Wir wissen so viel über die kindliche Entwicklung, verstehen unsere Kinder heute so gut und wissen, dass sie kooperieren wollen, dass sie soziale Wesen sind. Wir verstehen, wie und warum sie sich wie entwickeln. Und dennoch fällt es uns an vielen Stellen so schwer, dieses Wissen umzusetzen. Manchmal deswegen, weil unsere verinnerlichten Muster und Handlungsabläufe so stark sind und in schwierigen Situationen reflexhaft abgespielt werden. Dann scheinen wir all das Wissen zu vergessen und es treten Handlungen und Sätze in den Vordergrund, die wir eigentlich gar nicht wollten, die zu unseren sorgsamen Überlegungen über das Leben mit Kindern nicht passen.
Das Kind ist „nur“ der Tropfen, der das Fass überlaufen lässt
Diese Situationen entstehen oft da, wo wir gestresst und überfordert sind. Daran, dass sich unsere Kinder so verhalten, wie sie sich verhalten in der Kleinkindzeit, können wir nicht viel ändern: Sie können noch nicht analytisch denken wie wir, reagieren oft noch ganz impulsiv und aus dem aktuellen Erleben heraus, sind geleitet von ihrer Neugier, ihrem Drang, die Welt zu erkunden. Das allein ist manchmal – je nach Temperament und Passung des Temperaments in der Familie – schon eine Herausforderung. Wenn aber der Alltag um das Kind herum für uns anstrengend ist, ist das Verhalten des Kindes manchmal nur ein kleiner Tropfen, der das Fass zum Überlaufen bringt. Aber das Kind selbst ist nicht das Fass.
Das Fass ist unser Alltag, der angefüllt ist mit all den Aufgaben und Erwartungen: mit Arbeit, Haushalt, Terminen, eventuell Partnerschaft, Freundschaften und Freizeitstress, vollgestopften Straßen in der Rush Hour und all dem Mental Load, der in unseren Köpfen beständigen im Hintergrund lauert. Und unsere Kinder und ihr Verhalten sind ein kleiner Teil davon, aber nicht alles, das uns in eine Überforderungssituation bringt.
Stress lässt uns weniger gut Signale wahrnehmen: ein Teufelskreis
Wenn dieses Fass nun überläuft, tritt der zuvor schon bestehende, aber noch nicht in ganzer Tragweite erscheinende Stress zutage: Wir sind lauter, neigen eher zu Übergriffigkeit, sind weniger feinfühlig und können durch den Stress auch die Signale des Kindes weniger gut deuten, was weiterhin in eine Spirale der unglücklichen Interaktion mit dem Kind führt.
Wenn es also darum geht, wie wir den Alltag mit unseren Kindern besser gestalten können, um unseren Leitsternen des Zusammenlebens folgen zu können, müssen wir nicht nur auf das kindliche Verhalten schauen, sondern auch auf all die kleinen Teile, die uns zusätzlich belasten. Oft sind sie es, an denen wir die entscheidenden Wendepunkte zu mehr Entspannung für den Familienalltag finden – und nicht das Kind, das sich entsprechend dem Entwicklungsstand normal und richtig verhält. Natürlich gibt es die vielen Tipps und Hinweise, mit denen wir unsere Kinder gut durch die Wut und schwierige Situationen begleiten können. Aber neben dem Verständnis für das kindliche Verhalten, neben dem passenden Umgang damit, kommt es vor allem darauf an, die großen Stressauslöser in unserem Leben zu minimieren, damit wir eine Grundentspannung in unseren Alltag bringen, die uns die Gelassenheit gibt, Kinder gut zu begleiten.
Wo sind deine Stressmomente im Alltag?
Wo die einzelnen Stresspunkte im Familienalltag liegen, ist von Familie zu Familie unterschiedlich. Hilfreich ist es, sich die immer wieder auftretenden Konfliktsituationen aufzuschreiben und zu überprüfen, was die immer wiederkehrenden Probleme sind – im Zusammensein mit dem Kind, aber auch die Punkte, die uns allgemein im Alltag stressen. Eine solche Liste ist ein erster Anhaltspunkt für die Situationen, die wir ändern können. Wir können schauen: Welche Situationen lassen sich vermeiden? Welche Situationen kann ich anders gestalten, damit sie weniger stressig sind? Wo kann ich Aufgaben, Wege oder Tätigkeiten abgeben, die mich stressen?
