Angst vor der Natur – welche Ängste Eltern haben und was es zu beachten gilt

Die drei Kinder balancieren zwei Meter über dem Boden auf einem Weg am Hang entlang und singen das Wanzen-Tanz-Lied. Der Grat des Wegs ist nicht besonders breit und wir Eltern sehen sie vor unserem geistigen Auge schon abstürzen. „Camping ist soo toll!“, schreien die Kinder. Sie haben mächtig Spaß. Sollten wir ihnen das Balancieren verbieten? Sollten wir hingehen und uns daneben stellen? Müssten wir das nicht eigentlich sogar? 

So schmal der Weg auf der Mauer ist, so schmal ist auch der Grat zwischen dem Loslassen-können und Festhalten-müssen. Sobald wir mit Kindern draußen in der Natur sind, werden wir vor diese Frage gestellt. Lassen wir sie klettern, balancieren, Grenzen austesten, mit der Gefahr, dass sie sich verletzen könnten? Oder sind wir vorsichtig, sind in Armlänge und verhindern so vielleicht die ein oder andere Schramme, lassen aber gleichzeitig nicht zu, dass das Kind seine eigenen Fähigkeiten kennenlernt? 

Die Natur macht vielen Eltern Angst. Auf Instagram hatte ich gefragt, was die Gründe für Angst in der Natur sind. Es kamen sehr viele Antworten, von Wildschweinen im Wald bis zur Blumenerde bei Krabbelkindern. Über die häufigsten vier möchte ich hier mit Hilfestellungen und Informationen aufklären: 

Zecken

Eure mit Abstand größte Angst vor der Natur war dieses kleine Tierchen, dass (ich gebe es zu) auch zu meinen absoluten Nicht-Lieblingstieren zählt. Mancher sagt, es sei der einzige natürlich Feind des Menschen.
Dass so viele davor Angst haben, muss aber nicht sein. Es stimmt schon, Zecken sind echt mies. Gegen FSME kann man sich impfen, aber gegen Borrelliose leider nicht. Trotzdem ist Panikmache unbegründet. Seid euch bewusst: Eltern übertragen Ängste auf ihre Kinder. Ich hatte schon Kinder in meinen Umweltbildungsgruppen, die sich geweigert haben, eine Wiese zu betreten. Ihre Eltern hatten sie davor gewarnt, das im Gras „Zeckenbäume“ wachsen würden, und die sich auf sie stürzen würden, sobald sie die Wiese betreten würden. Zeckenbäume existieren nicht und nicht jede Zecke überträgt Borreliose. Etwa 1 bis 6 von 100 Gestochenen infizieren sich mit der unterschiedlich verlaufenden Krankheit. Nur jeder dritte bis vierte Infizierte entwickelt Beschwerden (Quelle: Robert Koch Institut).

Zecken sind so lange ungefährlich, so lange man die Kinder (und sich selbst) nach einem Ausflug in die Natur gründlich absucht. Da es in meiner Heimatregion um Regensburg dieses Jahr von Zecken nur so wimmelt, werden die Kinder einmal Mittags vorm Essen und einmal Abends vorm Zubettgehen komplett abgesucht. Meistens mit Erfolg, was heißt, dass fast immer Zecken gefunden und sofort entfernt werden. Das Infektionsrisiko für Borreliose ist geringer, wenn die Zecke frühzeitig entfernt wird, und steigt nach längerem Saugen der Zecke von mehr als zwölf Stunden an. Wer also ein bis zweimal täglich gründlich absucht, braucht keine Angst vor Zecken haben, eine gesunde Abneigung reicht. Mit Zeckenkarte, die auch gut ins Portemonnaie passt, lassen sich Zecken gut entfernen.

Wie man sich vor Zecken schützen kann, ohne auf Naturerlebnisse zu verzichten:

  • Geschlossene Schuhe, langärmelige Hemden und lange Hosen tragen. Sieht blöd aus, aber hilft sehr: Strümpfe über die Hosenbeine ziehen. 
  • Möglichst helle Kleidung tragen, damit winzige Zecken leichter zu erkennen sind und entfernt werden können. 
  • Wilde Tiere wie Igel übertragen häufig Zecken. Nicht anfassen (aber wer fasst schon einen Igel an?) 
  • Nach dem draußen sein gilt immer: Körper gründlich nach Zecken absuchen. Vor allem warme weiche Hautstellen sind beliebt: Kniekehlen, Leisten, unter den Achseln, hinter den Ohren sowie am Kopf- und Haaransatz. 
  • Falls ihr eine Zecke entdeckt, entfernt sie vorsichtig und desinfiziert die Wunde danach. Das reduziert das Infektionsrisiko für FSME und Borreliose nochmals. 

