Schlagwort: Schreien lassen

Lass mich nicht stehen, Mama/Papa!

Wir kennen sie alle: Situationen unterwegs, in denen einfach nichts mehr geht. Nach dem Kindergarten, auf dem Weg vom Spielplatz nach Hause, direkt nach dem Supermarkt. Auf einmal sagt das Kind „Ich kann nicht mehr laufen!“ oder setzt sich einfach auf den Boden und ruht sich aus. Dabei stehen wir da mit vollen Tüten, haben einen engen Zeitplan und/oder sind einfach erschöpft vom bisherigen Tag. Und wir wollen nach Hause. Jetzt. Auch wenn das Kind gerade nicht will. Aber ist es eine gute Idee, dem Kind anzudrohen, jetzt einfach weiter zu gehen und zu hoffen, dass es deswegen folgt?

Versetzen wir uns einmal in die Situation, stehen gelassen zu werden…

Vielleicht kennen wir es selbst: In einem Streitgespräch wendet sich auf einmal eine Person ab, dreht sich um und geht. Wortlos oder vielleicht mit den Worten „Dann bleib eben hier, ich gehe!“ Wie fühlen wir uns? Allein, verlassen, vielleicht ausgeschlossen aus der Beziehung. Vielleicht spüren wir diesen Ausschluss sogar als innerlichen Schmerz. Es verletzt uns, wenn sich eine andere Person von uns abwendet. Dabei sind wir erwachsen, können uns vielleicht sogar in die Gefühlswelt der anderen Person hineinversetzen und auch wenn wir die Situation anders sehen und fühlen, können wir die Handlung des anderen Menschen ansatzweise nachvollziehen. Vielleicht sind wir enttäuscht und finden es nicht besonders nett, stehen gelassen zu werden. Aber wir sind erwachsen, finden uns in dieser Umgebung zurecht, sind handlungsfähig.

Alleinsein setzt Kinder unter Stress und löst Ängste aus

Für Kinder hingegen sieht die Situation anders aus, wenn sie nicht weiter können, wir aber wollen und ihnen erklären, dass wir auch ohne sie gehen würden. Ein Kleinkind kann sich noch nicht vollständig in uns und unsere Absichten und Wünsche hineinversetzen. Es fühlt noch nicht nach, dass wir so erschöpft sind und uns einfach nur darauf freuen, zu Hause nach dem Arbeitstag und anschließendem Einkauf mit Kind die Füße hochzulegen. Es versteht auch nicht, wenn wir verabredet sind und hat noch kein so ausgeprägtes Zeitgefühl, um einschätzen zu können, ob und wann wir zu spät kommen. Es spürt gerade, dass die eigenen kleinen Beine erschöpft sind, dass es heute schon sehr viel kooperieren musste und nun „einfach“ nicht mehr kann. Vielleicht laufen wir auch zu schnell oder es wollte doch eigentlich noch balancieren üben oder der Ameise bei ihrer Arbeit zusehen und hat schlechte Laune, weil wir dafür keinen Blick haben. Jetzt gerade geht es nicht mehr, keinen Schritt. Aus Erschöpfung oder Wut oder Enttäuschung oder irgendeinem anderen Gefühl, das gerade die Oberhand nimmt.

Wenn wir jetzt gehen oder ein Gehen androhen, entsteht bei vielen Kindern Angst: Angst vor dem Alleingelassenwerden. Die Straße ist laut und gefährlich – das jedenfalls erfahren sie täglich von uns, wenn wir sie ermahnen, dass sie nicht zu nah an die Fahrbahn gehen sollen, weil dort die Autos fahren. Nun werden sie an diesem gefährlichen Ort allein gelassen? Von ihrer schützenden Bezugsperson?

Wesentlich für den Aufbau der Bindungsbeziehung in den ersten drei Jahren, aber auch danach, ist die Schutzfunktion der Bezugspersonen: Als Eltern schützen wir das Kind vor Gefahren, sorgen für eine grundlegende Bedürfnisbefriedigung und das Wohlergehen des Kindes. Dem Kind diesen Schutz und die Sicherheit vorzuenthalten, kann sich auf die Beziehung auswirken. Ein „Dann geh ich eben ohne dich!“ bedeutet für das Kind: Ich lasse dich schutzlos zurück, ich sorge mich nicht um dich, ich verlasse dich. Während wir Erwachsene zu großen Teilen für das Sicherheitsgefühl selber sorgen können, sind Kinder auf uns angewiesen, damit sie sich sicher fühlen. Für die Beziehung zwischen Eltern und Kind ist es wichtig, dass sich das Kind darauf verlassen kann, dass diese Sicherheit bedingungslos eingehalten wird: Bindung ist auf Seiten des Kindes ein Sicherheitssystem. Dieses System wird gestört, wenn wir das Gefühl Sicherheit vorzuenthalten als Erziehungsmaßnahme.

