„Ich kann aber nicht mehr!“ schreit es durch die Bahn. „Ich kann einfach nicht mehr, ich will nicht mehr!“ Das schreiende Kind ist meins. Sicherlich sind 20 Augenpaare auf mich gerichtet. Neugierig, schadenfroh, mitleidig, gespannt. Manchmal wünsche ich mir in diesen Augenblicken, es gäbe den einen Knopf bei einem Kind, mit dem man es einfach auf „reset“ stellen könnte. Aber den Knopf gibt es nicht, nur mich und das Kind und die Zuschauer.
„Ich kann nicht mehr!“ schreit das Kind und ich verstehe nicht so recht. Aber was kann es denn nun nicht? In der Bahn sitzen? Wie kann man eigentlich nicht aushalten, in der Bahn zu sitzen? Auf einem Sitzplatz? Leise dahin geschaukelt werden und dem Ziel näher kommen. Dabei ein Buch ansehen oder ein Spiel spielen was kann man daran nicht können? Meine erwachsenen Gedanken können denen des Kindes nicht folgen. Mir ist unklar, warum nun jetzt und hier alles so schwer sein sollte, wobei es doch so einfach ist. „Du kannst nicht mehr?“ frage ich mein Kind. „Aber was denn nur? Hier sitzen?“ „Na das alles.“ wütet das Kind. Es wolle eben nicht mehr hier sitzen und warten und fahren und überhaupt.
Und da verstehe ich, dass ich viel zu sehr mit meiner Logik beschäftigt war und mit den Dingen, die für mich eine Herausforderung sein könnten – oder eben nicht. Aber das Kind neben mir denkt anders. Ich denke: Meine Güte, mit 5 Jahren kannst Du doch wohl schon entspannt Bahn fahren. Das Kind ist aber nicht schon 5, sondern erst 5. Auch 5 Jahre auf dieser Welt sind noch keine lange Zeit, um sich darin zurecht zu finden. Meine Gedanken sind auf das gerichtet, was gerade nicht gut klappt. Die Gedanken des Kindes sind auf das gerichtet, was heute schon alles gut geklappt hat und was nun zu viel wird. „Ich kann nicht mehr!“ bedeutet „Ich hab doch schon ganz viel!“ Und genau das stimmt auch. Losgegangen, weit gelaufen, auf den Verkehr geachtet, auf mich gewartet, vorsichtig gewesen, nicht am Bahnsteig gespielt. Und nun das lange Sitzen – es ist zu viel.
Was für mich Entspannung ist, ist für mein Kind manchmal Anstrengung. Was für mich Ruhe bedeutet, bedeutet für mein Kind ruhig sein. Es erfordert Kraft. Mein Kind will nicht von Natur aus ruhig sein, das entspricht nicht seinem Temperament. Mein Kind will springen und lachen und hüpfen und singen und laut und wild sein. Ist es das nicht, dann bemüht es sich oftmals darum. Weil es lernt, auf den Straßenverkehr zu achten, weil es sich bemüht, in der Gesellschaft zu sein. Aber manchmal sind es zu viele Anforderungen, manchmal ist noch eine weitere Sache einfach zu viel. Eine Kleinigkeit, die uns erwachsenen Menschen doch so einfach erscheint, kann für ein Kind so schwer sein – und zu viel nachdem es schon viel tat.
In einer Welt, einer Gesellschaft, in der sich das Kind schon so viel anpassen muss, merken wir manchmal gar nicht mehr, wie viel es eigentlich leistet, wie gut es von sich aus mithilft und unterstützt. Uns fallen die kleinen, anstrengenden Momente auf, in denen es schief geht. Aber oft zu selten die wunderbaren, unterstützenden – viel zu viel nehmen wir für selbstverständlich. „Ich kann aber nicht mehr!“ „Ich will nicht mehr!“ sind manchmal einfach Zeichen dafür, dass das Kind am Ende dessen angelangt ist, was es heute noch entgegen bringen kann. Es ist ein Zeichen für: Nun muss ich aber wieder Kind sein, nun brauche ich wieder meine Zeit und meinen Raum. Und das ist gut und richtig. Wenn unser Kind uns solche Worte sagt, sollten wir einen Moment zurück treten und nicht an das denken, was nun gerade nicht geht sondern an das, was vorher alles ging und nun zu diesen Worten führte. – Und daran, wie wichtig es auch schon für Kinder ist, die eigenen Grenzen und Möglichkeiten im Blick zu halten und zu kommunizieren.
Eure