 Eichenprozessionsspinner

Raupen, die in Scharen auftreten, stark giftig sind und deren Brennhaare bei Berührung allergische Reaktion auslösen können. Eine furchtbare Vorstellung, wenn Kinder auf die Idee kommen, mit ihnen zu spielen. Aber tun Kinder das? Spielen sie mit Tieren, wenn sie nicht wissen, was es ist? 

Babys schon. Sie sind darauf angewiesen, dass eine Bezugsperson bei ihnen ist und sie dran hindert, giftige Pflanzen, Tiere oder Beeren in den Mund zu stecken. Ein bisschen Erde, mal an einem Stock lutschen – das ist für Babys das Entdecken der Natur. Sie brauchen uns als Kontrollorgan, um zu lernen, was unbedenklich ist und was sie nicht anrühren dürfen. Das ist heutzutage schwierig, denn oft wissen es die Eltern selbst nicht. Welche Pflanzen sind unbedenklich, welche sind giftig? Lieber alles verbieten, was draußen so wächst. Das ist keine Lösung. 

Auch Babys haben einen Entdeckerdrang und möchten ihre Umwelt kennenlernen. Sie tun dies in diesem Alter fast ausschließlich über den Mund. Wenn hier Ängste vorherrschen, die diesen Drang gerne ganz unterbinden möchten, lohnt sich der Vergleich mit unseren Innenräumen. Hygiene ist wichtig und es ist gut, dass sie in unserem Land selbstverständlich ist. Räume und Umgebungen, die so keimfrei wie möglich gehalten werden, sind jedoch kontraproduktiv. Hier überleben nur die stärksten Keime, die, die tatsächlich gefährlich werden könnten. Das ein oder andere Staubkorn hingegen ist ungefährlich und stärkt das Immunsystem. Vom Putzen gestresste Eltern können sich also zurücklehnen. 

Wurden Babys gut angeleitet, entwickeln sie im Kleinkinderalter eine natürlichen Instinkt, nichts anzufassen, was sie nicht kennen. Und auch in diesem Alter sind die Eltern normalerweise in Blickdistanz. Es ist gut, das Kind vor dem Rausgehen daran zu erinnern, dass es bei unbekannten Sachen, die Eltern fragen soll, bevor es etwas anfasst. Sollte es bekannte Gefahren geben, wie beispielsweise die Raupen der Prozessionsspinner und deren Nester sollten Kinder vorher darüber aufgeklärt werden. Klare Warnungen kommen auch bei Zweijährigen schon an. 

In Hinblick auf giftige Tiere ist die Altersgruppe der Vorschul- und Schulkinder wohl am schwierigsten zu „kontrollieren“. Hier gilt, wie beim Aspekt des Kletterns und Tobens die Regel, dass Kinder je früher sie Respekt vor der Natur erlernen, sich desto sicherer später in der Natur bewegen können. Respekt – und keine Angst brauchen die Kinder! Wir müssen ihnen keine Horrorgeschichten erzählen, wir können ganz sachlich erklären, welche Gefahren es gibt. In Sachbüchern kann gemeinsam recherchiert werden, welche Gefahren es in der Wohngegend gibt und wie man sich in der Natur verhalten soll. Haben Kinder das nicht gelernt, und sind absolut angstlos gegenüber dem Leben draußen, würde ich mir wohl auch Sorgen um giftige Raupen machen. Es ist also gut, die Kinder schon frühzeitig (im Babyalter) anzuleiten. 

Was bei den Prozessionsspinnern zu beachten ist:

  • Die Brennhaare sind je nach Entwicklungsstadium der Raupen gefährlich bis sehr gefährlich. Eine Altraupe enthält unvorstellbare 700.000 Brennhaare, die fast unsichtbar sind und sich in Haut und Schleimhaut mit ihren Widerhaken festsetzen. Hier ist der Gefährdungszeitraum Mai und Juni.
  • Ganzjährig bleiben aber die Nester der Raupen gefährlich, mit denen am Baum oder am Boden verbleibenden Verpuppungsgespinsten. Bitte schaut euch mit euren Kindern gemeinsam Bilder davon an, vielleicht geht ihr danach gezielt auf die Suche nach einem Nest, um zu wissen, an welchen Ästen und unter welchen Bäumen die Kinder nicht spielen sollten! 
  • Die Brennhaare reizen die Haut, können Quaddeln, Knötchen und Hautentzündung auslösen, die bis zu zwei Wochen anhalten. Langärmlige Kleidung schützt auch, wie auch vor Zecken und Sonnenbrand. 
  • Da sich die an sich harmlosen Falter seit den 90er Jahren wie wild vermehren, ein Gesundheitsrisiko für Tier und Mensch darstellen und zudem den Eichenbestand bedrohen, gilt heute: Wer Nester des Eichenprozessionsspinner entdeckt, sollte sie sie umgehend dem zuständigen Gesundheits- oder Gartenamt oder im Wald den Forstämtern melden. 

