Natur, Natur und einfach spielen lassen – Wie Kinder heute wachsen sollten

Wie_Kinder_heute_wachsen

Schon lange liegt das neue Buch von Herbert Renz-Polster und Gerald Hüther auf meinem Schreibtisch. Ich bin lange nicht dazu gekommen, es gründlich zu lesen, denn ich habe meine Tochter im Kindergarten eingewöhnt. Nach wirklich langer Suche (und nachdem wir sie aus einem schlechten Kindergarten hinaus genommen haben), haben wir einen wunderbaren Platz für sie gefunden. Einen Kindergarten, in dem täglich hinaus gegangen wird bei jedem Wetter, bei dem einmal in der Woche ein Waldbesuch ansteht und einmal wöchentlich der Bauernhof aufgesucht wird. Dort wird mit Pflanzen Stoff gefärbt, Kinder klettern auf Bäume und bauen sich kleine Hütten im Wald. Noch nie zuvor kam meine Tochter mit so vielen Schürfwunden oder blauen Flecken nach Hause. Aber sie ist auch sehr glücklich dort. Und das mitten in Berlin.

In meinem Umfeld höre ich oft, dass Familien aufs Land oder zumindest an den Stadtrand ziehen wollen, weil die Kinder in der Stadt keine Natur erleben könnten und die Kindheit hier so eingeschränkt sei. Und nun kommen wir zum Buch von Renz-Polster/Hüther. Stimmt nicht, sagen die nämlich. Es kommt nämlich nicht nur auf den Raum an, sondern eben auch auf unsere Einstellung, unsere innere Haltung zu dem, was uns wichtig ist und zu dem, was wir denken, dass unsere Kinder „lernen“ müssen. Im Frühförderwahn denken wir zu oft, dass Lernspiele, Apps und Wissensbücher den Kindern alles Wichtige vermitteln. Doch Kinder lernen nicht auf diese Weise. Sie lernen durch das Tun. Renz-Polster und Hüther beschreiben das so wunderbar mit dem folgenden Bild:

Bäume brauchen Wurzeln, das weiß jedes Kind. Und ein kleiner Baum kann umso besser wachsen und gedeihen, je kräftiger seine Wurzeln sind, mit denen er sich im Erdreich verankert und seine Nährstoffe aufnimmt. Nur wenn es einem kleinen Baum gelingt, tief reichende und weitverzweigte Wurzeln auszubilden, wird er später auch Wind und Wetter, ja sogar Stürme aushalten.

Auch Kinder brauchen feste Wurzeln. Offenbar wissen das nicht alle Eltern, auch nicht alle Erzieher oder gar alle Bildungspolitiker. Sie halten das, was man an jedem Baum sehen, messen und zählen kann, also die Äste oder die Blätter oder auch nur die Früchte, für wichtiger als die verborgenen Wurzeln.

Kinder können im freien Spiel in der Natur Grundkompetenzen erwerben, die die Basis für alles andere sind. Diese Grundkompetenzen wie Selbstwirksamkeit, Hingabe, Mitgefühl, Geduld und Verbundenheit sind nichts, was man ihnen in einem Lehrplan beibringen könnte. Sie lernen durch sich und dem Zusammensein mit anderen. Sie erproben, machen Fehler, korrigieren, lernen. Und sie lernen dort auch ein Gut kennen, das wir in unserer hektischen Zeit kaum noch vermitteln können: Langsamkeit.

Renz-Polster und Hüther gehen sehr anschaulich vor und zeigen sanft auf, was es ist, was Kinder wirklich benötigen. Dabei werden diese Bedürfnisse auch noch durch wissenschaftiche Fakten aus der Hirnforschung untermalt. Auf diese Weise entsteht ein neues Bild vom Kind. Ein realistisches Bild, dem wir uns wieder annähern sollten. Sie nehmen Eltern die Angst, Zeitfenster der Entwicklung zu verpassen und Kinder möglichst früh möglichst optimal zu fördern. Und sie machen auch klar: Ja, Kinder können sich im freien Spiel verletzen und es ist auch immer ein wenig gefährlich in der Natur. Aber nur ein wenig. Und Kinder lernen durch die Auseinandersetzung mit der Natur auch einen besseren Umgang mit ihr. Dabei wird nicht aus dem Blick gelassen, dass heute nunmal heute ist und es auch Fernseher und Computer gibt. Wie sie selber schreiben ist „Medienbashing“ zu einfach. Computer und Co. sind nicht per se schlecht. – Auch das lässt Eltern wieder aufatmen, denn hört man heute zur Genüge, wie schädlich der Einfluss der Medien sein soll. Auf die Dosis und die Art kommt es an.

