehen. Ihr ist alles zu eng. Sie sagt: „zu eng, ich will das wieder ausziehen“ – egal, was sie an hat. Sie findet ihre Sachen also schön und weiß, dass sie ihr gehören. Sie kommt auch selbst an die Schublade dran, in der ihre Sachen liegen. Sie will es einfach nicht. Ob es kratzt, oder juckt, oder sticht, oder sonst was verneint sie. Zu eng ist das Argument. Bei jedem Kleidungsstück, das sie wieder ausziehen will.
Aus der Ferne schwer zu beurteilen. Es gibt Kinder, die sehr empfindsam sind im Tastsinn. Und gerade im Herbst/Winter, wenn so viel angezogen werden muss und es dazu noch warm/schwitzig ist, kann das zur Herausforderung werden. Ich hoffe, ihr findet einfach passende Kleidung, vielleicht auch bequeme Einteiler für den Übergang.
Lieber Florian, wir hatten dieses Phänomen „lieber frieren als anziehen“ bzw. nur einwickeln lassen auch, wenn auch geringer ausgeprägt als du es schilderst. Wenn sie Kleidung akzeptiert hat, dann nur wenige ausgewählte Teile. Mittlerweile wissen wir, dass unsere Tochter unter einem Juckreiz leidet, der vor allem im Winter bei trockener Haut verstärkt auftritt. Durch Cremen und Pflegen und feine Baumwollkleidung ist es nun viel besser. Vielleicht könnt ihr auch in dieser Richtung mal schauen.
Liebe Grüße, Sabrina
Dieser Artikel kam jetzt echt gut, ich hab heute noch eine kleine Diskussion mit meinem 2,5 Jährigen gehabt ?
Danke ♥️
Danke für die konkreten Lösungsansätze und die Schilderung der Situation aus der Sicht des Kindes. So etwas sollten wir alle viel öfter lesen dürfen.
?♀️ hier auch, jeden Morgen die Diskussion mit dem 3.5 Jährigen Kind. Es nimmt die Jacke nur noch auf den Schoß, obwohl es schon friert. Aber anziehen auf gar keinen Fall. Ich weiß nicht mehr was ich machen soll…..
es ist aber auch wirklich nicht leicht, gerade mit mehreren kindern.
manchmal lässt es sich machen, ohne schuhe losfahren, dann schuhe dabei haben, wenn der kleinste absolut keine schuhe anziehen will und klar, das ist die beste lösung, begleiten, mit dem kind reden. aber was tun, wenn eben termindruck herrscht, es minusgrade hat und die geliebte jacke blöderweise in der wäsche ist? aber ich merke gerade während des schreibens, dass es keine alternative zum „kind einfühlsam begleiten“ gibt. und das erhöht den druck auf uns eltern. (irgendwie hätte ich mir die schilderung im artikel beispielhaft mal weniger einfühlsam gewünscht… wohl zu meiner entlastung;))
Manchmal haben wir Stress und manchmal geht es eben nicht anders. Aber wir können den Leitstern haben, die Kinder nach Möglichkeit einfühlsam zu begleiten und Alternativen anzubieten oder Zeit einzuplanen.
Liebe Susanne,
ich habe die Diskussion auch oft und in der Regel muss mein Sohn beim Abholen bei der Tagesmutter dann auch keine Jacke anziehen.
Nun ist es in letzter Zeit bei uns beim Abholen wirklich kalt, so um die 3Grad, aber mein Sohn tobt vorm Abholen so viel, dass er völlig verschwitzt ist. Nassgeschwitzt möchte ich ihn nicht ohne Jacke rauslassen.
Den Unterschied versteht er aber nicht und wir können bei der Tagesmutter leider nicht ewig diskutieren, so dass es hier schnell zu einer Lösung kommen muss.
Habe ihn nun neulich zum Auto getragen und die Jacke quasi übergelegt, aber selbst im Auto sind es nur um die 4Grad und da pfeffert er alles, also Jacke oder Decke, weg…
Hast Du noch Tipps?
Danke!
Es ist bestimmt noch schwer für ihn, dass sich die eigentliche Regel „Muss nichts anziehen“ nun gerade ändert zu „Muss doch was anziehen“. Vielleicht könnt ihr da ein Übergangsritual schaffen, dass euch unterstützt wie ein kleines Anziehlied oder ähnliches?
Heute habe ich meinen 3-jährigen Sohn gezwungen, seine Regenhose anzulassen, weil er sonst komplett durchnässt gewesen wäre für mehrere Stunden. Auch eine Jacke habe ich ihm mit Gewalt angezogen. Ich fühle mich jetzt noch, Stunden später, furchtbar, er war so verzweifelt. Ich habe ihn danach getröstet und mich auch dafür entschuldigt, dass ich laut geworden bin. Ich weiß dennoch nicht, wie ich es beim nächsten Mal machen soll. Er wird doch sonst einfach krank, wenn es richtig kalt und nass draußen ist. Mich überfordern diese Situationen einfach maßlos und machen mich richtig traurig. Man ist ja nicht immer um die Ecke von zu Hause, wo man sich mit einem heißen Tee wieder aufwärmen kann. Und in diesen Stresssituationen bekomme ich auch keine kreativen Ideen, denn ich bin ja selbst total im Stress dabei.
Bei uns hilft es in letzter Zeit, wenn wir spielen, dass eine Handpuppe (Kasperle Theater) die Sachen vom Kind anziehen will. Dann heißt es plötzlich: Nein, das ist meins! Und mit etwas Glück dürfen wir es anziehen.
… und möglichst viel „alleine“ machen lassen.