Unsicherheit, was man darf und was verboten ist

Dieser Aspekt der Angst bezog sich auf das eigene Verhalten in der Natur. Ich kann es verstehen und es ärgert es mich ein wenig. Nicht wegen der Person, die die Unsicherheit verspürt. Sondern weil es verdeutlicht, wie wenig wir Menschen in der Natur erwünscht sind. Mit Natur sind hier Wälder, naturbelassene Wiesen und Flussläufe gemeint. Diese Natur ist in Deutschland meist unter Schutz gestellt, entweder als Naturschutzgebiet oder als Landschaftsschutzgebiet. (Es gibt auch noch weitere Schutzklassen, was hier aber den Rahmen sprengen würde). 

In einem Naturschutzgebiet sind die Regeln streng. Hier heißt es: 

  • auf den Wegen bleiben
  • keine Pflanzen ausreißen
  • keine Tiere stören, aufscheuchen oder töten
  • Hunde an die Leine nehmen. 

Wir sollen also leise auf den Wegen wandern und uns möglichst unsichtbar machen. Versteht mich nicht falsch, ich habe Naturschutz studiert, ich weiß, dass es wichtig ist, die Natur zu schützen. Naturschutzgebiete bewahren wertvolle Naturreservate vor Eingriffen, die oftmals wirtschaftliche Interessen haben. Und es hilft den Orchideen im lichten Bereich des Eichen-Hainbuchenwald auch, dass hier keine Schulklassen durchtrampeln, sondern die eben auf den Wegen bleiben. Ich weiß hier keine Lösung. Aber wenn wir Kinder und Familien aus der Natur ausschließen, wie sollen sie eine Verbindung zu einem Ort spüren, den sie nicht kennenlernen dürfen? 

Verletzungen durch Klettern und Toben

Klettern und Toben ist wie Radfahren. Bevor das Kind nicht sicher ohne Stützräder fahren kann, sollte man nicht loslassen. So ist es auch mit körperlichen Aktivitäten in der Natur. Die Kinder müssen Erfahrungen sammeln, während die Eltern dabei sind. Sind sie trittsicher und wissen um ihre Fähigkeiten und Grenzen, sollte man es ihnen ermöglichen, den Abstand zwischen Kind und Aufsichtsperson größer werden zu lassen. 

Meine Tochter klettert leidenschaftlich gerne. Ich lasse sie und bleibe als Sicherheitsnetz nah genug dabei, ohne sie zu behindern oder einzuschränken. Sie ist sich selbst ihre eigene Grenze. Da, wo sie hochkommt, darf sie auch hochklettern. Sind die Äste an einem Baum zu hoch zum erreichen, ist sie schlichtweg „zu klein“, um ihn zu erklettern. Noch lernt sie ihre Fähigkeiten einzuschätzen und klettert manchmal zu weit nach oben. Dann bin ich da und helfe ihr wieder runter. Ich leite sie an, zeige, wo ihre Füße Halt finden können und was sie beim herunterklettern beachten muss. 

Ein Hoch- und Herunterheben ist kein Klettern und stört das Entdecken der eigenen Fähigkeiten und das Kennenlernen der eigenen Grenzen. 

Hier ist die Krux in vielen Fällen. Die Kinder sind schon größer, ihre Arme sind lang genug, um an die höheren Äste zu kommen und die Kraft in den Beinen reicht doppelt, um die Spitze zu erreichen. Doch hatte es die Möglichkeit, Klettern zu lernen? Durfte es sich austesten, auch als es noch nicht klettern konnte, weil die Arme kurz waren und die Beine schwach? Kraft gleicht das nicht aus! Wichtig ist, zu wissen, ob es seine Fähigkeiten richtig gelernt hat einzuschätzen. Weiß es um seine Grenzen? Ängstliche Aufsichtspersonen, die stets vorsorglich daneben stehen und aufpassen, verhindern vielleicht einen Sturz. Sie verhindern aber auch, dass das Kind es irgendwann einmal wirklich allein kann. Eine hundertprozentige Sicherheit beim Klettern gibt es nie. Deshalb ist es wichtig, dass das Kind lernt, sich selbst gut einzuschätzen. Und dazu braucht es vielleicht die ein oder andere Schramme. 

