Toben und wild sein

Kinder sind Kinder. Sie hüpfen, rennen, balancieren und kugeln sich auf dem Boden. Je nach Temperament setzen sie das stärker oder schwächer um, sind dabei forscher oder schüchterner. Dass sie all das tun, ist aber Teil ihrer Entwicklung: Nachdem sie das Laufen erlernt haben, lernen sie auch die Feinheiten der Fortbewegung, die schnellen und ruhigen Arten und lernen, mit ihrem Körper auf ganz unterschiedliche Art umzugehen. Im Alltag suchen sie sich dafür ihre Räume und Möglichkeiten: Klettern auf kleine Mauern, um darauf zu balancieren, rollen sich einen Hügel seitwärts hinab im weichen Gras. Was aber, wenn diese Möglichkeiten wegfallen, weil die Kinder mehr zu Hause sind?

Das Bedürfnis nach Bewegung

Dass Kinder ein Bedürfnis nach Bewegung haben, ist normal. Auch wir Erwachsene haben es, auch wenn sich unser Bedürfnis nach Bewegung über die Jahrzehnte verändert hat, wie vielleicht durch die Erfahrungen des Stillsitzens und der langen Schreibtischarbeit, durch die wir diesem Bedürfnis weniger nachkommen (zum Teil mit gesundheitlichen Folgen). Wir können durch Bewegung Stress abbauen, die motorische Entwicklung unterstützen, ebenso wie die Gesundheit. Unsere Kinder kommen diesem Bedürfnis in ihrem Alltag nach, im Spiel, während wir Erwachsene dafür eigene Räume und Anlässe haben wie gezielte Sportangebote. Der Sport- und Bewegungswissenschaftler Dr. Dieter Breithecker erklärt, dass Kinder „zum Aufbau ihrer organischen Funktionen eine tägliche Belastungseinheit von mindestens (!) zwei Stunden“ benötigen.

Raum für Bewegung

Im Alltag haben die Kinder normalerweise eine Vielfalt an Möglichkeiten, um dieser körperlichen Belastung nachzugehen: Sie rennen mit Freund*innen, sie balancieren und klettern auf dem Weg zur Kita/Schule oder auf dem Spielplatz, sie hüpfen vor Freude oder rutschen ein Treppengeländer hinunter. Sie raufen und balgen mit Geschwistern und Freund*innen – nicht eines kriegerischen Kampfes wegen, sondern weil sie durch das Toben ihre Fertigkeiten ausbauen und wichtige Erfahrungen machen. Gerade das Toben unter Kindern ist für sie auch von besonderer Bedeutung: Hier erfahren sie, mal stark oder schwächer zu sein in Auseinandersetzung mit anderen Kindern, spüren Kraft und Ausdauer, Fairness, Regeln, Grenzen zu benennen und bei anderen zu bewahren, sich bei Grenzverletzungen zu streiten und wieder zu vertragen. Sie lernen, mit Impulsen umzugehen und Kanäle für Aggressivität zu finden. Es ist normal, dass Kinder miteinander toben und kämpfen und das auch einen Raum in ihrer Kindheit hat. Diese normalen Impulse der Kinder zu unterdrücken mit einem „Kämpfen/Toben ist doof!“, „Wir kämpfen/toben nicht.“ oder gar einer geschlechtsstereotypen Zuordnung wie „Mädchen kämpfen/toben nicht!“ kann Kinder in ihrer Entwicklung beeinträchtigen. Auch das Toben mit Erwachsenen kann für Kinder manchmal eine Bereicherung sein, wenn sie sich daran erproben und gelegentlich auch Oberhand gewinnen, die sonst vorherrschende Machtverteilung umkehren können.

Kinder brauchen diesen Raum für das wilde Spielen. In unserem Alltag geben wir dem manchmal wenig Raum – im wahrsten Sinne des Wortes, wenn Kinder sich in den Wohnungen nicht kindgerecht bewegen dürfen, wenn das Trampeln und Hüpfen verboten ist oder es keine Orte gibt, an denen balanciert und gesprungen werden darf. Gerade jetzt, wo die Bewegungsfreiheit und die Bewegungsmöglichkeiten eingeschränkt sind und auch das Toben mit anderen Kindern nur bedingt möglich ist, können Kinder darunter leiden, in ihrem Bewegungsbedürfnis eingeschränkt zu sein. Angeleitete Sportangebote unter elterlicher Aufsicht können nur bedingt das freie Bewegen und Ausprobieren ersetzen. Deswegen ist es wichtig, auch dafür Räume zu schaffen, beispielsweise durch:

  • die Möglichkeiten, sich zu Hause nach Bedarf bewegen zu können, beispielsweise auf dem Bett zu hüpfen oder einen Kletterparcours aufbauen zu können mit Stühlen
  • keine oder nur geringe Einschränkungen in Bezug auf die normalen Bewegungsbedürfnisse wie das Hüpfen und Rennen (ggf. mit den Nachbarn klären, Aushang im Haus und Ruhezeiten)
  • das Angebot des wilden Tobens mit Eltern, wenn andere Kinder hierfür nicht verfügbar sind,
  • Besuche im Wald oder der Natur, wenn Spielplätze geschlossen sind, damit Kinder sich ungezwungen bewegen können,
  • gemeinsame Bewegungsspiele, spontaner Tanz

Auch wenn es unserer erwachsenen Erwartungen und Vorstellungen manchmal nicht entspricht und ein wild tobendes Kind auch eine akustische Herausforderung ist, sind Toben und Bewegung für Kinder von besonderer Bedeutung und wir müssen dieses Bedürfnis in unserem Alltag berücksichtigen.

Eure

Zur Autorin:
Susanne Mierau ist Diplom-Pädagogin (Schwerpunkt Kleinkindpädagogik) und Familienbegleiterin. Sie arbeitete an der FU Berlin in Forschung und Lehre, bevor sie sich 2011 im Bereich bedürfnisorientierte Elternberatung selbständig machte. Ihr 2012 gegründetes Blog geborgen-wachsen.de und ihre Social Media Kanäle sind wichtige und viel genutzte freie Informationsportale für bedürfnisorientierte Elternschaft und kindliche Entwicklung. Susanne Mierau gibt Workshops für Eltern und Fachpersonal und spricht auf Konferenzen und Tagungen über kindliche Entwicklung, Elternschaft und Familienrollen.

Foto: Ronja Jung für geborgen-wachsen.de

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