Es geht also gar nicht so sehr nur um die Natur und darum, dass Kinder mit Stöckchen und Eicheln spielen sollten. Es geht darum, dass Kinder Kinder sein sollen. Dass sie im freien Spiel in der Natur Dinge erlernen, die wir ihnen nicht beibringen können, die sie aber benötigen. Um Mitgefühl und Einfühlungsvermögen zu entwickeln, gibt es keine Apps oder Computerspiele. Das ist etwas, was man nur im Zusammensein mit anderen lernen kann und in der Auseinandersetzung mit dem Leben. Gerade diese beiden Eigenschaften sind es jedoch, die nach und nach verloren gehen in unserer Welt, die so sehr auf den Einzelnen fokussiert. In der wir uns mit Ellenbogen nach vorn bewegen wollen – oder zumindest unsere Kinder dies tun sollen. Wir wollen ja schließlich nur ihr Bestes.

Doch wenn wir dies wirklich wollen, müssen wir unsere Einstellung überdenken. Wir als Eltern, aber auch alle Erzieher und Lehrer. Wir müssen hinterfragen, wohin wir mit unseren Lehrplänen eigentlich wollen und wie die Zukunft gestaltet werden soll. Es ist ein Umdenken notwenig in unserer Gesellschaft, wenn wir uns eine schöne und gesunde Zukunft für unsere Kinder wünschen. Ein Umdenken, das viele Ebenen anspricht und viele Menschen. Das Buch von Herbert Renz-Polster und Gerald Hüther kann ein erster Anstoß sein für Eltern. Und nach der Lektüre fühlt man sich geradezu verpflichtet, mehr in die Wege zu leiten.

Daher: Wer es noch nicht gelesen haben sollte, sollte es sich vom Nikolaus in den Schuh stecken lassen. Es gibt viele Dinge, über die man an langen Winterabenden nachdenken kann.

 

5 Kommentare

  1. Kat Harina

    Ich wollte nur einen Punkt setzen, um meine Zustimmung auszudrücken, aber die Software liess mich nicht. Deshalb hier:
    .

  2. Gerald Hüther ist ein zweifelhafter Autor, der alles ist ,nur kein „Hirnforscher“. Dementsprechend sind seine geschilderten Erkenntnisse auch für die Tonne. Er selber hat nie geforscht oder publiziert zu diesem Bereich. Polster ist auch kein Hirnforscher.

  3. Als „Dorfbewohner“ sehe ich, dass die Argumentation, wir ziehen aufs Land, damit die Kinder Natur erleben können, nicht funktioniert. Eher im Gegenteil, wenn es keine entsprechenden Einrichtungen in der unmittelbaren Umgebung ist, werden die Kinder überall hin mit dem Auto gekarrt, je älter sie werden, desto häufiger. Spätestens das Gymnasium ist dann nur noch in der nächstgrößeren Stadt zu finden und da die Eltern ja eh pendeln müssen ist es schön einfach, die Kinder im Auto gleich mitzunehmen. Von Musikschule, Sport etc. will ich gar nicht sprechen. Natur auf dem Dorf erleben funktioniert nur, wenn die Infrastruktur stimmt und das Kind neben Frühchinesisch und Blöckflöte auch noch genug Zeit hat (und die Eltern es lassen) durch den Wald zu streifen! Und was die Bauernhofbesuche angeht: Die meisten Höfe bei uns in der Gegend haben alle Bauernhofromantik verloren, eine Scheune für die Maschinen, ein paar Getreidesilos, ein Kuhstall, fertig…

  4. Ich habe das Buch auch hier, jedoch erst mit dem Lesen begonnen. Bisher fand ich die Lektüre recht anstrengend und von Renz-Polster bin ich anderes gewohnt aber ich werde mich noch weiter durch den Blätterdschungel kämpfen 😉

  5. Oh, das Buch hat meine Hebi mir empfohlen. Oder den Autor allgemein. Hab noch nichts gelesen…
    Was für ein Kindergarten ist das genau? Nicht wirklich Waldkindergarten, oder?

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