Gesellschaftliche Erwartungen als Stressverursacher
Ein Punkt, der auf vielen Listen der stressauslösenden Situationen zu finden ist, sind die negative Reaktionen in der Gesellschaft auf normales kindliches Verhalten: Wenn das Kind zu Hause laut ist und Eltern Angst haben vor den Reaktionen der Nachbarn und deswegen verzweifelt mit dem Kind schimpfen, damit es für die Nachbarn leiser ist. Oder wenn das Kind in der Öffentlichkeit wütend stampft oder sich auf den Boden wirft und die andere mit Blicken oder Worten über die schlechten Angewohnheiten des Kindes richten oder gar die Erziehungskompetenz der Eltern öffentlich in Frage stellen, was diese dazu führt, verschämt bedrückt das Kind zu beschämen oder übergriffig versuchen, das Verhalten zu beenden. Es gibt viele Situationen, in denen die Gesellschaft uns durch Normen, Regeln, Erwartungen Stress macht, der eigentlich nicht sein müsste. Denn eigentlich ist es normal, dass Kleinkinder auf Wiesen rennen wollen, auch wenn Verbotsschilder daran stehen. Oder sie nicht lange in einer Warteschlange gelangweilt ausharren können. Oder sie sich im Bus laut beschweren über dieses oder jenes. All das ist kein Zeichen einer „schlechten Erziehung“ und kein Fehlverhalten. All das ist eigentlich normal.
Sei der Wandel, den du dir wünschst!
Wir können in diesen Situationen selbst meist nichts ändern. Manchmal fehlt uns die Schlagfertigkeit oder die Kraft, um auf andere zu reagieren. Und manchmal sind wir auch einfach zu sehr mit unserem Kind beschäftigt. Aber wir können in den Situationen, in denen wir gerade nicht betroffen sind, etwas ändern. In den Situationen, in denen wir „die anderen“ sind: Wir können den Nachbarn mit dem lauten Kind sagen: „Mach dir keinen Stress, das ist schon okay.“ Wir können dem Vater im Supermarkt mit dem wütenden Kind sagen: „Hey, das kenne ich“ oder aufmunternd zulächeln. Wir können selbst ein Klima schaffen, dass den Stress für andere reduziert und Vorbild sein für das, was wir uns auch wünschen. Damit wir beim nächsten Mal auch ein Lächeln statt einer hochgezogenen Augenbraue sehen.
Susanne Mierau ist u.a. Diplom-Pädagogin (Schwerpunkt Kleinkindpädagogik)Familienbegleiterin und Mutter von 3 Kindern. 2012 hat sie „Geborgen Wachsen“ ins Leben gerufen, das seither zu einem der größten deutschsprachigen Magazine über bindungsorientierte Elternschaft gewachsen ist. Sie ist Autorin diverser Elternratgeber, spricht auf Konferenzen und Tagungen, arbeitet in der Elternberatung und bildet Fachpersonal in Hinblick auf bindungsorientierte Elternberatung mit verschiedenen Schwerpunkten weiter.
Liebe Susanne,
Danke für diesen wichtigen Artikel! Ich kenne die Situationen nur zu gut, wo ich z.B. mein Kind zurecht weise weil es laut ist und die Nachbarn könnten sich beschweren. Dann gerate ich in Stress und hinterher frage ich mich dann warum mir das so wichtig ist, dass der Nachbar zufrieden ist und ich dafür sogar bereit bin die Beziehung zu meinen Kindern zu belasten. Ich falle dann total in ein Muster aus meiner eigenen Kindheit. Das zu erkennen war schon mal ein wichtiger erster Schritt in die richtige Richtung…
Das sehe ich anders. Es zählen nicht nur die Bedürfnisse Ihrer Kinder, sondern es zählen die Bedürfnisse aller Betroffenen rund um den Garten. Natürlich dürfen Kinder auch mal laut sein, toben, schreien, kein Problem. Sie sollten aber (so wie wir das alle gelernt haben sollten, es betrifft ja nicht nur Kinder) früh lernen, dass auch die Bedürfnisse anderer Menschen zählen und man sich in gewissen Situationen durchaus zurücknehmen muss. Sie belasten doch damit nicht die Beziehung zu ihren Kindern, bloß weil sie mal eine klare Grenze setzen. Sie sind ja drollig.
Sie sind auch drollig. Sie nehmen einfach an, dass Steffi21 jetzt beschlossen hat, die Bedürfnisse der Nachbarn komplett zu ignorieren. Auch wissen Sie nicht, was sich bei Steffi21 zuhause abgespielt hat. Wenn sie jetzt nach einer besseren Balance zwischen den Bedürfnissen ihrer Kinder und den Bedürfnissen der Nachbarn strebt, kann das in der Tat die Beziehung zu den Kindern verbessern. Nachbarn müssen auch von Gesetzes wegen Kinderlärm aushalten.
