Neugeborene Eltern

Wir lesen und reden so viel davon, wie sich der Erfahrungsraum des Babys durch die Geburt verändert: Es fühlt andere Dinge als zuvor, es riecht anderes, es sieht anderes. Nie zuvor hat es Kleidung getragen oder war kühlen Luftzügen ausgesetzt, wenn es gewickelt wurde. Es taucht in eine neue Welt ein, in der es nur wenige Berührungspunkte gibt zum Erleben zuvor. Eine Welt, in der es alles kennenlernen muss und möchte – mit der fortschreitenden geistigen und körperlichen Entwicklung erweitert sich auch der Erfahrungsraum nach und nach.

Auch für Eltern ist alles neu

Während es uns schon oft gelingt, gütig auf unsere Kinder zu blicken, fällt der Blick auf uns selbst aber oft weniger wohlwollend aus. Obwohl auch wir Eltern neu sind in all diesen Themen. Für viele Eltern ist das Anziehen des Babys nach der Geburt das erste Mal, dass sie ein Neugeborenes bekleiden und den kleinen Körper in einen winzigen Babybody hüllen. Es ist das erste Mal, eine Windel zu wechseln und die erste schlaflose Nacht, in der man sich fragt, was nur das Baby hat und warum es nicht schläft. Es ist das erste Mal, diese riesige Verantwortung zu tragen und das erste Mal, mit einem Menschen zu kommunizieren, der noch nicht spricht und die Welt so anders sieht und fühlt, wie es eben ein kleines Kind tut.

Und selbst dann, wenn es das zweite, dritte,… Kind ist, ist dieses Kind sehr wahrscheinlich nicht in allen Verhaltensweisen identisch mit den Kindern, die man schon kennt. Jedes Kind kommt mit verschiedenen Temperamentsdimensionen zu uns, ist reagiert stärker oder schwächer auf Reize, ist schneller oder langsamer zu trösten, braucht mehr oder weniger Körperkontakt bei der Co-Regulation.

Neben dem Verhalten in Bezug auf das Kind verändert sich gleichsam auch die Umgebung: Wenn es mehrere Elternteile gibt, verändert sich die Beziehung untereinander dadurch, dass nun ein Baby mit Bedürfnissen dazugekommen ist. In der Familie werden Eltern durch die Geburt eines Kindes zu Großeltern, ihre Kinder werden zu Eltern und müssen fortan Entscheidungen treffen, die das eigene Kind im Blick behalten und die eigene Eltern-Kind-Beziehung verändert sich. Selbst Freundschaften können sich dadurch verändern, dass eine Person des Freundschaftsnetzwerkes ein Kind bekommen hat.

Wir wachsen hinein – und das ist gut so

Wir denken so oft, dass wir die Antwort auf alles haben müssten. Schließlich sind wir Erwachsen. Schließlich sollten Eltern doch unfehlbar sein und einen Plan von der Welt und allem haben. Tatsächlich aber bringen wir nur ein paar Basics mit in dieses Elternsein: Hormone, die ausgeschüttet werden wie Oxytocin und Prolaktin. Fürsorgeverhalten, das dadurch entsteht (manchmal aber auch durch die eigene Erziehung oder gesellschaftlichen Druck überlagert werden kann). Der wesentliche Teil ist, dass wir uns als Eltern auf dieses Kind einstimmen müssen. Und das ist gleichsam Herausforderung wie Vorteil: Denn weil Kinder nicht alle gleich sind, müssen wir Eltern hineinwachsen in diese neue Aufgabe. Wir müssen lernen, wie unser Kind ist, was es braucht, welche Signale es gibt. Wir müssen lernen und sind eben nicht von Anfang an richtig eingestellt und haben alle Antworten.

Deswegen: Sei nachsichtig mit dir. Natürlich gibt es Dinge, die wir immer vermeiden sollten bei allen Kindern: jede Form der Gewalt. Aber jenseits davon ist das Begleiten von Kindern Versuch – Irrtum – erneuter Versuch. Manchmal finden wir schnell die richtige Antwort, manchmal dauert es etwas, manchmal finden wir selbst sie vielleicht gar nicht. Manchmal machen wir Fehler, die sich vielleicht im liebevollen Alltag verlieren. Oder wegen denen wir um Entschuldigung bitten müssen oder Hilfe von anderen brauchen. All das ist Elternschaft. Elternschaft ist Wachstum, Irrtum, Hoffnung, Liebe, aber vor allem ist es ständige Bewegung. Sieh gütig auf dich und dein Wachstum. Auch du bist neugeboren in dieser Eltern-Kind-Beziehung.

Eure

Zur Autorin:
Susanne Mierau ist Diplom-Pädagogin (Schwerpunkt Kleinkindpädagogik) und Familienbegleiterin. Sie arbeitete an der FU Berlin in Forschung und Lehre, bevor sie sich 2011 im Bereich bedürfnisorientierte Elternberatung selbständig machte. Ihr 2012 gegründetes Blog geborgen-wachsen.de und ihre Social Media Kanäle sind wichtige und viel genutzte freie Informationsportale für bedürfnisorientierte Elternschaft und kindliche Entwicklung. Susanne Mierau gibt Workshops für Eltern und Fachpersonal und spricht auf Konferenzen und Tagungen über kindliche Entwicklung, Elternschaft und Familienrollen.

Foto: Ronja Jung für geborgen-wachsen.de

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