Tipps zum Umgang mit Kletterkindern:

  • Bei Kleinkindern gilt: Es ist die Aufgabe der Eltern, Risiken richtig einzuschätzen. In Reichweite bleiben, um dem Kind zu helfen, Herausforderungen zu meistern. Das Kind anleiten, wie es wieder herunterkommt – so wie beim Krabbelkind im Haus (Sofa am besten rückwärts, Treppe auch, Laufanfänger lehren, sich am Geländer festhalten, etc.). 
  • In höherem Alter gilt: Das Kind sehen, seine Fähigkeiten kennen. Wie viel Erfahrung hat es mit Klettern? Ist es trittsicher, spielt es oft draußen? Kann es einschätzen, welche Äste tragen, welche nicht? Dies im Hinterkopf behalten und dabei bleiben, wenn das Kind nicht sicher ist. Gemeinsam üben, damit das Kind seine Fähigkeiten kennenlernen kann, nicht versucht ist, fehlende Fähigkeiten mit Kraft auszugleichen und in Kommunikation bleiben.
  • Wenn das Kind sich in einer gefährlichen Situation befindet: Ruhe bewahren. Wer panisch „Pass auf, gleich fällst du runter!“, schreit, wird sein Kind mit höherer Wahrscheinlichkeit gleich am Boden sitzen sehen, als wer ruhige, konkrete Anweisungen gibt: „Setz deinen rechten Fuß auf den dicken Ast unter dir.“, oder: „Bleib sitzen, ich komme hoch.“, wenn das möglich ist. 

Was bei allen Ängsten in der Natur hilft, ist, einen Erste-Hilfe Kurs zu absolvieren. Die gibt es speziell für Babys und Kinder. Auch eine kleine Notfallausrüstung für den Ausflug ins Grüne hilft, um sich innerlich auf Schrammen und kleinere Verletzungen zu rüsten. Schon ein Pflaster, etwas Desinfektionsspray und ein Stofftaschentuch sind eine gute Basis-Ausrüstung. Diese Vorbereitungen können helfen, nicht in Panik zu verfallen. 

Die Natur ist nicht ohne Gefahren. Die Natur ist ein wilder Ort. Nicht mehr an vielen Stellen in Deutschland, zugegebenermaßen, aber wild genug, dass man sich in ihr verletzen kann. Unsere Schützlinge müssen lernen, sich in ihr zurechtzufinden. Und auch jede*r Erwachsene*r, die selbst in ihrer/seiner Kindheit keinen Zugang zur Natur hatte, muss sich die Zeit nehmen, die Gefahren kennenzulernen und richtig einzuschätzen. Wir müssen unseren Schützlingen in der Natur, wie in allen Bereichen des Lebens, Wurzeln geben (Wissen, Vertrauen, Zuspruch, Freude an seinen Fortschritten), um ihnen Flügel zu verleihen (Selbstvertrauen, motorische und empathische Fähigkeiten, sprachliche und kreative Entwicklung, einen gesunden Körper und Geist). Denn all das ist Natur – ein Erfahrungsraum, der alles für die Entwicklung bereithält, wenn man sich ihm anvertraut. 

Veronika hat Biologie, Naturschutz und Landschaftsplanung studiert und ist Mutter einer Tochter. In ihrer Kolumne „Naturorientiertes Aufwachsen“ berichtet sie von Wegen, auf denen Kindern die Liebe und der Respekt zur Natur als Samenkorn mitgegeben werden können.  Mehr über Veronikas Arbeit und ihre aktuellen Texte zu grünen Themen findet ihr auf ihrer Homepage, Instagram oder Twitter.



2 Kommentare

  1. Also ich finde den Text gut. Nur eine Stelle irritiert mich. Du schreibst: „Klettern und Toben ist wie Radfahren. Bevor das Kind nicht sicher ohne Stützräder fahren kann, sollte man nicht loslassen.“ Aber 1. hälst du dein Kind beim Klettern, wenn ich es richtig verstehe nicht fest und 2. können Kinder das Fahrradfahren ohne Stützräder und ohne Anschucken lernen.
    Ich hoffe, es hört sich nicht zu besserwisserisch an…

    • Hallo Rebecca,

      ja die Stelle wurde auf Twitter auch schon kritisiert. Der Vergleich hinkt vielleicht wirklich ein wenig, Kinder lernen heute mit Laufrädern ja auch oft schon ganz ohne Stützrädern Radfahren.

      Was ich damit sagen wollte, war: Dass man als Eltern, egal, was das Kind lernt (sei es Radfahren oder Treppe laufen oder, …) in Reichweite ist und erst „loslässt“ (auch im übertragenen Sinne), wenn das Kind bereit ist. Erst, nachdem man sicher geht, dass es die Fähigkeiten soweit erlernt hat, und nicht gleich stürzen wird.

      Vielleicht ist es jetzt ein wenig klarer?

      VG
      Veronika

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