Liebe Susanne, mal wieder ein sehr schöner Beitrag von Dir. Mich Stressen oft die gesellschaftlichen Erwartungen. Wenn ich mal die andere bin, dann versuche ich so weit es geht mit Worten oder Greten beizustehen. Aber ich werde jetzt auch versuchen, auf mich bewusst vom Umfeld weniger zu stressen und mehr auf nein trotziges Kind einzugehen. Lieben Gruß, Ida
Mein Enkel ist aber die Ursache dafür dass ich ausraste. Nicht wegen der Nachbarn oder irgendwelcher gesellschaftlichen Erwartungen. Nein er will einfach seinen Willen durchsetzen will etwas haben, das ihm aber gar nicht gut tut (an den computer). – Da hilft kein liebevolles Zureden, der tobt einfach!
Nein, er ist der Auslöser. Die Ursache liegt meistens in uns selbst. Warum ist es so schlimm, dass er an den Computer will? Warum ärgert dich das so, Wasser sich durchsetzen will? Was stört dich daran, dass er tobt, so dass du auch toben musst?
Nun ja, wütend macht ihn, dass der Sohn sein Nein nicht respektiert. Er hat versäumt, sic frühzeitig als Respektsperson zu etablieren. Eltern sind keine Freunde , die vor ihren Kindern rumkriechen sollten. Das vermittelt Unsicherheit. Ich war auch so ein Kind. Ich habe das getan was ich wollte und ich durfte mich frei entfalten. Allein meine Bedürfnisse zählte. Alles andere war für mich ohne Belang. Es hat mich nicht interessiert. Das Ganze resultierte aus einer antiautoritären Erziehung, die mein hochideologischer Lehrervater für mich angedacht hatte. Als ich dann irgendwann der absolute Chef im Hause war und es nur noch Konflikte gab, mussten wir jahrelang zu einem Kinderpsychologen, der mich dann wieder mühevoll zusammengeflickt hat sozusagen. Es lief alles über klare Regeln, klare Grenzen, klare Ansagen und Eltern, die keine Sandkastenfreunde mehr waren, sondern die mir klar zu verstehen gaben, was okay für alle ist und was nicht. Ich habe sehr gelitten in dieser Zeit, aber ich bekam mit der Zeit Respekt vor meinen Eltern und habe gelernt dass nicht nur ich zähle. Auch in der Schule hat es dann später super geklappt mich einzuordnen. Diese tolle Kinderpsychologin hat mich echt gerettet.
Du hast sicherlich eine schwierige Zeit erlebt. Das tut mir leid. Ich denke aber nicht, dass hier die Situation gleich übertragen werden kann – dazu wissen wir zu wenig über die Situation. Vielleicht ist der Computer auch einfach ständig in Benutzung und das Kind möchte deswegen ran? Oder es gibt noch ganz andere Umstände. Wir wissen auch nicht, wie alt das Kind ist etc.
Natürlich ist es wichtig, dass die Bezugspersonen eine klare Linie haben, dass es Regeln gibt und die Bezugspersonen durch den Alltag führen. Das stellt der Artikel nicht in Abrede. Es geht nicht darum: Passe Deinen Alltag an das Kind an, sondern darum, dass der Alltag generell entstresst werden sollte, weil Stress einfach ein sehr schwerer Faktor ist in Bezug auf negatives Erziehungsverhalten und Familien heute tatsächlich sehr viel unter Stress leiden durch vielfache Anforderungen.
Liebe Susanne,
Danke für diesen Beitrag! Ich merke immer wieder, dass ich soziale Erwartungen zu stark antizipiere & dies mich auch stressen kann. Allerdings ist hier das Maß auch wichtig: mir selber ist es wichtig, Rücksicht auf meine Umwelt bzw. die Bedürfnisse meiner Mitmenschen zu nehmen- das schließt Nachbarn, Busmitfahrende, Umstehende schon ein. Und mir ist es wichtig, dass mein Kind ebenso lernt, Rücksicht zu nehmen – auch wenn es das jetzt vielleicht noch nicht umsetzen kann. D.h. ich versuche, zu kommunizieren, warum ich mir Verhalten wünsche & stelle ein paar Regeln auf (zBsp Sonntag morgens um 8 leiseres Spiel), die aber auch erklärt werden. Ich hoffe, so den Spagat zwischen den Bedürfnissen anderer (und mir;)) und denen meines Kindes zu schaffen. Schön ist, wenn dann das Umfeld ebenso empathisch auf das Kind reagiert, wenn es mal nicht so geduldig oder ruhig ist – denn am Ende sind es die Kinder, die einfach noch nicht „reif“ sind, ihre Impulse und Bedürfnisse zurückzustellen und das ist auch vollkommen okay.
Mir tut es übrigens total gut, Deine Artikel zu lesen – das bereichert mich und mein Elternsein sehr! Danke dafür 🙂