Aufgewühltes Kind allein lassen bedeutet, ihm noch mehr Probleme aufzubürden

Gerade in einer Situation, in der das Kind sowieso Schwierigkeiten hat mit sich und der Umgebung, einem Moment, in dem die Synapsen im Gehirn vielleicht in alle Richtungen Informationen aussenden und das Kind einfach nicht weiß, was es eigentlich will, ein Moment, in dem es in einem Konflikt ist, wird ihm zu dem bestehenden Konflikt ein weiterer aufgedrängt: Du hast ein Problem und nun gebe ich Dir ein zweites hinzu, indem ich Dich einfach stehen lasse. Dass Kinder in diesen Situationen dann erst recht zu weinen und zu schreien anfangen und sich vielleicht auf den Boden werfen ist klar: Das Kind ist mit viel zu vielen Problemen überfrachtet und weiß keinen Ausweg. Und es schreit, um nicht allein gelassen zu werden, um beschützt zu bleiben.

Wenn das Kind dann doch kommt – was hat es dann gelernt?

Natürlich kommt das Kind dann irgendwann hinterher. Es kommt, weil es kommen muss, weil es auf Erwachsene angewiesen ist um zu überleben. Es kommt, weil es die Bezugsperson braucht. Es wird hinterher laufen, weil es nicht anders kann. Doch was hat der Erwachsene, der sich seinem Kind gegenüber so verhält, eigentlich gewonnen? Er hat seinem Kind demonstriert, dass er bestimmt, dass das Kind kommen muss und wenn es nicht hört, sich selbst in der „Wildnis“ überlassen wird. Er zeigt: Höre auf mich oder du bist verloren. Blinder Gehorsam statt Zuhören und Verstehen. Und was soll das Kind davon für sein eigenes Verhalten lernen?

Dabei ist dies keine Situation, in der es um einfache Handlungen geht, um Nachhamung, sondern eine Situation, in der es um Gefühle geht: Erschöpfung, Müdigkeit, Wut vielleicht. Und Situationen, in denen es um Gefühle geht, können wir nicht durch Strafen und Gehorsam nachhaltig gut lösen, sondern durch Empathie. Das Kind sollte langfristig lernen, sich in andere hinein zu versetzen und nachzufühlen und zu verstehen, warum wir nun weiter müssen und mit welcher Strategie dies möglich ist. Gelernt werden kann in Stresssituationen aber kaum etwas: Stress behindert das Lernen. Durch Bestrafung werden wir langfristig nichts am Verhalten des Kindes ändern: Es wird nicht beim nächsten Spielplatzbesuch freiwillig sofort mitkommen oder nach dem Supermarktbesuch nicht getragen werden wollen.

Die Alternative

Ja, es gibt Tage, die sind anstrengend. Und wir haben Termine oder das Wetter ist schlecht oder der Einkauf schwer. Oder wir müssen vom Spielplatz aufbrechen, weil es eben schon spät ist. Wir Eltern wünschen uns, dass die Kinder mitkommen und auf uns hören. Und natürlich ist es auch wichtig, dass sie das tun. Besonders in gefährlichen Situationen müssen Kinder wissen, dass sie auf die Stimme der Erwachsenen hören müssen. Ein „Halt!“ an der Straße ist ein „Halt!“ und kein „Ach, ich tapse mal weiter.“

Doch in den meisten Situationen geht es nicht darum. Es geht um Kinder, die vielleicht müde sind vom Tag oder vom Kindergarten. Kinder, die vielleicht einen Marienchenkäfer entdeckt haben und ihn beobachten möchten. Kinder, die gerade selber nicht wissen, was sie wollen oder ihre Grenzen erproben. Es geht ganz einfach um KINDER, keine kleinen Erwachsenen. Wenn unser Kind also nicht hinterher kommt, können wir uns zu ihm beugen und fragen, warum. Vielleicht hat es einen guten Grund und wir nehmen uns einen Moment Zeit dafür. Und wenn es keinen Grund hat, der uns klar ist, dann sehen wir, was wir tun können. Und ja, wir können unsere Kinder auch gegen ihren Willen (respektvoll) auf den Arm nehmen und nach Hause tragen, weil es gerade notwendig ist. Wir müssen sie schützen vor dem Straßenverkehr und die Verantwortung übernehmen dafür, gut nach Hause zu kommen. Noch besser ist es, wenn wir uns einfach daneben setzen und sie durch das, was sie durchmachen, begleiten. Aber wir müssen sie nicht stehen lassen allein auf der Straße. Wir sollten sie nicht stehen lassen allein auf der Straße. Es sind unsere kleinen Kinder und sie haben es verdient, mit dem Respekt behandelt zu werden, den wir uns alle wünschen.

Und darum sollten wir unsere Kinder nicht stehenlassen.
Wie geht Ihr mit diesen Situationen um? Ich bin gespannt auf Eure Meinungen,
Eure

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