Tag: 19. Dezember 2019

Kein Küsschen für die Oma

Die Feiertage stehen bevor mit ihren Familienfeiern und Besuchen. Gerade mit Kindern kann das eine schöne, aber auch anstrengende Zeit werden. Schön, weil sie – sofern vorhanden – die Größe der Familie erleben können, Kontakte knüpfen, Beziehungen ausbauen können. Gemeinsam feiern unterstützt das Gemeinschaftsgefühl und es tut gut, sich einer Gruppe zugehörig zu fühlen. Anstrengend kann es werden, wenn es zu viele Reize für die Kinder sind, wenn Konfliktthemen aufkommen unter den Erwachsenen und auch, wenn die Grenzen der Kinder nicht beachtet werden. Beispielsweise dann, wenn Kinder hier und da Küsschen und Umarmungen verteilen sollen oder auf Schößen sitzen sollen, wenn sie es nicht möchten.

Zuneigung kann nicht erzwungen werden

Was sollen Kinder durch Küsschen und Umarmungen ausdrücken? Weshalb werden sie dazu aufgefordert? Es geht um Zuwendung, Anerkennung, Dank, Liebesbeweis – das können wir durch ein umarmen oder küssen ausdrücken. Aber wie auch eine ernsthafte Entschuldigung oder Worte des Danks kann echte Zuneigung nicht eingefordert werden. Sie ist Ausdruck eines Gefühls, entspringt einer inneren Motivation. Wenn wir einem anderen Mensch sagen: „Gib dem Opa als Dankeschön mal ein Küsschen“ dann wird das Kind deswegen nicht echte Dankbarkeit empfinden. Wohl aber kann es von sich aus gerne eine andere Person umarmen oder küssen, wenn es das Bedürfnis selbst dazu hat und nicht das Gefühl hat, einem sozialen Druck folgen zu müssen.

Die Lübecker Psychotherapeutin Bettina Alberti* schreibt über die Umkehr der Eltern-Kind-Rollen: „Manchmal brauchen und suchen die Eltern selbst übermäßig Nähe, Wärme und Bestätigung. Besonders wenn sie selbst eine unsichere Bindung als Kind erlebt haben oder in ihrem erwachsenen Leben einsam sind, versuchen sie eventuell, diese Zuwendung von ihrem Kind zu bekommen. Das Kind erlebt dann zwar viele Möglichkeiten des Kontaktes, aber eigentlich soll es die Bedürfnisse der Eltern stillen.“ Natürlich muss sich nicht hinter jedem Erwachsenen, der die Zuwendung eines Kindes wünscht, eine solche Rollenumkehr verbergen. Aber es lohnt sich ein Blick auf die Frage: Warum sollte ich das jetzt wollen, wenn das Kind es gerade nicht von sich aus initiiert?

Respekt und Grenzen wahren

Kinder haben Grenzen, die respektiert werden müssen. Sie haben das Recht, schon von Anfang an respektvoll behandelt zu werden und an Entscheidungen beteiligt zu sein, sofern es in ihrem Möglichkeitsbereich liegt. Kinder dürfen ihre körperlichen, emotionalen und sozialen Grenzen benennen und Erwachsene müssen diese Grenzen schützen. Ihre Grenzen zu respektieren, signalisiert dem Kind: „Ich habe Grenzen, die gewahrt werden müssen. Niemand darf diese übertreten.“ Wenn wir als gutes Beispiel voran gehen, können Kinder dies verinnerlichen. Sie lernen, was „Stopp“ und „Nein“ bedeutet und dass diese Worte einen Wert und eine Aussagekraft haben. Damit geben wir ihnen für ihr Leben sehr viel mit: Wir leben vor, wie andere Menschen behandelt werden sollten und dass wir die Grenzen anderer nicht überschreiten, sondern respektieren sollten. Und wir geben ihnen mit, dass sie ebenso dieses Recht haben: Es gibt keine Situationen, in denen es gerechtfertigt ist, zu Körperlichkeit genötigt zu werden.

Natürlich können wir mit Kindern kuscheln, sie küssen. Wir können umarmen und umarmt werden. Basierend auf Respekt, gegenseitigem Einverständnis, Achtung der Grenzen des anderen und vor allem: dann, wenn die Kinder es wollen. Nicht, um irgendwelche Bedürfnisse von Erwachsenen zu erfüllen, sondern einfach, weil es für die Kinder stimmig ist.

Respektvolle Alternativen

Wir selber können also mit gutem Beispiel voran gehen und von unseren Kindern keine Küsschen und Umarmungen einfordern. Und gleichzeitig sollten wir sie auch davor in Schutz nehmen, wenn andere das wollen. Wir können dies mit nicht anklagenden Worten erklären und auf ein „Dann gib der Tante mal ein Küsschen!“ antworten: „Das kann sie/er ja auch später machen, wenn er/sie das gerne möchte. Schau, jetzt strahlen die Augen so, wir sehen ja, wie glücklich du sie/ihn mit dem Geschenk gemacht hast.“ oder „Ich glaube, jetzt ist dafür kein guter Moment. Lassen wir sie/ihn doch erst einmal spielen und wenn er/sie mag, kann sie das ja später noch tun oder auch einfach in Ruhe noch einmal danke sagen.“

Vielleicht wissen wir auch schon vorher, dass unser Kind andere nicht umarmen oder küssen möchte. Dann kann das vorab mit den anderen Erwachsenen besprochen werden. Und auch ohne Umarmung oder Küsse lässt sich Freude und Dankbarkeit ausdrücken. Alternativen können sowohl mit den Erwachsenen, als auch Kindern besprochen werden: Dankbarkeit mit Worten ausdrücken, Begrüßung entweder mit Handgeben oder Worten oder auch nur Zunicken, Papier und Stifte bereit haben, damit das Kind ein Bild malen kann als Dankeschön,… Mit größeren Kindern können auch gemeinsam Alternativen ausgedacht werden.

Es ist wichtig. Grenzen zu wahren. Ihr findet als Familie Euren Weg, wie das geht.

Eure

Zur Autorin:
Susanne Mierau ist Diplom-Pädagogin (Schwerpunkt Kleinkindpädagogik) und Familienbegleiterin. Sie arbeitete an der FU Berlin in Forschung und Lehre, bevor sie sich 2011 im Bereich bedürfnisorientierte Elternberatung selbständig machte. Ihr 2012 gegründetes Blog geborgen-wachsen.de und ihre Social Media Kanäle sind wichtige und viel genutzte freie Informationsportale für bedürfnisorientierte Elternschaft und kindliche Entwicklung. Susanne Mierau gibt Workshops für Eltern und Fachpersonal und spricht auf Konferenzen und Tagungen über kindliche Entwicklung, Elternschaft und Familienrollen.

Foto: Ronja Jung für geborgen-wachsen.de

Weiterführende Literatur:
*Alberti, Bettina (2007): Die Seele fühlt von Anfang an. Wie pränatale Erfahrungen unsere Beziehungsfähigkeit prägen. – München: Kösel.
Mierau, Susanne (2017): Geborgene Kindheit. Kinder vertrauensvoll und entspannt begleiten. – München: Kösel.